Dieter Schlesak: Reisen - Bretagne

- Auszüge

Dieter Schlesak wurde 1934 in Schäßburg in Siebenbürgen/Rumänien geboren. Nach einem Germanistikstudium wurde er vorübergehend Lehrer und dann Redakteur bei der Zeitschrift "Neue Literatur" in Bukarest. Im Jahre 1969 übersiedelte er in die Bundesrepublik. Seit 1973 lebt er abwechselnd in Stuttgart und in Camaiore/Lucca.

Schlesak veröffentlichte u. a. bei Hallwag, Rowohlt und Reclam. Er schreibt sowohl Lyrik als auch Aufsätze und Prosa, u.a. mehrere Romane, veröffentlichte Beiträge in verschiedenen Zeitschriften und für den Rundfunk, außerdem Übersetzungen und ethnologische und kulturhistorische Studien.

1986 erschien sein Roman Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens, ein Buch über einen Exildeutschen. Dafür erhielt der Autor zweimal das Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds, ein Stipendium des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst von Baden-Württemberg und den Schubart-Literaturpreis. Auch die andere Arbeiten wurden mit Förderpreisen und Stipendien ausgezeichnet. Für seine Lyrik erhielt Schlesak z.B. den Nikolaus-Lenau-Preis.

Schlesak ist Mitglied des Deutschen P.E.N Zentrums, des P.E.N Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland und anderer Schriftstellervereinigungen.

 

Hier seine Reflexionen zu Heloïsa und Abaelard:

 

In Saint-Gildas-en-Rhuys. Besuch in Abaelards Klosterabtei. 1128-1136. Vor zehn Jahren ist er zur Strafe (Beziehung mit Heloïse) entmannt worden. An Heloïse schrieb er im 5. Brief, "Die Glut meiner Gier hatte mich mit dir zusammengeschmiedet; ich dachte nicht mehr an Gott, ich dachte nicht mehr an mein besseres Selbst, so tief untergetaucht war ich in den armseligen Genüssen, die zu schmutzig sind, als dass ich sie ohne Erröten auch nur nennen kann.." Da habe Gott in seiner Barmherzigkeit, das Messer, das seinen Leib traf, habe ihn, Abaelard, von dem Schmutz befreit. So habe er nur an einem kleinen Teil des Leibes seine Sünde büßen müssen. Ein "Pfahl im Fleisch" . Selbst aber habe er es nicht tun dürfen, ein anderer musste es tun. Origines sei schuldig geworden, weil er es selbst getan. Und doch wurden sie zusammen bestattet, waren sogar Eheleute gewesen, hatten einen Sohn. Auf dem Père Lachaise schrieb ich:

 

Weißt du noch: Heloïse und Abaelard
Etwas Regen auf dem PèreLachaise.
Versteint. Wir unter Regenschirmen.

Was weint da. Sogar über Steinen.
Wir suchten. Und unter Linden hören wir

ein Flüstern. Laute, wie Tandaradei.
Klang Worte in Höfen. Tage. Und dies Paris

so spät. Kaum große Herbstzeitlose,
die zur Liebe jetzt auf Gräbern rät.

Ein Liebespaar, wir waren jung, berührt
den Stein. Von unten her. Ein Kind, das weint.

Woher ein Sic et Non, der Erdgeruch mit
deiner Haut im Regenduft vereint, im Schritt

der Kuss unter dem Kleid, ein Blitzen wie
durch Tränen, ein Blick der Tote überholt.

Jetzt stehn sie auf und lachen. Sie sehn dir unters Kleid,
die schwarze Herbstzeitlose die Sonne runterholt.

Heloïse, Abaelard: "Was ich begangen, es lebt
so stark in freudiger Süße," riss mir das Herz entzwei.

Saß sie auf einem Steine, Heloïse, Abaelard.
Fließt in die Iris heute dies Liebespaar.

Und steigt ganz aus dem Wort und nur ins Auge ein.

Der Name sucht durch Todesnacht lichtschnell verborgen dort
im Stein, den nur der Finger anstößt, Kälte fühlt,
als wäre dieses wahr
("drei Tage sind es, drei, von keinem Schmerz verschont,")

Heloïse, Abaelard...

Tod ist ein Liebespaar. Liegt vor uns, geschwärzt
Figur, der Stein. Schmerzlich der Durchgang
mit Bildern und Dornen, durchkreuzen das Auge und
sieh, die Paare, sie wärmen.

Vom Tode denke nichts, und nur auf ein Wort.
Steht Sic et Non - gerade für wen?
Daran miss und trau dem Auge nicht mehr,
trau denen, die nicht mehr sehn.

Nichts erinnert in der kleinen Abtei, die nur noch seinetwegen besucht wird, an ihn, er selbst floh von hier, der Rauheit und Ungebildetheit, Gesetzeslosigkeit der Mönche. Und doch werden andauernd Abte und Heilige, meist in Form von Grabsteinen, einer sogar im Glassarg mit den heiligen Gebeinen vorgezeigt. Die Kirche mochte den freien A. nicht. Immer wieder wurde er "bestraft" Auch in einem Kloster bei Soissons, das zugleich Irrenhaus und Kerker war. Und hier die heiligen Knochen. Überall die Materie verehrt.

Ich mache Aufnahmen davon. Auch von einem großen Schiffsmodell, dem Nonnenkloster daneben. Werde verjagt. Und denke an Abaelards Sic et non: das meinem eigenen Stil entspricht: jede Aussage zurücknehmen, nichts stehen lassen, weil nichts wahr sein kann, was nur gedacht oder nur Sprache ist.

Denken an Abaelard, den Entmannten. Cioran meint, man sollte wieder Klöster bauen, auch für jene, die an nichts glauben können. Mönche konnten die Abgründe erproben, ohne gleich als Gestörte zu gelten. Oder Patienten. Mein Wutausbruch in Ouistreham gegen L, die diese Vernünftige und normale Welt geradezu verkörpert. Und alles, was ins gefährlich Geistige geht, sofort abblockt. Sie bleibt Katalysator für alle, und ich kann mit dem, was mich beschäftigt, isoliert bleiben... Und vor einigen Tagen wieder. Dieses andauernde Nachdenken, auch nach dem Erlebnis von Nantes, aus dem Okzident zu fliehen. Ins arme Siebenbürgen? Mit Jens P. sprachen wir darüber, er hat ähnliche Gedanken, aus dieser Schweinewelt zu flüchten. Doch wohin, es gibt keine Fluchtmöglichkeit mehr, gar einen Ort, wo man berufsmäßig die Welt verabscheuen kann.

Komisch, weil ich älter bin, über sechzig, habe ich das Gefühl, auch Abaelard näher zu sein. Zeit spielt keine Rolle mehr. Das ist einerseits befreiend und stärkt das Selbstbewusstsein, andererseits lässt es nicht zu, dass jemand wie L. daran rührt. Aber anstatt die Lächerlichkeit ihres Verhaltens, das nur an augenblicklicher Wirklichkeit des äußeren Jetzt orientiert ist, als lächerlich anzusehen, nehme ich es verbiestert ernst. Ich bin also meinem eigenen Gedanken und Zustand nicht gewachsen. Wie das ändern, von dem Irrealen durchdrungen zu sein.? Ist es der Beginn jener Altersmineralisierung, die den Schein des Körpers, der das Innere hindert, so sehr in den Vordergrund schiebt, dass der andere Zustand nicht mehr durch dringen kann? Bin ich immer mehr das Gegenteil von dem, was ich, absurderweise durch lange Jahre erreicht habe?


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