Gertrud Bäumer: Gestalt und Wandel

© Dr. Werner Robl, 2003

Gertrud Bäumer ist eine der prominentesten deutschen Frauen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - bekannt geworden als Frauenrechtlerin, Politikerin und Autorin.

Am 12. September 1873 wird Gertrud Bäumer im westfälischen Hohenlimburg als Tochter eines Pfarrers geboren. Nach dem Besuch der Höheren Tochterschule in Halle und des Lehrerinnenseminars in Magdeburg wirkt sie ab 1894 zunächst als Lehrerin in Halberstadt, dann in Kamen und Magdeburg. Schon zu diesem Zeitpunkt schließt sie Bekanntschaft mit Helene Lange, der Führerin der bürgerlichen Frauenbewegung, wenig später ist sie auch verbandspolitisch tätig. Unabhängig davon betreibt sie weiter ihre Ausbildung: Von 1898 bis 1900 absolviert sie das Oberlehrerinnenstudium. Nach einem vierjährigen Aufbaustudium der Germanistik, Philosophie und Sozialwissenschaft promoviert sie 1904 in Berlin, über Johann Wolfgang von Goethes "Satyrikos".

Bald wendet sie sich der Frauen- und Bildungspolitik zu: Zusammen mit Helene Lange, mit der sie in Berlin auch einen Hausstand gründet, der bis zu deren Tod im Jahr 1930 Bestand haben wird, gibt sie ab 1901 das fünfbändige "Handbuch der Frauenbewegung" heraus. Zwischen 1910 und 1919 ist Gertrud Bäumer Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF), des Dachverbands der bürgerlichen, überkonfessionellen Frauenbewegung. Von 1912 bis 1940 veröffentlicht sie zusammen mit Friedrich Naumann die Zeitschrift "Die Hilfe - Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst". Seit dieser Zeit kämpft sie vehement für die Gleichberechtigung der Frau - an vielen beruflichen Fronten: Im Ersten Weltkrieg gründet Bäumer den "Nationalen Frauendienst", der Frauen zur Kriegsunterstützung organisiert. Ab 1916 fungiert sie als Herausgeberin des Organs der bürgerlichen Frauenbewegung mit dem Titel "Die Frau", und von 1916 bis 1920 leitet sie mit Maria Braun das Sozialpädagogische Institut in Hamburg.

Nun betritt sie auch die parlamentarische Bühne. Als Kandidatin der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) ist sie 1919/1920 Mitglied in der Verfassung gebenden Nationalversammlung, danach, bis 1930, eine von 6 weiblichen Reichstagsabgeordneten und stellvertretende Vorsitzende der DDP. Im Jahr 1922 wird sie als erste deutsche Ministerialrätin in die kulturpolitische Abteilung des Reichsinnenministeriums berufen und leitet dort das Schulreferat sowie die Jugendwohlfahrt. Zudem wird sie Delegierte im Völkerbund. Wenig später wechselt sie die Partei: Von 1930 bis 1932 vertritt sie im Reichstag die Deutsche Staatspartei. Bis 1933 dominiert das Frauenthema ihre publizistische Tätigkeit. In rascher Folge erscheinen ihre Werke, z. B. "Die Frau in der Kulturbewegung der Gegenwart" (1904), "Die Frauenbewegung und die Zukunft unserer Kultur" (1909), "Die Frau und das geistige Leben" (1911), "Entwicklung und Stand des Frauenstudiums und der höheren Frauenberufe" (1912), "Die Frau in Volkswirtschaft und Staatsleben der Gegenwart" (1914), "Die Frau in der Krisis der Kultur" (1926). Immer wieder fordert Gertrud Bäumer in diesen ihren Werken gleichen Zugang zu Bildung und Ausbildung für beide Geschlechter und bessere Erwerbschancen für Frauen. Dabei ist sie jedoch keinesfalls eine radikalen Feministin: Der Vorstellung, Frauen müssten den Männern in allem gleich gestellt werden, kann sie nicht viel abgewinnen; in erster Linie möchte sie ihre Geschlechtsgenossinnen in der verantwortungsvollen Rolle als Erzieherin, Ehefrau und Mutter sehen. Darüber hinaus sollen ihnen bessere Bildungs- und Erwerbschancen in den sozialen und kulturellen Berufsfeldern eröffnet werden.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wird Gertrud Bäumer 1933 jäh aus ihrer politischen Laufbahn geworfen. Sie wird ihrer Ämter enthoben, gibt aber zunächst trotz der Gleichschaltung die Zeitschrift "Die Frau", welche als Organ sogar bis 1944 Bestand haben wird, weiterhin heraus und nähert sich dabei wohl oder übel der nationalsozialistischen Frauenpolitik an. Erst 1936 wird sie als Herausgeberin abgesetzt. Nun zieht sich Gertrud Bäumer zwangsläufig aus dem öffentlichen Leben zurück, siedelt nach Obergießmannsdorf in Schlesien um und widmet sich verstärkt einer literarischen Tätigkeit, wobei sie sich aus politischem Kalkül heraus nun mehr mit unverfänglichen historischen Themen beschäftigt. Ihre Studie "Ich kreise um Gott - Der Beter Rainer Maria Rilke" (1935) wird von dessen Freundin Lou Andreas-Salomé ausdrücklich empfohlen und als "das endgültige Buch über Rainer Maria Rilke" bezeichnet. Gertrud Bäumer unternimmt auch ausgedehnte Forschungsreisen nach Italien, als Vorbereitung für ihre Bücher über "Adelheid, Mutter der Königreiche" (1936), "Der Berg des Königs - Das Epos des Langobardischen Volkes" (1938), "Die Macht der Liebe - Der Weg des Dante Alighieri" (1941) und "Die Reichsidee bei den Ottonen" (1946). Letzteres Buch über Otto III. wird allerdings erst nach dem Krieg veröffentlicht: Das Manuskript ist das einzige Schriftstück, das sie im Fluchtgepäck aus Schlesien retten kann.

Nach dem Zweiten Weltkrieg engagiert sich Gertrud Bäumer 1945 in Bamberg für den politischen Wiederaufbau in den westlichen Besatzungszonen und wird Gründungsmitglied der Christlich-Sozialen Union (CSU). Sie veröffentlicht nun auch zusammen mit Theodor Heuss. Im Jahr 1946 erscheint "Der neue Weg der deutschen Frau", ein Werk, welches jedoch vom politischen Gegner als der Versuch interpretiert wird, ihr eher passives Verhalten während des Nationalsozialismus zu erklären, und ihr deshalb heftige Kritik, ja sogar den Vorwurf der Kollaboration einträgt. Nach dem Umzug nach Bad Godesberg zu ihrer Schwester Else Bäumer unterstützt sie an 1948 die Christlich Demokratische Union (CDU), engagiert sich weiterhin sozialpädagogisch und kulturpolitisch, vornehmlich in ihren biographischen und zeithistorischen Schriften, aber auch bei zahlreichen Vortragsreisen.

Obwohl Gertrud Bäumer im Laufe ihres langen Lebens nahezu 100 Bücher, zum Teil mit Millionenauflage, und mehr als 1.000 Aufsätze zu kultur- und sozialpolitischen, literarischen und frauengeschichtlichen Themen veröffentlicht hat, lehnt sie bis zuletzt literarische Auszeichnungen entschieden ab. Als ihr 1949 der Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis verliehen werden soll, schreibt sie voller Abscheu an ihre Freundin Marianne Weber: "Wie ein Dichter sich seine Gottesgabe nachträglich bezahlen lassen kann... Ein Dichter ist schließlich etwas anderes als ein Fußballspieler".

Kurz vor ihrem Tod, im Jahr 1953, erscheint ihr letztes Werk. Die Autobiographie "Im Lichte der Erinnerung" ist eine revidierte Kurzfassung ihrer bereits 1933 erschienenen Arbeit "Lebensweg durch eine Zeitenwende". Am 25. März 1954 stirbt schließlich Gertrud Bäumer nach einem bewegten und erfüllten Leben 81jährig in den Bodelschwingh'schen Anstalten in Bethel.

Der folgende Auszug stammt aus dem Werk "Gestalt und Wandel", welches 1939 in Berlin-Grunewald erschien. In 20 Artikeln gibt Gertrud Bäumer einen elaboraten Überblick über interessante Frauengestalten, vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Dabei widmet Gertrud Bäumer das erste Kapitel ihres Werkes der Liebe zwischen Heloïsa und Abaelard.

 

Kapitel 1: Heloise

 

"An ihren Herrn, mehr noch an ihren Vater; an ihren Gemahl, mehr noch an ihren Bruder schreibt seine Magd, ja mehr noch seine Tochter; sein Weib, mehr als das: seine Schwester; an Abälard also seine Heloïse."

Weiß man, was sich in den Seelen der Frauen begeben hat, deren Gefühl Jahrhunderte hindurch in eine fremde Ordnung gebannt war, in der es zwischen Knechtschaf t und Eigenbestimmung sich in krausen Windungen durchzwängte, wie ein Keim durch Zentnerlasten harten Gesteins?

Einem solchen Keime gleicht die Liebe der Heloise, die aus dem Naturboden einer starken Frau aufsteigt und verschrobene Sitte und wunderliche Gedankenwelten mit ihrer leidenschaftlichen Kraft spaltet, freilich nicht ohne selbst die Wirkung seltsamer und verwirrter Lebensgefühle ihrer Zeit an sich zu erfahren.

Die Liebe des Abälard und der Heloise ist wie die von Romeo und Julia oder von Francesca und Paolo ein romantischer Literaturstoff geworden. Jede Zeit hat ihn wieder aufgenommen und je nachdem sentimental oder zynisch, moralistisch oder psychologisch von neuem gestaltet. Es gibt diese menschlich so merkwürdige Begebenheit in jedem Zeitstil, der nach dem 12. Jahrhundert, in dem sie sich zutrug, aufkam: Renaissance und Barock und Rokoko und Romantik und moderner Sexualnaturalismus. Ob es möglich ist, diese beiden seltsamen Menschen und ihr merkwürdiges Schicksal unbefangen, rein historisch zu sehen, weiß ich nicht. Vielleicht ist auch das Bild, in dem mir, der Frau des 20. Jahrhunderts, Heloise erscheint, durch eigenste Einstellung des Blickes bestimmt. Ich gestehe, es ist mehr noch ein schwesterliches Gefühl, als das "historische Interesse", durch das sie mich fesselt. Wir Frauen einer Generation, der das Schicksal wurde, ihre Art und Natur bewusst zu machen, müssen ja etwas wie eine schwesterliche Solidarität fühlen, wenn einmal in das Schweigen der Jahrtausende sich ein Frauenschicksal mit schwachen, aber eigenen Konturen eingezeichnet hat, unvergänglich als Form einer neuen Eigenständigkeit des weiblichen Gefühls.

Welches ist die wahre, die ewige Gestalt des weiblichen Wesens? Wer kann es wissen? In Kultur Jahrtausenden hat männliche Art ihre Bestimmung entfaltet - millionenfach, unübersehbar in ihren Formen und Gebilden. Ist der Anteil, den an diesem Kosmos der Geschichte die Frau hat, dieser - trotz alles wohlwollenden Herausstreichens ihres Beitrags zur "Kultur der Familie", oder der Erschaffung des Heims - so schwache Ausdruck ihrer Art in diesem Kosmos, ist das wirklich Spiegel ihres Wesens? Ist ihr Keim darin wirklich ausgelebt? Ist sie am Ziel? Hat sie ihre Form, ihre Idee erfüllt?

Wir wissen nur dies: wo eine starke Frau sich vom matten Hintergrunde des weiblichen Gesamtschicksals abhebt, zeigt sie, dass ihr Gesetz weder das des Mannes noch das ist, nach dem ihre Gattung halbbewusst und ganz ergeben ihren Gänsemarsch durch die Geschichte läuft. Und darum bestätigen diese wenigen Schwestern der Antigone, dass die Kraft der Frau nicht sie dem Manne ähnlich macht und dass Weiblichkeit nicht gleich ist mit Ergebung in die dem Geschlecht gesetzte fremde Ordnung, sondern dass, mindestens in diesen einzelnen Frauen (und von wie vielen mag die Geschichte überhaupt keine Notiz genommen haben), eine Befreiung zur eigenen Natur Ereignis geworden ist.

*****

Die Liebe von Heloïse und Abälard ist uns in zwei Zeugnissen überliefert: in der Autobiographie des Abälard und in ihren eigenen Briefen — oder vielmehr eigentlich nur in zweien ihrer Briefe. Die Tatsachen sind die gleichen; man erkennt, was sich zugetragen hat, erkennt noch im Spiegel von Abälards Bericht ihre Haltung und ihr Wesen, wenn auch verschoben durch seine Auffassung und seine egoistische Ausnutzung ihrer Worte.

Denn sie ist in dieser Liebe, sie ist menschlich und als Natur die größere und unendlich aufrichtigere.

Dies sind die Tatsachen, die Abälard selbst in einem Traktat "de calamitate" — nämlich einem Bericht über das ihm geschehene Unglück, im Jahre 1134 aufgezeichnet hat:

Er stammt aus einem ritterlichen Geschlecht Nordfrankreichs, das schon in seinem Vater die Wissenschaften liebte. Die gelehrte Erziehung, die er genoß, bestimmte ihn, "den Mars zu verlassen und sich der Minerva zu verschreiben". Gleichwohl blieb er Ritter, d. h. das Wesen der geistigen Arbeit war ihm der Kampf. "Mit dem Geist wollte ich kämpfen und Beute machen." Kein Zufall, dass er sich der Dialektik widmet. Von Beglückung durch die Wahrheit, von Überwältigtsein durch Erkenntnis weiß er nichts zu berichten, wohl aber von dem Triumph, dass er als jüngster Schüler seinem Pariser Lehrer Wilhelm von Champeaux in der Diskussion überlegen war. Von Anbeginn an ist sein Leben ein Kampf mit Feinden — weniger sachlichen Gegnern als Neidern, die er rücksichtslos herausfordert und die ihn ebenso rücksichtslos zurückzudrängen versuchen.

Es sind nicht gerade reine Gesinnungen, die nach Abälards Bericht — und mehr noch nach dem, was darin unwillkürlich, als was bewusst ist, — die Gelehrtenwelt des 12. Jahrhunderts beherrscht. Die Disputation, das wissenschaftliche Turnier ist der Höhepunkt der geistigen Arbeit, ja anscheinend ihre Grundform und eigentlichster Ausdruck ihres Temperaments. Die Forschung war nicht einsam, sondern in höchstem Maße gesellig, aber in der Weise, dass die Gewinnung von Schülern der Anwerbung von Heeren und der akademische Unterricht der Führung von Schlachten glich. Eine leidenschaftliche Stimmung lag über den Hörsälen, von Ehrgeiz, Gehässigkeit, Machtgier und Neid erfüllt, eine Wolke allzumenschlicher Gefühle, die sich mit erstaunlicher Natürlichkeit gaben. Unheilige Mittel werden in dieser Konkurrenz der Geister vollkommen skrupellos zu unheiligen Zwecken angewandt, und wir sehen den überragend begabten, atemlos ehrgeizigen Jüngling Abälard von Anbeginn an sich mit den gleichen, weniger blanken als scharfen Waffen und einem gut Teil überheblicher Unbesonnenheit dazu seinen Weg erzwingen. Mit wem war er nicht verfeindet? Er selbst fasst das Ergebnis seiner Gelehrtenlaufbahn in das Wort des Ajax:

Und fragst du nach dem Ende dieses Kampfs,
So sag' ich stolz: er hat mich nicht besiegt.

Auf einem ersten Höhepunkt seiner Siege nun trat Heloïse in sein Leben. Er hatte seine beiden Lehrer, den Dialektiker Wilhelm von Champeaux und den Theologen Anselm von Laon geschlagen und in Paris das Feld sowohl der Philosophie wie der Theologie behauptet. Im Augenblick war seine Macht so groß und sein Sieg so unbestritten, dass sich niemand an ihn wagte. Er konnte sich innerlich entspannen.

Heloise ist die 17jährige Nichte des Abtes [soll heißen: Kanonikers] Fulbert. Sie hat schon einen Ruf als Gelehrte. Augenscheinlich denkt ihr Onkel, bei dem sie lebt, daran, sie dem geistlichen Stande zuzuführen. Denn wie hätte sie anders denn als Nonne ein Leben auf der Beschäftigung mit der Wissenschaft aufbauen können! Immer noch lag Wissenschaft und Kirche ganz nah zusammen. Abälard war weder Priester noch Mönch, sondern "Professor", aber auch dieser Beruf untersteht Gesetzen und Anforderungen, die von kirchlichen Anschauungen her bestimmt waren. Eine im kirchlichen Sinne vorbildliche Lebensführung war zur Vollendung des Gelehrtenruhms unerlässlich. Auf alle Fälle beherrschte die kirchliche, um nicht zu sagen die mönchische Ethik die Vorstellungen von Verdienst und Würdigkeit, die Stellung zu allem Natürlichen, zu allem menschlichen "Urerlebnis".

Für die Liebe von Abälard und Heloise war es entscheidend, dass sie sich in diesem eigentümlichen geistlich-weltlichen Zwischenreich, gleichsam im Schatten von Klöstern entfaltete. Darin beruhen ihre seelische Inständigkeit, ihre besondere Leuchtkraft, darin aber auch ihre Zwiespältigkeiten. Es sind zwei durch geistiges Leben geweitete und verfeinerte Seelen, die von der ewigen Leidenschaft ergriffen werden. Das macht die Welt, die von diesem großen Gefühl erklingt, größer und mannigfaltiger. Abälard spricht in der trockenen und gelehrtenhaften Art seines Berichts davon, dass die Wissenschaft den Reiz der Frau mächtig erhöhe und dass er die Möglichkeit gehabt habe, mit Heloïse auch brieflich von Liebe zu reden und auf diese Weise kühne Wünsche dem Pergament anzuvertrauen, die sich mit Worten nicht sagen lassen. Das ist der naive Ausdruck dafür, dass er sich der Erhöhung seines Liebeserlebnisses durch die geistige Natur der Heloïse bewusst war.

Der Abt [soll heißen: Kanoniker] Fulbert beruft den berühmten Gelehrten zum Lehrer seiner Nichte. Er ist glücklich, dass er, der erste Mann von Paris, die Studien Heloises leiten will und gibt dem damals 38jährigen Lehrer alle Vollmacht, die zur Züchtigung eingeschlossen. Die Liebenden setzen es schließlich durch, dass Abälard im Hause Fulberts wohnt, und sie haben so die Möglichkeit, unbegrenzt und ungestört zusammen zu sein. Tag und Nacht.

So kam ihr empfänglicher Geist unter den prasselnden Feuerregen seiner kühnen und rücksichtslosen Intelligenz. Dies Schauspiel allein muß sie tief erregt haben. Verwandelte er doch die Glaubensinhalte der Kirche in Behauptungen, die erst bewiesen werden mussten, um zu gelten. Der Glaube muss dem Erkennen vorausgehen - nur dem Glaubenden erschließt sich die Tiefe der christlichen Wahrheit, so galt es bis dahin. Er aber wagte den umgekehrten Weg - er warf gleichsam die kostbarsten Schätze wie goldene Bälle in die Luft, aber er fing sie auf. Dies kühne Spiel von in Frage stellen und beweisen musste ein junges Gemüt in atemlose Spannung versetzen. Die heiligen Bilder schienen zu schwanken im zuckenden Licht seiner Geistesblitze. Ist Christus Gott oder Mensch? Haben nicht schon Weise des Altertums die Tugenden des christlichen Lebens verkündet? Wie könnte die Dreieinigkeit begriffen werden? Vielleicht so, dass Gott als Allmacht Vater, als Weisheit Sohn, als Güte Geist ist?

Das kluge Mädchen sah den wagehalsigen, selbstbewussten Mann seine Fackeln schwingen - war er ein Engel oder ein Teufel ? Auf jeden Fall ging Bezauberung von ihm aus, er war es, der sie bestürzte und bannte.

Abälard hat nach seinem eigenen, zweifellos in diesem Punkt aufrichtigen Bericht bis dahin die Erotik in keiner Form gekannt. Vor Dirnen habe ihn geekelt und für die Frauen seines Standes habe ihm durch seine Ungewandtheit in den höfischen Formen die Anknüpfung gefehlt. Lange zurückgehaltene Männlichkeit bricht nun - auf der ersten, hart und asketisch erkämpften Höhe geistiger Erfolge - jäh hervor und ergießt sich ganz und ungeteilt in die Liebe zu Heloïse, dem jungen Weib, der geistigen Kameradin, der in jeder Weise, als Mädchen, als Schülerin, als über ihr Zeitalter hinaus lebendige Seele, Überwältigten und Hingerissenen. "Ich sah in ihr", schreibt Abälard, "alle jene Reize, die die Liebe eines Mannes wecken können, und ich wünschte nun, dass sie mich liebe und mir gehöre, und keine Sekunde war ich unsicher, ob das mir auch gelingen werde. Denn ich war ja berühmt, war jung, meine Männlichkeit blühte und ich fürchtete nicht, dass irgendeine Frau nein sagen werde, wenn ich sie nur liebte, wer immer sie sei. Heloïse aber musste mir noch um so eher gehören, weil sie in den gelehrten Dingen selbst bewandert war und die Wissenschaft über alles setzte." Die Liebe nahm sie auf wie ein Ozean, grundlos und grenzenlos. "Was es immer in der Liebe gibt, haben wir in unserer Leidenschaft erlebt. Was die Liebe zu empfinden vermag, wir haben es gehabt. Und weil die Lust für uns beide so neu war, so war sie andauernder, wir konnten mehr tun. Unsere Herzen, unsere Körper glühten, und wir kannten kein Maß."

Der nachträgliche Bericht atmet noch den glühenden Hauch der Leidenschaft, die ihr ganzes seelisches und geistiges Sein in sich verschlang - atmet aber auch zugleich die eigentümliche Spannung zwischen Fleisch und Geist, in die sie gerieten infolge der für alle Geistigen der Zeit ehrwürdigen christlichen Ethik, die den Maßstab ihres höheren Lebens bildete. Diese asketische Ethik auf der einen Seite - Inbegriff aller höheren Verpflichtung" - und auf der anderen die ungebändigte (oder richtiger ungeformte) Gefühlswelt einer erregten Gesellschaft, in der wilde Instinkte sich mit Formen früher Kulturverderbnis mischten, — dies Nebeneinander war Untergrund und Verhängnis ihres Erlebnisses, Verhängnis, dem Abälard - aber nicht Heloïse - schließlich auch innerlich erlag, das ihm die menschliche Größe seiner Liebe vernichtete.

Seltsam trüber Zeithintergrund dieser Leidenschaft. Die Unterworfenheit der Frau als Sitte und Sittlichkeit drückt sich drastisch aus in der Befugnis, seine Schülerin zu schlagen, die Abälard ausdrücklich zugestanden wurde, wenn sie faul oder unaufmerksam sein sollte. Und in demselben merkwürdigen Vertrauensbeweis erkennt man die unbegrenzte Hochachtung vor dem Gelehrten, der, auch ohne Geistlicher zu sein, den Maßstäben des Alltagslebens entrückt war. Einem zwischen Askese, Wildheit und Entartung gespannten Gefühlsleben hat die geistige Kultur in gewisser Weise nur seine Geradheit und Einfalt genommen, ohne es zu erhöhen und zu klären. In dieser Spannung liegen die gefährlichen Sensationen ihrer Liebe - deren Wesen Abälards Bericht andeutet, wenn er sagt, dass er Heloïse manchmal geschlagen habe, aber "in Liebe, nicht in Wut, zur Lust, nicht zum Schmerz." "Solche Züchtigung war mir und ihr süße Wonne, süßer als alle Köstlichkeit der Welt." Es war wahrlich eine irdische Liebe, die sie verschlang und hinriß, irdisch mit allen dunklen Instinkten des Fleisches und aller Reizbegierde der Nerven. Und doch - aber was diese Liebe mit und trotz ihrer wilden Verwirrung der Sinne gleichwohl war, als einzigartiges Seelenschicksal, das kann man nicht aus dem Bericht des Abälard, das muß man aus den Briefen der Heloïse ablesen.

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Denn dieser Bericht des Abälard ist aus einer wütenden Beschämung heraus geschrieben, die auch das, was an seiner Liebe groß und naturgewaltig war, nachträglich beschmutzt und durch den Staub zieht. Und diese Wut galt vor allem der Zerstörung seines Gelehrtenschicksals durch das, was sich aus dieser Liebe für ihn entspann; sie war - im Sinne des Apostels - eine durchaus "weltliche Traurigkeit", eine bittere, bohrende, unedle Reue.

Abälard erzählt, dass er so hingenommen war von seiner Leidenschaft, dass er seine Wissenschaft vernachlässigte und seine Schüler von ihm enttäuscht wurden. Er war in jenem Zustand von Hemmungslosigkeit und Blindheit, dass er alle Vorsicht vergaß. Als der Kanonikus Fulbert die Sache erfuhr, wies er Abälard aus dem Hause, und als Heloise bald darauf fühlte, dass sie ein Kind erwarte, entführte er sie in das Haus seiner Schwester, als Fulbert abwesend war. Dort blieb sie, bis sie einen Knaben gebar. Abälard aber bemüht sich, den Oheim zu versöhnen, er stellt ihm vor, dass niemand, der selbst geliebt habe, über das, was geschehen sei, erstaunen könne, sondern wissen müsse (dieser Adam!), wie "von Anfang der Welt an selbst die stärksten Männer von den Frauen schändlich zu Fall gebracht worden sind. Und um alles gutzumachen, bot ich ihm an, was er gar nicht erwartet hatte, dass ich das Mädchen, das ich verführt hatte, wirklich heiraten wollte. Nur verlangte ich eins: unsere Ehe sollte ein Geheimnis bleiben, damit mein Ruf nicht Schaden leide."

Ungemein bezeichnend als Ausdruck der Zeitanschauungen und als Selbstcharakteristik des Mannes. Das Weib hat den Heiligen zu Fall gebracht, er will seine Pflicht an ihr tun - nicht, um mit ihr vereint zu sein, sondern um "gutzumachen", fühlt sich dabei sehr aufopfernd und edel und glaubt um so mehr beanspruchen zu dürfen, dass die Ehe geheim bleibt, einmal, weil ihm der ehelose Stand an sich zu höherem Ruhme gereicht, dann aber, weil er insbesondere durch die Ehe mit Heloise, dem gefallenen Mädchen, seinen Ruf gefährdet glaubt.

In der Haltung zu diesem Angebot enthüllt sich nun die Liebe * der Heloïse. Sie will diese Ehe nicht. Abälard verbreitet sich in seinem Bericht seitenweise über die Gründe, mit denen sie gegen die Ehe protestierte. Sie habe gewusst, dass auch diese heimliche Ehe Fulbert nicht versöhnen werde. Aber mehr: sie wollte nicht die Ursache sein, den Ruhm Abälards zu verdunkeln, wie es durch die Ehe an sich zweifellos geschehen würde. Ihre ganze philosophische und theologische Belesenheit scheint sie aufgeboten zu haben, um ihm zu beweisen, dass dem Weisen die Ehe nicht diene. Eindringlich hat sie ihm die äußere Misere eines Familienlebens in beschränkten Verhältnissen vorgehalten, mit allen banalen Hemmungen des Flugs seines Geistes. Als geistige Kameradin versteht sie die Notwendigkeit der Konzentration, ohne die keine Wissenschaft denkbar ist. Und als Kind ihrer Zeit ist ihr das Zölibat mit der Würde des Geistigen unlöslich verbunden.

Das alles erwähnt er. Sie jedoch fügt später noch eines hinzu, ihr das Wesentlichste: Aus der Ausschließlichkeit ihrer eigenen Liebe heraus verachtet sie das Sakrament. Sie will keine Verpflichtung, denn sie selbst fühlt sich gebunden über alle heiligen Versprechungen hinaus, die hinter dem Sinne ihrer bedingungslosen Hingabe, leere und bedeutungslose Worte, zurückbleiben. Und seinem Gefühl will sie keine äußeren Fesseln anlegen. Sie macht ihre Liebe nicht zum Gegenstand eines Handels. Sie will nichts von ihm: nicht Schutz, nicht Ehre, nicht Sicherheit, nicht Besitz, sie will ihn, ihn unbelastet und ungebunden. "Wenn anderen vielleicht der Titel Ehegattin stärker oder heiliger erscheinen sollte" - so schreibt sie später - als Nonne -leidenschaftlich und bis zum letzten offen - "mir ist das Wort Geliebte immer süßer erschienen. Und, lass es mich sagen: selbst das Wort Buhle, das Wort Dirne war meinem Herzen Musik."

Trotz ihres Widerspruchs bestand Abälard auf der Eheschließung. Sie wurden getraut, um sich dann wieder zu trennen, da ja die Ehe geheim bleiben sollte. Selbstverständlich, dass Klatsch, Gehässigkeit und Skandalsucht sich an dies halblegitimierte, unklare Verhältnis erst recht heftete. Abälard flüchtete Heloise aus dem Hause des Onkels, der sie seine Enttäuschung und seine Verachtung in täglichen Misshandlungen spüren ließ, zu den Nonnen von Argenteuil, bei denen sie erzogen worden war.

Darüber ereilte ihn die Rache Fulberts - jenes schauerliche und groteske Attentat (sittengeschichtlich doppelt brutal, wenn man sich als seinen Urheber einen Kanonikus denkt!) gedungener Verbrecher, die ihn in seiner Wohnung nachts überfielen und kastrierten.

Abälard verbirgt seine Schmach im Kloster von St. Denis und veranlasst Heloise, gleichfalls den Schleier zu nehmen.

*****

Ihr Briefwechsel beginnt über ein Jahrzehnt, nachdem sie beide das Gelübde abgelegt haben, mit einem Brief der Heloise. Abälard hatte seitdem sein streitbares, nun zwiefach verbittertes Gelehrtenleben wieder aufgenommen. Von Feinden gehetzt, von Konzilien verworfen, von seinen eigenen Mönchen mit Lebensgefahr bedroht, hatte er eine von ihm in unwirtlicher Gegend begründete Wirkensstätte verlassen müssen. Heloise war gleichzeitig als Äbtissin von Argenteuil durch die Machtgier des Abtes von St. Denis vertrieben und mit ihren Klosterfrauen heimatlos geworden. Auf die Aufforderung Abälards bezog sie das Haus "Paraklet", die von Abälard und seinen Schülern verlassene Stätte. Und sie arbeitete dort mit einem Erfolg, der sie, wie Abälard sagt, in einem Jahr weiter kommen ließ, als es ihm in hundert möglich gewesen wäre. "Bischöfe sahen sie als Tochter an, Äbte als Schwester, Weltkinder als Mutter, und alle waren voll von dem Lobe ihrer Frömmigkeit, ihrer Einsicht, ihrer unendlichen Güte und Milde, die nie nachließ."

Aber ihre innere Heimat war nicht das Kloster. Ihre Heimat war ihre Liebe geblieben. Sie bekommt den Bericht Abälards über sein Leben in die Hände; das gibt ihr den Anlass, an die Vergangenheit wieder anzuknüpfen. Diese wenigen Briefe zwischen ihnen sind kein bloßes Nachspiel, sie sind eine Klärung und Bloßlegung des Wesens ihrer Liebe, sind Rechtfertigung und Gericht. Es gibt kaum ein Liebesschicksal in der Geschichte, in dem die äußeren Umstände das Wesen des Gefühls so klar enthüllten.

Heloise prägt - in schmerzlicher Betrachtung darüber, dass er ein Jahrzehnt ihrer nicht gedacht hat, fragend und zweifelnd - die Formel: ich habe dich geliebt, du hast mich begehrt. Und diese Unterscheidung, seltsam frühreif für dieses Zeitalter in ihrer Feinheit und Schärfe, kennzeichnet in der Tat den Kern dessen, was seine und ihre Dokumente enthüllen.

Ihre Briefe sind ein Bekenntnis zu ihrem Gefühl über alle christlich-mönchischen Wertungen hinweg und zeigen die leidenschaftliche Sicherheit einer ganz großen Natur. In ihr begibt sich - vier Jahrhunderte vor der Renaissance - die Befreiung des Menschen von der Tradition. Zwar ist auch sie bereit - ihr Wille, ihr religiöses Pflichtgefühl -, ihre Leidenschaft als Fleischeslust zu erkennen und sich ihrer Liebe als einer Sünde zu zeihen. Gleichzeitig aber bekennt sie, dass sie nicht imstande sei, Reue zu fühlen. "Das Glück, dem wir beide uns hingegeben haben, war für mich so süß, dass es mir niemals Abscheu einflößen könnte und dass ich es nie werde vergessen können. Wohin ich auch meine Augen richte, überall steht das Bild dieser wonnevollen Stunden vor mir und weckt meine heiße Sehnsucht. Bis in den Schlaf verfolgen mich diese süßen Vorstellungen. Mitten in der Feier der heiligen Messe, wenn das Gebet am reinsten zum Himmel steigen sollte, ist mein elendes Herz so erfüllt von den lockenden Bildern solcher Lust und Wonne, dass ich mehr Sinnlichkeit spüre als Andacht. Wenn ich seufzen und klagen sollte über die Sünden, die ich begangen habe, dann klage ich weit mehr über die, die ich nicht mehr begehen kann. Ich denke dann nicht nur an das, was wir miteinander getan haben; auch die Erinnerung an die Orte, die Stunden, die unserem Liebesglück dienten, ist in meinem Herzen so wach, so verknüpft mit jeder Erinnerung an dich, dass ich fast das gleiche, wie damals in der Wirklichkeit, nun in der Phantasie erlebe, wenn ich an sie denke. Und so sind meine Träume ... Was in meinem Herzen vorgeht, spricht sich dann manchmal durch eine jähe und seltsame Bewegung meines ganzen Leibes aus. Oft kann ich törichte Worte nicht zurückhalten. Ach, bin ich nicht wirklich unselig?"

Und so rückhaltlos, wie sie sich zu ihrem Gefühl bekennt, gesteht sie, dass sie nicht aus innerstem Müssen, nicht mit dem Kern ihrer Seele, nicht mit reiner Hingabe im Kloster ist. Dem Geliebten gehorchend hat sie den Schleier genommen; als er sich in die Arme Gottes flüchtete, ist sie mit ihm gegangen. Nicht weil Gott sie rief. "Ich hätte nicht eine Sekunde gezögert", so bezeichnet sie selbst kühn und ehrlich den Sinn ihres Schrittes, "Dir in die letzten Winkel der Hölle voranzugehen." Dabei durchschaut sie seinen Egoismus, der sie durch das Gelübde fesselte, ehe er selbst aus der Welt ging, vollkommen. Sie lächelt noch in der Erinnerung zornig und liebevoll über seine Angst, sie könne einem anderen sich zuwenden, und es wird ihr heiß vor Scham über das geringe Vertrauen, das er in sie setzte.

Ja, sie weiß es, dass ihr Einsatz unermesslich viel größer ist als der seine; aber sie will es so. "Wollte Gott, Du Lieber, dass Du ein wenig mehr um meine Liebe hättest sorgen müssen, dann hättest Du sie mehr geachtet."

Keinen Augenblick ist sie sich darüber im unklaren, dass ihr ganzer Dienst vor Gott Schein ist - so hoch auch ihr Ruhm, so heilig ihr Ruf, so bewundert ihre reine Liebe vor den Menschen dasteht. Man muss an die feste Gebundenheit der mittelalterlichen Seele - auch der ihren - an die Lehre von dem Lohn der unbußfertigen Sünde denken, um die Furchtlosigkeit und Leidenschaft zu ermessen, mit der sie sich selbst in diese Verdammnis verweist. "Sie nennen mich keusch, weil sie nicht wissen, dass alles nur Schein ist. Sie nennen die äußere Reinheit meines Leibes Tugend und wissen nicht, dass die Tugend eine Sache der Seele ist und nicht des Körpers. Die Menschen spenden mir Lob und Ruhm, vor Gott aber verdiene ich keinen, vor Gott, der in die Herzen sieht und uns bis ins Innerste prüft und das Geheimste unserer Seele kennt. Ich gelte für eine heilige Frau in einer Zeit, wo Religion zumeist nur Heuchelei ist. -- Ich aber habe in jedem Augenblick meines Lebens, Gott weiß es, mehr Angst gehabt, Dich zu kränken, als Gott selbst. Und ich habe mehr danach begehrt, Dir zu gefallen als ihm. -- Ich habe vom Himmel keinen Dank zu erwarten. -- Ich will auch nicht, dass Du, um meine Tugend zu erwecken und mich zum Kampf anzufeuern, mir sagst: Keiner bekommt den Siegeskranz, der nicht ehrlich um ihn gekämpft hat. Ich will keine Siegeskränze. Mir muß es genügen, der äußersten Gefahr auszuweichen."

Und wie sie keine Kränze vom Himmel begehrt, weil sie zu dem Verzicht nicht bereit ist, durch den man sie verdienen kann, so verweigert sie auch Gott die demütige Ergebung in ihr Schicksal. Im vollen Bewusstsein des Frevels, den sie begeht, schleudert sie aus ihrer Zelle gegen den grausamen und harten Gott das unheilige Gebet ihrer Anklage: "0 Du Barmherzigkeit der Unbarmherzigkeit! Du hast alles gegen mich aufgebraucht, was Du an Kraft hast, Unglück zu bereiten, so dass Du nun keinem anderen noch Leid bereiten kannst. Du hast den Köcher des Unglücks ganz über mich ausgeleert, so dass kein anderer Mensch mehr Deinen Angriff zu fürchten braucht. Und wenn Du noch einen Pfeil hättest, es gäbe keinen Platz mehr auf meinem Leibe für eine neue Wunde."

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Was will sie von Abälard, indem sie ihm so ihre Seele bloßlegt und die Vergangenheit wieder vor ihn hinstellt?

In den Gegenstand einer Bitte gefasst: er soll sich ihr und ihren Nonnen als geistiger Berater zuwenden, er soll ihr schreiben, um ihre Kraft zu stärken und ihr zu helfen.

Als Begehr ihres Herzens begriffen: sie will einfach seine Nähe, weil sie ihn liebt und nie aufhören wird, ihn zu lieben. Diese Liebe hat die Probe auf ihre seelische Glut bestanden: "Als ich mit Dir alle Lust körperlicher Liebe genossen habe, da konnte man im Zweifel sein, ob ich wirklich liebte oder nur sinnlich war. Aber das Ende musste ja zeigen, was ich von allem Anfang fühlte. Ich habe allem entsagt, um Dir zu gehorchen. Ein einziges Recht nur habe ich mir bewahrt: mich als Dein Eigentum zu fühlen."

Gibt es, so stürmen ihre Fragen, keine Form der Liebe als die eine? Ihr Herz protestiert gegen das "Nein" - ihr unauslöschliches Gefühl würde sich seinen Ausdruck erzwingen, würde eine neue Beziehung schaffen, jene Beziehung, die sie' in den Anreden ihrer beiden ersten Briefe mit unendlichem Feingefühl, zugleich mit einer wunderbaren Schwingung von Zärtlichkeit umschreibt: An ihren Herrn, mehr noch an ihren Vater; an ihren Gemahl, mehr noch an ihren Bruder schreibt seine Magd, ja mehr noch seine Tochter; sein Weib, mehr als das: seine Schwester; an Abälard also seine Heloïse. Und die zweite: An den, der ihr eins und alles nach Jesus Christus ist, die, die sein ist im Herrn.

Sie könnte nicht feiner und vollkommener sagen, in welcher Sphäre sie ihrer Liebe eine Auferstehung und ein zweites Dasein geben will. Und wenn allerdings der Abstand, den sie mit ihren Anreden schafft, und die lebendige Glut ihrer Liebesworte noch in Widerspruch zueinander stehen, diese Frau hätte die Herzenskraft gehabt, die ganze selig-süße Vergangenheit einzuschmelzen in ein neues Zueinandergehören von gleicher Schicksalskraft und größerer seelischer Tiefe. Das ist ihr Glaube und ihre Hoffnung. Darum schreibt sie, und das ist ihre Bitte. Mit der Inbrunst dieses Wunsches bezwingt sie das Gelehrtenlatein, in dem sie schreibt, so dass es den Schmelz eines Liebesliedes annimmt. "Damals, als Du noch sinnliche Lust von mir begehrtest, da kamst Du oft mit Briefen in mein Haus, und ohne Unterlass teilten Deine Verse der ganzen Welt den Namen Heloïse mit. Jetzt, wo ich mich nur noch mit Gott in Liebe vereinigen kann, willst Du jetzt nicht das für mich tun, was Du tun konntest, als Du irdische Lust mit mir wolltest?"

Und man fühlt den Herzschlag ihrer Sehnsucht und ihrer Wünsche in dem ganz unformellen, ganz impulsiven Schluss "und so schließe ich diesen langen Brief mit den kurzen Worten: Lebe wohl, Du mein alles".

Sie wollte Unmögliches. Die stille Angst, die sie quält, ist eine Ahnung der Wahrheit: "dass Du mich nämlich mehr begehrt als geliebt hast, dass es die Wollust und nicht die Liebe war, die dich zu mir gezogen hat. Denn wie du aufgehört hast, mich zu begehren, war auch von Deiner Zärtlichkeit, mit der Du mich umworben und besiegt hast, nichts mehr da".

Es mag als eine Frage der Sexualphysiologie oder -psychologie offen bleiben, wie weit sie wirklich Unmögliches verlangte, oder wie weit Abälard als Seele, als Individualität hinter ihrer Herzensglut und Liebesfülle zurückbleibt. Sie vermag ihn nicht mehr zu einem Gefühl zu erwecken, das irgendwie ein Echo des ihren gewesen wäre.

Sein erster Brief ist eine sehr armselige Ablehnung; er enthält eine weitschweifige Mahnung, sie möge mit ihren Nonnen für ihn beten und Vorschläge zu dazu geeigneten Responsorien. Zum Schluss eine Zurückweisung ihrer persönlichen Zärtlichkeit: "So bitte ich Euch zum Schluss, dass Ihr, die Ihr fast etwas zuviel nach meinem irdischen Leib gefragt habt, Euch künftig mehr um das Heil meiner Seele kümmert." Sie antwortet mit dem gesteigerten, furchtlosen, geraden Ausdruck ihres Gefühls, von dem schon ein Bild gegeben ist, und sagt ihm, warum er sich auf die Kraft ihrer Gebete nicht verlassen soll.

Darauf er - schulmeisterlich und beleidigend steif: "Dein letzter Brief zerfällt, wenn ich mich recht erinnere, in vier Abschnitte, in denen Du Punkt für Punkt alle Deine Klagen aussprichst." Dann folgt eine verschrobene allegorische Betrachtung über das äthiopische Mädchen im Hohen Liede, anscheinend mit dem Sinn, Liebesgedanken auf geistliche Dinge umzudeuten und damit auch umzulenken. Den Hauptteil des Briefes aber bildet eine Schilderung ihres Liebeslebens als einer Folge von Sündenfällen, die das Gericht Gottes über ihn und sie als eitel Gnade erscheinen lassen. "Was wir für Liebe hielten, die Leidenschaft, die uns beide in ihren sündigen Wirbel führte, war nur Begierde. Sie verdiente gar nicht den Namen Liebe." Nicht ohne Würde und religiöse Kraft stellt er dieser unreinen Liebe die Liebe Jesu gegenüber und ermahnt sie, die ihr mit den Quellen ihres heißen Herzens auferlegte Prüfung -der ihn sein Schicksal entrückt hat, wie er ausdrücklich sagt -als eine besondere Begnadung zu bestehen. Und zum Schluss schickt er ihr den Text eines Gebetes und empfiehlt ihr, es -seltsamer Weise im Verein mit ihren Mitschwestern! - zu beten: "Gott, der Du vom Anbeginn der Welt an das Sakrament der Ehe geheiligt hast, indem Du das Weib aus der Rippe des Mannes schufst, - der Du auch mir trotz meiner Zügellosigkeit und Schwäche die Ehe gestattet hast, verwirf nicht die Bitten Deiner niedrigen Dienerin. Ich bete hier zu Deiner heiligen Majestät für meine Sünden und die meines Geliebten. Verzeihe, Du gütiger Gott, der Du die Güte selber bist, verzeihe uns unsere Sünden, so groß sie sind, und lass Deine unendliche
Güte walten über unserer unendlichen Schuld".....

Heloise gibt in ihrem nächsten Schreiben durch die Anrede zu verstehen, dass sie sich zu seiner Betrachtung nicht aufzuschwingen vermag: "An ihren Herrn und Meister - seine unwürdige Magd" und begräbt ihre Hoffnung mit dem schmerzlich resignierten Satz: "Damit Du mich nicht ungehorsam schelten sollst, wird Dein Wunsch dem Ausdruck meiner unendlichen Schmerzen Zügel anlegen und ich werde, wenn ich Dir schreibe, Worte meiden, die ich im Gespräch nur schwer, vielleicht überhaupt nicht unterdrücken kann." Aber damit er es trotz alledem weiß: "Dem Herzen kann man nicht befehlen, wir haben es nicht in unserer Gewalt und müssen ihm vielmehr folgen."

Von nun an ist sie für ihn die Äbtissin und berät mit ihm - klug, selbständig, innerlich frei, überlegen - eine für Frauen geeignete Ordensregel, da die Männer bisher gedankenlos und nichtachtend die für sie gemachten Ordnungen den Frauen einfach auferlegt hätten. Man fühlt etwas in ihrem Brief wie schmerzlich erregten Ehrgeiz und verwundeten Stolz. Ihr Gefühl aber wird sie wohl in den einen Satz gerettet haben, den sie von dem Gebet des Abälard übrig ließ: "Die, die Du in der Welt voneinander getrennt hast, vereinige sie für alle Ewigkeit im Himmel" - und vielleicht hat sie doch gehofft, dass, als Abälard ihr diesen Satz zu beten vorschrieb, auch bei ihm noch ein wenig das Herz sprach, dem man nicht befehlen kann.

Als Toter kehrte er zu ihr zurück. Nachdem Innozenz II. ihn als Ketzer exkommuniziert hatte, erreichte sein Freund Petrus Venerabilis von Cluny, dass er in Cluny sein Leben beschließen durfte. Als er dort starb, wurde seine Leiche in sein altes Kloster zum Parakleten überführt. Heloise heftete den Absolutionsbrief des Abtes an seinen Sarg, der nach 22 Jahren sie selbst aufnahm.

 


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