
La Montagne Sainte-Geneviève, der einstige mons lucotitius der römischen Zeit, ist zu Abaelards Epoche noch nicht überbaut, sondern mit Weinbergen und Baumgärten besetzt. Dazwischen liegt in malerischer Lage das Kloster der Heiligen Genoveva mit seiner Kirche und mehreren Kapellen. Die Basilika war bereits 505 vom Merowingerkönig Chlodwig begonnen und - nach Übertragung der Körperreliquie der Heiligen Genoveva, dieser Heiligen Frau, der späteren Stadtheiligen von Paris, geweiht worden. Der Bau wurde erst durch Chlotilde, die Gemahlin Chlodwigs, vollendet. Einen Umbau erfuhr das Kloster durch Stephan von Tournai in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Hier lehrte Abaelard unter dem Schutz von Stephan von Garlande, als ihm ein Verbleiben im Domviertel unmöglich geworden war. Jahrhunderte später - im Jahre 1759 - begannen die Genovevaner neben der alten Basilika den Neubau, der 1790 vollendet und 1791 zum Pantheon erklärt wurde. Im Pantheon finden sich heute die Gemälde Puvis de Chavannes über das Leben der Heiligen Genoveva.
Der junge Student... erblickt in der Talsohle, im Bogen, den der Seinefluss dort beschreibt, Kirchen und Wehrtürme. Er hat zu seiner Linken die kleine Kirche Notre-Dame-des-Champs liegengelassen..., er hat zu seiner Rechten die Abtei Sainte-Geneviève bemerkt, die die umfriedeten, terrassenförmig den Hügel hochsteigenden Weinfelder beherrscht... Régine Pernoud, Heloïse und Abaelard
Denn er ist noch mit Wein bedeckt; von der Kirche Sainte-Geneviève bis zu der kleinen Kirche Saint-Julien an den Ufern der Seine, ja, bis zum noch weiter entfernten Marktflecken Saint-Marcel, wo man die sterblichen Überreste des ersten Pariser Bischofs verehrt, liegen die terrassenförmig angelegten Weinberge. Dieses ländliche Bild wird sich im Laufe des 12. Jahrhunderts aufgrund jener Studenten verwandeln, die voller Wissbegier kommen, um das Wort der Meister zu hören, die dort aufeinanderfolgen... Bis dahin ist in den verschiedenen Urkunden, die etwas über diese fernen Zeiten aussagen, nur die Rede von bestelltem Land: in Richtung Notre-Dame-des-Champs, Saint-Étienne-des-Grez, der kleinen, heute verschwundenen Kirche, die sich ungefähr zwischen der juristischen Fakultät und dem Gymnasium Louis-le-Grand erhob, in Richtung der Thermen, in Richtung Chardonnet; nur einige Häuser scharten sich um die Zufahrt zum Petit Pont und um die Kirche Sainte-Geneviève selbst... Régine Pernoud, Heloïse und Abaelard
Als erster Abt wirkte Gilduin, 1113-1155, unter dem auch der Liber ordinis verfasst wurde. Bedeutende Gelehrte brachte die Abtei vor allem in ihrer ersten Blütezeit hervor: Neben Wilhelm von Champeaux finden sich auch Hugo von Saint-Victor, Richard von Saint-Victor, Andreas von Saint-Victor und Gottfried von Saint-Victor. Petrus Lombardus absolvierte hier einen Teil seiner Studien. Bedeutendster Gelehrter der Abtei ist jeodch der Regularkanoniker Hugo von Saint-Victor. Über seine Herkunft und sein Geburtsdatum wird - ebenso wie über das Datum seines Eintrittes in Saint-Victor - gestritten. Sicher darf er jedoch als Schüler Wilhelms von Champeaux, des Gründers der Abtei, gelten, und als Mitglied der kirchlichen Reformbewegung seiner Zeit. Über Kontakte oder Auseinandersetzungen mit dem Zeitgenossen Abaelard ist nichts bekannt.
Sein Wirkungsfeld war in erster Linie die Schule von Saint-Victor. Er beschäftigte sich mit Geometrie, Grammatik, Geographie, Historiographie, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie. Er verfasste zahlreiche Kommentare, exegetische Schriften, sowie eine Vielfalt an Werken zu theologischen Fragen im engeren Sinne, vor allem seine Summa De Sacramentis Christianae Fidei. Von den philosophischen Schriften hat besonders das Didascalicon de studio legendi maßgeblichen Einfluss auf die mittelalterliche Pädagogik entwickelt. Nach Augustinus' De Doctrina Christiana entwickelte Hugo außerdem eine auf die Schriftauslegung hin orientierte Wissenschaftslehre. Seine Kommentare zur Heiligen Schrift, zu Pseudo-Dionysius, sowie seine Summen, verraten vor allem den Einfluss des Pseudo-Dionysius. Die für das 12. Jahrhundert typische, von Bernhard von Clairvaux geförderte Brautmystik griff Hugo in einigen Arbeiten auf. Der Wissenschaftler starb am 11.2.1141 in Paris.
Doch auch spätere Jahrhunderte brachten für die Forschung interessante Persönlichkeiten hervor, darunter allein 7 Kardinäle, 20 Bischöfe und 54 Äbte. Die Abtei existierte bis zur Französischen Revolution fort. Schon 1544 bis 1550 war unter Abt G.A. Caracciolo, 1544-1550, ein grundlegender Umbau erfolgt. Die Gebäude wurden schließlich 1811 vollständig abgerissen. Erhalten hat sich das Chorgestühl und vor allem die Bibliothek, die heute in die Bibliothèque Nationale, die Bibliothèque de l'Arsenal und in die Bibliothèque Mazarine integriert ist. Die Geschichte der Abtei wurde erstmals von Fourier Bonnard Anfang dieses Jahrhunderts untersucht. Von der Mutterabtei ausgehend, entstand die Kongregation von Saint-Victor mit Niederlassungen in allen Teilen Euopas.