Oskar Panizza: Das Liebeskonzil

© Dr. Werner Robl, 2001

Oskar Panizza, der auch unter den Pseudonymen Sven Heidenstamm, Jules Saint-Froid oder Sarcasticus schrieb, wurde am 12. November 1853 als fünftes Kind des vormaligen Kellners und nachmaligen Hotelbesitzers Carl Panizza und seiner Frau Mathilde in Bad Kissingen geboren. Beide Eltern - sein Vater war Katholik, seine Mutter aktiv-pietistische Protestantin - sorgten zu Hause für eine frömmelnd-bigotte Atmosphäre, welche Panizzas spätere antiklerikale Grundhaltung mitbedingt haben mag. Seine Mutter war übrigens eine hervorragende Geschäftsfrau - nach des Vaters Tod wurde sie mit ihrem Hotel rasch zur Millionärin.

Oskar Panizza war zunächst ein schlechter Schüler. Erst nachdem er das Gymnasium gewechselt und zwischenzeitlich eine Kaufmannslehre und den Militärdienst absolviert hatte, gelang es ihm, im vorgerückten Alter von 24 Jahren das Abitur nachzumachen. Panizza wurde Mediziner. Im Jahre 1880 promovierte er bei Prof. Ziemssen sogar mit summa cum laude. Ein Jahr danach trat Dr. Panizza seine erste Assistenzarztstelle an. Anlässlich eines Paris-Aufenthaltes erweiterte er seine Kenntnisse in der französischen Literatur. Im Jahre 1882 wurde er Assistent in der Kreis-Irrenanstalt in München, bei dem berühmten Prof. Bernhard von Gudden, der vier Jahre später auf heute noch rätselhafte Weise mit König Ludwig II. ums Leben kam.

Schon vor diesem tragischen Ereignis - im Jahre 1884 - hatte der angehende Arzt seine Arbeitstelle verlassen, um von nun ab nur noch literarisch tätig zu sein. Eine Jahresrente von sechstausend Mark, die die Mutter allen ihren Kindern aussetzte - das war eine horrende Summe, heute mindestens mit dem Faktor 10 (Euro) zu multiplizieren -, ermöglichte es Panizza ab 1884,  sich  ganz der Berufung als Dichter zu widmen und zu reisen. Seit etwa 1890 verfasste und veröffentlichte er literarische Werke - meist Prosaschriften von ätzender Polemik. Ihr bald frivoler, bald okkulter, bald moralisierender, bald libertinistischer Unterton und der enthaltene, unverhohlene Antisemitismus und Antikatholizismus machten Panizza beim Establishment ebenso bekannt wie unbeliebt. Für seine Werke wählte er meist sehr skurrile Titel, z.B. Aus dem Tagebuch eines Hundes, Die unbefleckte Empfängnis der Päpste, Der heilige Staatsanwalt. In der Münchener Bohème dagegen - im Kreis um Michael Georg Konrad und Max Halbe - war Panizza angesehen. Dies war das Milieu, aus dem später auch der Simplicissimus und die Elf Scharfrichter hervorgingen. Den genialen, stets von Geldnöten geplagten Dichter Ludwig Scharf unterstützte der wohlhabende Panizza sogar als Mäzen.

Panizzas Anfeindungen von Kirche und Staat erreichten im Jahre 1894 mit dem Liebeskonzil ihren Höhepunkt. Für diese Himmelstragödie in fünf Aufzügen wurde er der Gotteslästerung in 99 Fällen für schuldig befunden. Obwohl nur 23 Exemplare des Werkes bis zum Verbot im Ausland verkauft waren, kam das Stück durch Gerichtsbeschluss auf den Index, und Panizza musste 1895 für ein Jahr ins Zuchthaus.

Nach seiner Entlassung emigrierte Panizza in die Schweiz, von wo aus er seinen antiautoritären Feldzug fortsetzte. Schließlich wurde er von dort ausgewiesen, weswegen er erneut nach Paris übersiedelte. Dort verfasste er die Deutschen Verse aus Paris. Wegen der darin enthaltenen Angriffe auf den Obrigkeitsstaat und persönlicher Verunglimpfungen des deutschen Kaisers Wilhelm II. wurde Panizzas Vermögen in Deutschland - das waren 185 000 Reichsmark - beschlagnahmt. Damit war dem rebellischen Literaten die weitere Lebensgrundlage genommen.

Im Jahre 1901 kehrte Panizza, der er sich selbstironisch Dichter von Gottes Gnaden nannte, mittellos nach Deutschland zurück. Am 13. April 1901, dem Karfreitag, wurde Panizza erneut inhaftiert und zunächst in die geschlossene Irrenanstalt, in der er zwanzig Jahre zuvor als Assistenzarzt gearbeitet hatte, unter der Diagnose Paranoia bei gleichzeitiger Unzurechnungsfähigkeit eingewiesen. Überraschenderweise kam er bald wieder frei. Nach einem erneuten kurzen Intermezzo in Paris wandte er sich ein zweites Mal nach München, wo er nun ohne Kontakte zu seinen früheren Bekannten lebte. Am 19. Oktober 1904 provozierte er seine erneute Einweisung in die Heilanstalt, weil er in Unterwäsche zum Siegestor spaziert war. Ab 1905 war er im Herz- und Kreislaufkrankenhaus Mainschloss Herzogshöhe in Bayreuth untergebracht, wo er noch 16 Jahre lebte. Dies war übrigens keine geschlossene Nervenheilanstalt - wie vielfach behauptet -, sondern ein relativ luxuriöses und komfortables Privatklinikum. Der Aufenthalt wurde wohl von Panizzas Familie finanziert. Noch 1905 wurde Panizza wegen hereditär bedingter Paranoia endgültig entmündigt. Wohl war er Zeit seines Lebens monoman und extrem eigenbrötlerisch, ja skurril gewesen, ob er aber wirklich geisteskrank war, bleibt dahingestellt. Zumindest deuten einige Zeichnungen aus seiner letzten Zeit darauf hin. Die letzte, gesicherte Äußerung Panizzas stammt von 1906: Darin verfügte er, dass verschiedenen Institutionen - unter anderem der Staatsbibliothek in München - je 200 Millionen Reichsmark zu überweisen seien. Er unterschrieb mit ... hochachtungsvoll grüßend, Otto Fürst von Bismarck.

Panizza starb am 28.9.1921 in Bayreuth - als persona ingrata. Seine Werke gerieten in Vergessenheit, sein Liebeskonzil blieb im deutschen Theaterbetrieb bis in allerjüngste Zeit hinein unerwünscht. Im Folgenden eine kleine Aufstellung von Panizzas wichtigsten Werken:

Die Werkrezensionen sind so widersprüchlich wie die Gestalt des Verfassers selbst. Viele spätere Schriftsteller wie Theodor Lessing, Thomas Mann, Walter Mehring, Kurt Tucholsky oder André Breton zeigten sich von Panizza und dessen Liebeskonzil fasziniert, andere reagierten mit heftiger Ablehnung. Die einen bewunderten seinen glühenden Libertinismus und Moralismus, die anderen wiederum hielten ihn für einen protestantischen Sturkopf, einen Umstürzler und Querulanten und warfen ihm die Ziellosigkeit seiner Moralbegriffe vor. Auf jeden Fall muss man Panizza ungeheuren Mut bestätigen, mit dem er die Doppelmoral der wilhelminischen Gesellschaft geißelte. Wenn auch die formale und inhaltliche Gestaltung seiner Werke kein literarisches Genie verraten, so hat Panizza allein wegen der nach heutigem Rechtsverständnis ungerechten Behandlung durch die Obrigkeit, die letztlich zu seinem Lebensruin führte, seinen Platz in der Literaturgeschichte verdient.

Auszug aus dem Liebeskonzil - 2. Akt Szene 3: Die Verwandlung

Das Liebeskonzil, eine Himmelstragödie in fünf Aufzügen, widmete Oskar Panizza dem Andenken Huttens. Kaum ein Theaterstück eines deutschen Dichters war so umstritten wie dieses. Das Stück ist zum Teil sehr geistreich, phasenweise aber auch sehr langatmig. Es richtet sich vor allem gegen die im Katholizismus vorherrschende, für Panizza unerträgliche Anthropomorphie Gottes und die bigotte Sexuallehre seiner Zeit. Der Autor musste für dieses Stück - wie bereits erwähnt - ins Gefängnis. Im Vorwort hatte er expressis verbis zu den Vorwürfen seiner Unzurechnungsfähigkeit Stellung bezogen:

...Das Publikum wird sich vielleicht schon gewundert haben, dass diese Dichtung, die doch vom Staatsanwalt konfisziert ist, immer und immer wieder in der Öffentlichkeit erscheint. Es wird sich gewiss schon gedacht haben, dass der Dichter verrückt sei. Dem ist aber nicht so. Das Publikum hat eben gar keine Ahnung von den Umständen, unter denen der Dichter produziert und den Inhalt seiner Inspiration vor die Öffentlichkeit bringt. Es kennt eben nicht jenes Kleinod, welches er allein besitzt, und das ihn befähigt, unabhängig von allen sonst etwa in Betracht kommenden Faktoren, nur seiner Inspiration zu folgen und nur sie ganz und voll zum Ausdruck zu bringen: das Gottesgnadentum der Dichter. Das Gottesgnadentum mit seinen schweren Pflichten, seinen niemals endenden, stets andauernden Mühen und Arbeiten, mit seiner furchtbaren Verantwortung vor Gott allein, von der kein Mensch, kein Staatsanwalt, kein Abgeordnetenhaus, kein Volk den Dichter entbinden kann. Es ist dies das Kleinod, welches zwar auch schon früher mehr oder weniger bekannt war, aber doch erst in jüngster Zeit von den Dichtern in voller Klarheit erfasst und auch dem Volke verständlich gemacht wurde. Es wird also gut sein, wenn das Publikum, der Reichstag, die Minister, die Fürsten, der Kaiser, der Staatsanwalt unsere Dichtungen als das hinnehmen, was sie sind, eine von Gott gewollte Sache, und nicht lang fragen oder nörgeln...

Das Drama ist eine Parodie des Goetheschen Vorspiels im Himmel. Es schildert eine verkommen-himmlische Gesellschaft, bestehend aus einem verblödeten Gott-Vater, seinem durchtriebenen Gott-Sohn und einer mondänen Maria. Diese erkennen die Schwierigkeiten, die zunehmend aufgeklärte Menschheit beim wahren Glauben zu halten. Rettung kann da nur der Teufel bringen. Es wird herbei zitiert und soll den Menschen die Libido austreiben, ohne sie aus der Erlösungsbedürftigkeit zu entreißen. Nach des Teufels Plan wird die Syphilis zum göttlichen Strafgericht, das auf weltliche und geistliche Fürsten herniederfährt und sogar am sittenlosen päpstlichen Hof Verbreitung findet. Als Belohnung bekommt der Teufel für seine Dienste freien Zutritt zu Himmel und sogar den Titel eines Kammerherren.

In der zweiten Szene des dritten Aktes - genannt die Verwandlung - lässt Panizza in einer düsteren Szenerie den Teufel aufmarschieren. Im Rahmen seiner Vision defilieren in fast Dantescher Manier auf dem Totenfelde einige bereits verstorbene Mätressen der Geschichte und Mythologie: Auf Helena, des Trojanerprinzen Paris Frau, und Phryne, die sagenhafte Hetäre aus Athen, folgt Heloïsa, die Äbtissin des Paraklet:

Teufel nach einer Pause, wie oben.

Heloise - Äbtissin von Paraclet - Latinistin des 12. Jahrhunderts.

Eine dritte Gestalt erhebt sich aus dem Totenfeld und kommt im gleichen Anzug, wie die vorigen, näher.

Du hast studiert, - und hast geliebt, - und hast Kinder gebracht, - und hast deinen Lehrer Abälard, die Leuchte des Jahrhunderts, verführt - und deine Familie in Spott und Schande gejagt, - bis sie dir deinen Geliebten zum Kapaun machten - und dich zur Nonne, - und hast dann deinen verschnittenen Abälard fortgeliebt, - und ihm brünstige Briefe geschrieben, - bis man dich zur Äbtissin machte; - und als Äbtissin hast du weiter studiert, und ihn weiter geliebt, und weiter - wenigstens in der Phantasie - Kinder gebracht und mit deinem längst abgekühlten Freund imaginative Scheußlichkeiten begangen, die man selbst in der Hölle nicht sagen darf, - und hast ihm geschrieben: lieber wolltest du des Abälard Hure, als des Kaisers rechtmäßige Gattin sein; - und als er starb, hast du dir seine Leiche kommen lassen, und hast ihn immer noch geliebt, und ihn mit deinen eigenen Händen begraben; - und dann hast du ihn noch zwanzig Jahre auf Kosten deiner Phantasie weiter geliebt; - bis du selbst starbst?

Hat zu allen Fragen stumm genickt.

Warum? - Aus Liebe?

Bejaht heftig.

Aus reiner Liebe?

Bejaht intensiv.

Kind, du bist ja schon für den Himmel reif! - Halt dich parat, wenn die Posaune ertönt, kommst du zuerst dran! - Inzwischen geh und schlaf weiter! -

Gestalt geht ab.

Danach ruft der Teufel noch Agrippina, die Mutter Kaiser Neros, und zuletzt Salome, die Tochter des Herodes, auf. Erst letztere scheint dem Teufel so verderbt, dass er sie für seinen Plan benutzen kann: Sie soll Stammmutter eines neuen Geschlechts werden, welches die korrupte Gesellschaft der Aristokraten und Reichen, der Potentaten und Kirchenfürsten, ablösen könnte:

Teufel die Gestalt sanft mit sich nach rechts fortführend.

Wir haben große Dinge mit dir vor! - Da sollst die Ahnin eines grandiosen Geschlechts werden, an das kein Aristokrat hinan kann! - Deine Nachkommen werden weder blaues noch rotes, sondern weit merkwürdigeres Blut in ihren Adern führen. - Und du wirst die Mutter sein. - Deine Qualitäten sind einzig in meinem großen ungeheuren Reich! - Selbst oben, bei Hof, sieht man unsere Verbindung mit gnädigem Wohlwollen!

Er verschwindet mit ihr; die Stimme klingt immer entfernter.

Morgen darfst du schon zu deinen Schwestern zurückkehren! - Unser heißes Temperament lässt Schaffen und Entstehen sich in unglaublich kurzer Zeit vollenden! - Zeugen und Gebären rückt durch unsere Gewalten in wenige Stunden zusammen! - Komm, mein Kind, komm! -

Das Totenfeld ist jetzt verschwunden. Die Flöre fallen nun auch im Vordergrund immer dichter; so dass die Szene bald ganz verdunkelt ist. Man hört in der Ferne noch einen gellen, weiblichen Schrei. - Dann wird es schwarze Nacht, und - der Vorhang fällt.

 


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