F. Thomas: Das Bild des Juden in den Religionsdialogen von Petrus Abaelardus und Jehuda Halevi

© Dr. Frank Thomas, Bergisch Gladbach, Email: thomas-koeln@t-online.de

Frank Thomas wurde 1934 in Duisburg geboren. Nach einer humanistischen Schulausbildung studierte er Volkswirtschaftslehre. 1957 legte er an der Universität Hamburg seine Prüfung zum Diplom-Volkswirt ab. Vier Jahre später wurde er dort mit einer Dissertation über das Thema "Der wirtschaftspolitische Standort von John Maynard Keynes" zum Doktor der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften promoviert.

Bereits 1959 hatte Frank Thomas eine Tätigkeit bei einem internationalen Unternehmen der Computerindustrie angetreten. Nach verschiedenen Aufgaben in Software-Entwicklung, Systemberatung, Vertrieb, Verwaltung und Finanzwesen sowie einem zeitweiligen Einsatz in den USA wechselte er 1984 als Vorstandsmitglied für Controlling in die Leitung einer großen deutschen Versicherungsgruppe.

Nach seiner Pensionierung 1998 hat Frank Thomas ein Studium der Judaistik (Nebenfach: Mittlere und neue Geschichte) am Martin-Buber-Institut für Judaistik der Universität zu Köln absolviert. 2007 wurde er unter der Betreuung von Prof. Kwasman mit einer Dissertation über das Thema "Das Bild des Juden in den Religionsdialogen von Petrus Abaelardus und Jehuda Halevi - Texte und Kontexte im Vergleich" an der Universität Köln zum Doktor der Philosophie promoviert.

Frank Thomas ist verheiratet und lebt in Bergisch Gladbach.

Auszüge seiner Dissertation hat Herr Thomas dankenswerterweise zur Veröffentlichung innerhalb dieser Seiten zur Verfügung gestellt.


Einführung

Das von F. Thomas in seiner Dissertationsschrift ausführlich und fundiert behandelte Thema lenkt die Aufmerksamkeit ins ausgehende 11., vor allem aber in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts. Geographisch richtet es den Blick auf das damalige Frankreich und Spanien. 

Der Sache nach geht es um zwei große Religionsdialoge des Mittelalters.

Der eine wurde von Peter Abaelard, der andere von Jehuda Halevi geschrieben.

Wie F. Thomas in seiner Dissertationsschrift nachweist, liegt das Besondere an der geistesgeschichtlichen Konstellation, die Halevi mit seinem "Kusari" auf der einen und Abaelard mit seinem "Dialogus" auf der anderen Seite repräsentieren, in einer auffälligen Fülle von Parallelen zwischen den beiden Autoren und ihren Werken:

Das alles könnte die Vermutung nahe legen, die Autoren hätten möglicherweise voneinander und von ihren Werken gewusst: das eine Buch sei vielleicht sogar eine Entgegnung auf das andere. Das war jedoch nicht der Fall. Nach allem, was erforscht ist, haben sie ihren "Kusari" bzw. ihren "Dialogus" ohne gegenseitige Kenntnis von Person und Werk geschrieben, und zwar aus gänzlich unterschiedlichen Perspektiven, die jene vorgenannten Parallelen noch umso ungewöhnlicher erscheinen lassen. 

Die grundlegenden Unterschiede lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Die Vielfalt von Gleichem und Ungleichem zwischen den beiden Religionsdialogen und ihren Autoren verdichtete sich für F. Thomas letztlich zu einer grundlegenden Beobachtung. Sie besteht in der Parallelität von Entstehungsjahren, von inhaltlicher Thematik und von literarischer Form der Werke bei gleichzeitiger Unterschiedlichkeit von Standort und Perspektive ihrer Autoren. Diese Konstellation gab F. Thomas Grund genug, sich beider Religionsdialoge in einem wissenschaftlichen Vergleich anzunehmen. Dass dabei das besondere Interesse der Gestalt des Juden in den beiden Dialogen galt, lag auf der Hand: 

Nach Umfang und Gewicht der jeweiligen Beiträge herrschte die größte Übereinstimmung zwischen den beiden Religionsgesprächen im Hinblick auf die Person dieses Juden, während die Rollen der sonstigen Gesprächsteilnehmer - Christ, Muslim, Philosoph und Richter bzw. König - weit stärker auseinanderfielen. Der Jude war somit gleichsam der größte gemeinsame Nenner zwischen den beiden Dialogen, wenngleich beide Autoren aus sehr verschiedenen Blickwinkeln urteilten. 

Das Bild des Juden wurde weder in Halevis noch in Abaelards Werk in sich geschlossen dargestellt; es leuchtete vielmehr mit den einzelnen Teilen, die es ausmachen, an verschiedenen Stellen der beiden Werke auf. Diese Teile wurden von F. Thomas gesammelt, analysiert, geordnet, zusammengefügt und gedeutet, in der Absicht, das Bild des Juden in den beiden Dialogen besser erkennbar und verständlich zu machen. 

In der Quintessenz der Untersuchung wurde aufgewiesen, wie sich in beiden Werken, bei aller Unterschiedlichkeit der Autoren und ihrer Perspektiven, im Bild des Juden eine gemeinsame Grundidee zeigt: der Gedanke der religiösen Toleranz. Halevi forderte sie für sich und seine Glaubensgenossen, weil er vom Judentum überzeugt war. Abaelard hingegen war vom Judentum nicht überzeugt; aber er vermied es, gegen den Juden zu polemisieren, weil er die Juden und ihre Einstellung zu Gott respektierte. 

Es folgt als Auszug aus der Dissertation von F. Thomas die am Ende der Arbeit stehende Zusammenfassung.

 

Das Bild des Juden in den Religionsdialogen von Petrus Abaelardus und Jehuda Halevi

Texte und Kontexte im Vergleich

von Frank Thomas (Bergisch Gladbach)

Dissertation im Fach Judaistik, im Januar 2007 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen.

[Es folgen die Seiten 357 bis 371 der Dissertationsschrift.]

10. Zusammenfassung 

In den vorangegangenen Abschnitten waren das geschichtliche Umfeld der Religionsdialoge von Petrus Abaelardus und Jehuda Halevi beschrieben und das Bild des Juden, das in den beiden Büchern geschildert wird, im einzelnen untersucht worden. Die wesentlichsten Punkte, die sich dabei ergeben haben, sollen nun zusammengefasst und zu zwölf Aussagen verdichtet werden.

1. Die Werke und ihre Autoren: Parallelität und Unterschiede

Der "Dialogus" von Petrus Abaelardus und der "Kusari" von Jehuda Halevi zeichnen sich durch eine Parallelität von Entstehungsjahren, inhaltlicher Thematik und literarischer Form bei gleichzeitiger Unterschiedlichkeit von Standort und Perspektive ihrer Autoren aus.

Beide Werke sind im Zeitraum zwischen 1125 bis 1140 entstanden. Beide beschäftigen sich mit der Frage nach dem rechten Glauben. Beide wurden vor dem Hintergrund derselben weltgeschichtlichen Ereignisse - insbesondere des ersten Kreuzzugs und der Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam auf der Iberischen Halbinsel - verfasst. Beide benutzten den Dialog als literarische Form.

Trotz dieser Gemeinsamkeiten sind "Dialogus" und "Kusari" unabhängig voneinander geschrieben worden. Sie unterscheiden sich, was das Bild des Juden anbelangt, in wesentlichen Punkten. Abaelard lebte im damaligen Frankreich. Er war Christ und entwarf sein Bild des Juden aus der Perspektive eines Angehörigen der herrschenden Mehrheit. Jehuda Halevi hingegen verbrachte den wesentlichen Teil seiner Jahre im muslimischen Teil der Iberischen Halbinsel. Er war Jude und stellte den Juden damit aus der Blickrichtung eines Mannes dar, der einer unterdrückten Minderheit angehörte.

2. Einordnung, Quellen und Wirkungsgeschichte der beiden Werke

Der "Dialogus" von Petrus Abaelardus und der "Kusari" von Jehuda Halevi gehören zu den großen mittelalterlichen Religionsdialogen. Der "Kusari" hat jedoch eine sehr viel intensivere Rezeption erfahren als der "Dialogus". Die Wirkungsgeschichte beider Werke und ihrer Autoren führt bis in die Neuzeit.

Der "Dialogus" von Petrus Abaelardus und der "Kusari" von Jehuda Halevi gehören neben dem "Libre del gentil e dels tres savis" von Raimundus Lullus und dem "De pace fidei" von Nicolaus Cusanus zu den vier großen mittelalterlichen Religionsdialogen.

Jehuda Halevi hat den "Kusari" ursprünglich in arabischer Sprache geschrieben. Seine Verbreitung war hierdurch zunächst eingeschränkt. Das änderte sich mit der Übersetzung ins Hebräische, die erstmalig schon weniger als drei Jahrzehnte nach Halevis Tod erfolgte und dem Werk eine Aufnahme im Judentum auch außerhalb des islamischen Bereichs erschloss. Von der weiteren Rezeption des "Kusari" zeugen das frühe Entstehen von Kommentaren und die große Zahl erhaltener Handschriften. Kenntnis und Verbreitung des "Kusari" beschleunigten sich mit dem Erscheinen der ersten Druckausgaben im frühen 16. Jahrhundert. Die Verbreitung von Handschriften und Druckausgaben blieb jedoch - von Ausnahmen abgesehen - im wesentlichen auf die jüdische Welt beschränkt. Eine dieser Ausnahmen war der christliche Humanist Johannes Reuchlin, der zeitweilig Eigentümer eines der "Kusari"-Manuskripte war.

Dem gegenüber hat Petrus Abaelardus seinen "Dialogus" auf Latein verfasst, d.h. in der damals gängigen Sprache von Klerus und Gelehrten, von Regierung, Diplomaten und Kanzleifachleuten. Umgekehrt wie anfangs bei Halevi stand einer weiten Verbreitung in der interessierten Welt seiner Epoche keine sprachliche Barriere entgegen. Bei Abaelardus war es vielmehr der Inhalt des "Dialogus", der - wie auch andere seiner Werke - einen Häresieverdacht auslöste und dazu führte, daß das Buch schon sehr früh der Kritik ausgesetzt war und für längere Zeit in Vergessenheit geriet. Dies spiegelt sich in der weitaus geringeren Zahl überkommener "Dialogus"- als "Kusari"-Manuskripte wider. Die erste Druckausgabe des "Dialogus" erschien erst 1831, d.h. rund 300 Jahre später als die erste Druckausgabe des "Kusari".

Inzwischen haben sowohl der "Dialogus" als auch der "Kusari" eine intensive Aufmerksamkeit in der Wissenschaft unabhängig von der Glaubensorientierung ihrer Vertreter gefunden. Von beiden Werken sind bis in die Gegenwart zahlreiche Druckausgaben und Übersetzungen in verschiedene Sprachen erschienen. Jedoch haben Abaelard und Halevi auch in der schöngeistigen und religiösen Literatur ihre Spuren hinterlassen. Das gilt hinsichtlich Abaelard insbesondere für sein Leben, das von der tragischen Liebesbeziehung zu Heloïse geprägt war, für Halevi jedoch vor allem für sein Werk, das ein Echo bei Herder und Heine fand und noch im Jahre 1934 zum Modell für einen Religionsdialog wurde. der sich für die jüdische Religion und gegen den Nationalsozialismus einsetzte.

3. Der Dialog als literarische Form bei Abaelard und Halevi

Mit der Wahl des Dialogs entwickelten Petrus Abaelardus und Jehuda Halevi ihr Bild des Juden im Rahmen einer literarischen Form, die auch damals schon eine jahrhundertealte Tradition aufwies. Die Vorteile dieser Literaturgattung wurden jedoch von Jehuda Halevi mit größerer Intensität als von Petrus Abaelardus genutzt.

Der Dialog als literarische Form reicht im Judentum in die Bibel (Buch Hiob, Hohes Lied), in der abendländischen Geschichte bis in die Zeit von Sokrates und Plato zurück. Gegenüber der systematischen Behandlung eines Stoffs hat der Dialog den Vorteil der größeren Lebendigkeit und Anschaulichkeit. Dies bestätigt sich sowohl im "Dialogus"' als auch im "Kusari". Beide Werke folgen dabei nicht dem sokratisch-platonischen Modell der Mäeutik, bei dem der "Lehrer" den "Schüler" durch geschicktes Fragen dahin bringt, die Antworten weitgehend selbst zu entwickeln. Bei Petrus Abaelardus lässt sich ein "Lehrer-Schüler-Modell" nicht erkennen. Vielmehr erklären Philosoph, Christ und Jude mit umfangreichen Stellungnahmen ihren jeweiligen Standpunkt. Im "Kusari" hingegen fällt dem König die Rolle des "Schülers" zu; er befragt - in Umkehrung des Mäeutik-Musters - den Juden, der ausführliche Erläuterungen abgibt. Dabei kommen bei Halevi die Lebendigkeit und Anschaulichkeit eines Dialogs stärker zur Geltung als bei Petrus Abaelardus. Dies erreicht Halevi durch die - im Vergleich zwischen "Kusari" und "Dialogus" - größere Zahl der Gesprächsbeiträge des Juden, die höhere Frequenz in der Sprecherabfolge und dem häufigeren Wechsel zwischen Rahmenhandlung und eigentlichem Dialog.

4. Die Quellen des Judenbilds

Um ihr jeweiliges Bild des Juden zu zeichnen, benutzten sowohl Petrus Abaelardus als auch Halevi nicht nur den eigentlichen Inhalt des Dialogs, sondern auch seine Rahmenhandlung und seine formale Struktur. Dies ist bei Halevi deutlicher ausgeprägt als bei Abaelardus.

Im Gegensatz zu Halevis "Kusari" ist die Rahmenhandlung in Abaelards "Dialogus" wenig spektakulär. Abaelard berichtet von einem Traum, in dem ihm ein Philosoph, ein Jude und ein Christ erscheinen. Abaelard erzählt zunächst von der Eröffnung des Gesprächs zwischen diesen drei Personen und ihm selbst, dem Richter, und leitet dann zum eigentlichen Dialog über. Dabei verlässt Abaelard nie mehr die Ebene des Traums. 

Abaelard nutzt die formale Struktur des Dialogs zwischen den Gesprächsteilnehmern nicht dazu, den Juden zu diffamieren - im Gegenteil: entgegen dem Strom seiner Zeit tritt der Jude als gleichberechtigter Partner im Dialog auf. Diese Haltung bekräftigt Abaelard in der Rahmenhandlung. Dort wird ausdrücklich gesagt, der Dialog solle unter "Gleichen" stattfinden.

Halevi knüpft mit seiner Rahmenhandlung an ein Vorkommnis an, dessen Geschichtlichkeit inzwischen außer Zweifel steht: die Konversion der Chazaren zum Judentum. Dies war ein Ereignis, das bei Halevi, seinen jüdischen Zeitgenossen und ihren Vorgängern - allen voran Chasdaj ibn Schaprut - einen tiefen Eindruck hinterlassen haben muss; denn mit den Chazaren beschrieb Halevi neben den großen Mächten von Christentum und Islam eine dritte Kraft, die nach Annahme des jüdischen Glaubens erstmalig seit dem Untergang des zweiten Tempels als Staatswesen zu politischem Ansehen, wirtschaftlichem Wohlstand und militärischem Erfolg gelangt war.

Durch das Anknüpfen an ein historisches Ereignis verlieh Halevi dem Bild des Juden, das er in seinem Dialog zeichnet, Glaubwürdigkeit und machte es zur Quelle von Ermutigung und neuer Hoffnung für seine jüdischen Glaubensgenossen, deren Leben immer wieder von Entrechtung und Verfolgung geprägt war.

Diese Dramaturgie seiner Rahmenhandlung verstärkte Halevi durch die formale Anlage seines Gesprächs. Ein ratsuchender König findet nach seiner anfänglichen Absicht, einen Juden überhaupt nicht anzuhören, dann gerade dort die ihn überzeugende Glaubensbotschaft. Der Jude, ein Vertreter der sozial entrechteten Minderheit, wird zum Lehrer des Königs, eines Mannes also, der in der Sozialordnung am anderen, oberen Ende steht. In Halevis "Kusari" tritt der Mächtigste/Angesehenste ins Gespräch mit dem Schwächsten/Verachtetsten und ruft nach seiner Bekehrung jüdische Gelehrte aus dem Ausland ins eigene Land. Halevi zeichnet in der Rahmenhandlung seines Buchs den Juden als einen Menschen, dem der König aufgeschlossen gegenüber steht, den er toleriert und an dem er interessiert ist.

5. Stabilität und Wandel im Bild des Juden

Die wesentlichen Elemente, die bei Petrus Abaelardus und Jehuda Halevi das Bild des Juden ausmachen, finden sich vor allem im Inhalt der jeweiligen Dialoge. Bei Halevi ist das Bild des Juden innerhalb des "Kusari" nicht stabil. Es entwickelt sich unter dem Einfluss der Unterschiede zwischen dem frühen und dem späteren Denken Halevis. Eine entsprechende Entwicklung des Judenbilds ist bei Abaelard nicht zu beobachten. Sein Judenbild unterliegt innerhalb des "Dialogus" keinem Wandel.

Bei Abaelard mag der Jude im Verlauf des Dialogs mit wechselndem Temperament argumentieren. Eine prinzipielle Änderung in der Art, wie er in den verschiedenen Teilen des "Dialogus" beschrieben wird, ist jedoch bei Abaelard nicht zu beobachten. Abaelard glaubt an die Offenbarung als Quelle religiöser Erkenntnis. Jedoch ist für ihn auch die verstandesmäßige Auseinandersetzung mit Gott ein wesentliches Element seiner Lehre. Für Abaelard ist es gesicherte Überzeugung, daß es möglich sein müsse, mit Vernunft über Religion zu sprechen.

Im "Kusari" von Jehuda Halevi hingegen zeigt sich, wie sich Halevis Denken von einer frühen zu einer späteren Phase entwickelt hat. Das strahlt auch auf sein Bild des Juden aus. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis zwischen philosophischem Nachdenken und religiöser Offenbarung als Mittel zur Annäherung an Gott.

In seinem frühen Denken war Halevi davon ausgegangen, Gott zeige sich dem Juden durch die Offenbarung. Jedoch ließ Halevi in dieser Phase auch das philosophische Nachdenken als ein Mittel der Annäherung an Gott zu. Beim späteren Halevi rückte das philosophische Denken als Weg zur Gotteserkenntnis gegenüber der Offenbarung ganz in den Hintergrund. Nur die Offenbarung war noch von religiöser Bedeutung für den Juden.

6. Hierarchie und Gleichrangigkeit im Bild des Juden

Das Bild des Juden wird in Halevis "Kusari" von der Idee einer hierarchisch geordneten Welt geprägt. In Abaelards Beschreibung des Juden kommt eine solche Vorstellung nicht zum Ausdruck: Im Gegenteil - er erkennt im "Dialogus" zwar die wirtschaftliche und gesellschaftliche Benachteiligung der Juden an, sieht sie aber im Grundsatz als gleichrangige Partner.

Halevis "Kusari" durchzieht der Gedanke, die Welt sei nach Gottes Willen in Hierarchien geordnet. Unter den Ländern steht Palästina gleich unterhalb vom Paradies und damit ganz an der Spitze; unter den Völkern hat Gott das Volk Israel als sein Volk auserwählt und ihm damit den ersten Platz zugewiesen; in seinen geistigen und seelischen Gaben, in seinem Wesen und seinen Werten ist der Jude der vorzüglichste unter den Menschen. Dies alles ist eine idealisierte Sichtweise, die bei Halevi seiner religiösen Überzeugung entspringt, aber nicht zuletzt auch deutlich unter dem Einfluss der antiken und mittelalterlichen Klimalehre steht. 

Abaelard steht den Glaubens- und Lebensformen der Juden skeptisch gegenüber. Was ihre soziale und wirtschaftliche Situation anbelangt, erkennt er die Benachteiligung der Juden gegenüber ihren christlichen Zeitgenossen an und hat Verständnis für sie. Sein Bild des Juden ist nicht idealisiert, sondern nimmt Maß am Umfeld seiner Zeit; es ist in diesem Sinne realistisch. Trotz der Besonderheiten in Religionsausübung, Lebensform und Lebensumständen sieht Abaelard aber die Juden nach ihrer grundsätzlichen Natur hierarchisch nicht auf einer anderen Ebene als Christen und Muslime. Die Juden mögen Gott auf ihre Weise verehren. Jedoch sind sie mit Christen und Muslimen gleich, indem sie an denselben Gott glauben. Die Juden sind Menschen, die im "Dialogus" mit Christ und Philosoph ein "gemeinsames Vorhaben" verfolgen: die Klärung der Frage nach dem rechten Weg zu Gott; sie werden vom Philosophen als Ratgeber auf dem Gebiet der Religion anerkannt; sie bezeichnen den Christen als ihren "Bruder" und diskutieren mit ihren Gesprächspartnern im Dialog "von gleich zu gleich". 

7. "" als biologische Besonderheit der Juden bei Halevi

Halevis Idee einer hierarchischen Staffelung kulminiert in seiner Lehre von "
" und ist ohne Parallele bei Abaelard.

["ha-injan ha-elohi"; in etwa "göttliche Angelegenheit, göttlicher Einfluß"; red. Anmerkung]

"" ist einerseits eine spirituelle Eigenschaft Gottes: sein Interesse am Menschen, das auch für Abaelard selbstverständlich ist. Andererseits aber ist "" für Halevi eine biologische Eigenschaft des Menschen, die Gott allerdings nur den Juden verliehen hat. Mit einem solchen Gedanken hat sich Abaelard nicht auseinandergesetzt - weder im Hinblick auf die Christen noch auf die Muslime noch auf die Juden.

"" ist bei Halevi eine genetische Disposition, die sich unter den Juden vererbt und sie befähigt, jenem von Gott ausgehenden Interesse durch ihre Zuwendung zu Gott zu entsprechen. Diese Zuwendung kommt am stärksten an besonderen Orten - in Palästina - und zu besonderen Zeiten - im Gebet - zum Ausdruck. Den Propheten verleiht sie ein inneres Auge, mit dem sie Gott schauen können. Obwohl Halevi sich in seinem späteren Denken von der klassisch-griechischen Philosophie abgewandt hatte, blieb die Emanationslehre Erklärungsgrundlage für die Wirkungsweise von "".

In den vergangenen Jahrzehnten wurde Halevis biologisches Verständnis vom "" der Juden zum Auslöser einer Diskussion, ob seine Lehre hier möglicherweise rassistische Züge trägt. Einer derartigen Sichtweise ist nicht zu folgen. Religiös hätte sie nicht in jüdische Vorstellungen gepasst, wie sie Halevi teilte, und die vom Erscheinen eines Messias ausgehen, der aus dem Hause Davids stammt, eines Geschlechts also, dessen Ahnfrau die Konvertitin Ruth ist. Aber auch bei Anlegung eines historisch-politischen Maßstabes fehlt bei Halevi jeglicher Gedanke an eine Diskriminierung von nicht mit "" ausgestatteten Menschen. Ein solcher Gedanke aber wäre für den Begriff des Rassismus konstitutiv gewesen.

8. Absicht und Handlung

Bei Halevis Gestalt des Juden ist unter ethischen Gesichtspunkten - zumindest in Halevis späterem Denken - die Handlung gegenüber der bloßen Absicht ausschlaggebend. Abaelard hingegen gibt der Absicht das größere Gewicht.

Sowohl Abaelard wie auch Halevi haben sich damit auseinandergesetzt, worauf es unter dem Gesichtspunkt von Sünde oder Gottes Wohlgefallen mehr ankomme: auf Absicht und Gesinnung oder auf die vollzogene Handlung. Abaelard betrachtete die "intentio" als das gegenüber der "actio" Wichtigere. Das führte ihn zu einem Begriff der Sünde, der die Juden von dem in Abaelards Zeit gängigen Vorwurf des Christusmords freisprach.

Halevi beschreibt in seinem "Kusari" keine ausgebaute Sündenlehre. Von einem anfänglichen Nebeneinander aristotelischer Philosophie und jüdischer Religion entwickelte es sich fort zu einem Denken, das sich mehr und mehr von der Vorstellung entfernte, man könne sich Gott mit den Mitteln des Verstandes nähern, und ganz überwiegend vom Glauben an Offenbarung und Torah geprägt war. Aus der Torah ergab sich für Halevi, daß es nicht nur auf die Art der Absicht ankommen könne. sondern daß sich der guten Absicht auch die Tat anschließen müsse. Dem folgte Halevi in seinem persönlichen Verhalten: gegen Ende seines Lebens reiste er nach Palästina, jenem Land, wo allein der Jude nach Halevis "Kusari" vollkommene religiöse Erfüllung zu finden vermag und wo Halevi starb.

9. Vergleiche und das Bild des Juden

Sowohl Petrus Abaelardus als auch Jehuda Halevi setzen das literarische Werkzeug des Vergleichs ein, um ihrem Bild des Juden zusätzliche Farbe zu verleihen. Dies geschieht bei Halevi weitaus intensiver als bei Abaelard. In keinem der wenigen Fälle, wo sich Abaelard auf einen Vergleich stützt, kommt darin eine Herabwürdigung der Juden zum Ausdruck. Bei Halevi wird durch die Art der Vergleiche seine idealisierte Vorstellung vom Juden erneut erkennbar.

Abaelard vergleicht in seinem "Dialogus" den Juden einmal mit einem Sklaven, ein anderes Mal mit einem Weinberg. Abaelard benutzt das Bild des Sklaven, um an Hand der Geschichte, die er darum rankt, die Überzeugungskraft der Offenbarung auch für diejenigen zu belegen, die sie nicht persönlich erlebt haben. Mit der Bezugnahme auf einen Weinberg greift Abaelard auf ein gängiges Thema der christlichen Symbolik zurück: der Jude stützt sich im "Dialogus" darauf, um seinen Gesprächspartnern die Beschneidung zu erklären.

Eben dieses selben Bilds vom Weinberg bedient sich auch Halevi, und zwar mit identischer Zielsetzung, d.h. zur Erläuterung der Beschneidung. Daneben zieht er Beispiele wie Baum, Herz, Körper und Samenkorn zum Vergleich mit dem Juden heran. Welches dieser Bilder auch immer Halevi ausmalt, stets führt es hin zu einer gleichbleibenden Aussage: daß nämlich in den Juden als Volk, wie misslich auch immer ihre aktuellen Lebensumstände sein mögen, Kräfte ruhen, drohende existentielle Gefahren zu erkennen und große Bedeutung zu erlangen.

10. Die Freiheit des Juden

Sowohl bei Halevi wie auch bei Abaelardus versteht sich der Jude als freier Mensch.

Wenn sich Abaelard und Halevi mit der Frage der Freiheit des Juden auseinandersetzen, stellen sie dem Ideal der Freiheit insbesondere die Bindung durch die Torah gegenüber. In Abaelards "Dialogus" entfaltet sich hierzu eine Diskussion zwischen Philosoph und Jude, in der durch die Äußerungen des Philosophen die ganze Skepsis Abaelards an der Freiheit des Juden zum Ausdruck kommt: der Jude lebt unter dem Joch des Gesetzes.

Abaelard hat jedoch seinen "Dialogus" so gestaltet, daß dann, wenn nicht der Philosoph spricht, sondern der Jude selbst sich zur Frage seiner Freiheit äußert, ein ganz anderes Bild entsteht: der Jude fühlt sich frei, weil er das Gesetz aus Liebe zu Gott erfüllt.

Eine ähnliche Auseinandersetzung entwickelt sich bei Halevi. Auch bei ihm geht es um die Frage, was die Erfüllung des Gesetzes für die Juden bedeutet. Halevi bringt im "Kusari" klar zum Ausdruck, daß alles Leid und alle Verfolgung, denen die Juden auf Erden ausgesetzt sind, letztlich in einem Zusammenhang mit der Erfüllung der Torah stehen. Würden sie ihr abschwören, könnten sie ein leichteres Leben führen. Dennoch vollziehen sie diesen Schritt nicht; der Dienst an Gott ist ihnen die wahre Freiheit.

11. Optimismus und Skepsis, Ideal, Wirklichkeit und Vision im Bild des Juden

Das Bild des Juden ist bei Halevi von Optimismus, bei Abaelard von Skepsis geprägt.

Die Tatsache, daß Abaelard ein mehr an den realen Bedingungen seines geschichtlichen Umfelds ausgerichtetes, Halevi aber ein stark idealisiertes Bild des Juden zeichnet, hat zur Folge, daß - anders als Abaelard - Halevi in einen Zwiespalt gerät: er muß in seiner Gedankenführung die Kluft zwischen diesem idealisierten Bild der Juden und ihren mißlichen tatsächlichen Lebensumständen überbrücken; dazu bedient er sich einer Vision.

Halevi und Abaelard sind sich darin einig, daß die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation der Juden beklagenswert ist, daß sie verachtet werden, in Gefahr leben und entrechtet sind.

Dennoch bleibt das Bild des Juden, wie Halevi es zeichnet, optimistisch. Denn in allem, im Guten wie im Schlechten, sieht der Jude nach Halevi das Wirken und den Segen Gottes, dem er durch die Erfüllung der Torah mit Freuden dient.

In Abaelards Schilderung seines Judenbilds hingegen mischen sich starke Elemente der Skepsis. Abaelard respektiert die Juden in ihrem - aus seiner Perspektive - andersartigen Glauben. Er entfaltet Verständnis für die Misslichkeit ihrer Lebensumstände. Dennoch tauchen immer wieder, und zwar nicht nur durch den Mund von Abaelards Philosophen, sondern auch durch den Juden selbst, Kritik an jüdischen Sichtweisen und Zweifel an Grundelementen jüdischen Glaubens auf - bis hin zu einer Infragestellung der Torah als Offenbarung und freudig erfüllter religiöser Pflicht. In diesem Sinne ist, abweichend von Halevi, Abaelards Bild des Juden eher pessimistisch.

Bei der Entwicklung seiner Vision greift Halevi auf das Beispiel des Samenkorns zurück. Es gleicht dem Judentum und wird aufgehen. Der jüdische Glaube wird immer weiter um sich greifen, und alle Religionen werden sich schließlich in ihm vereinigen. Damit fügt Halevi seinem Bild des Juden ein weiteres Element hinzu: der Jude wird zum Mittler in einem großen historischen Prozess, in dem Judentum, Christentum und Islam letztlich zusammen wachsen.

Diese Vorstellung hatte für Halevi jedoch neben der spirituellen auch eine ganz konkrete politische Seite. Das belegt die Rahmenhandlung seines "Kusari". Die Konversion der Chazaren zum Judentum hatte ihnen wirtschaftlichen Erfolg, militärische Macht und politische Stärke gebracht. Die Idee einer dritten politischen - jüdischen - Kraft neben Islam und christlichen Reichen war für Halevi eine faszinierende Vision.

Abaelard hingegen hat in seinem "Dialogus" keine Vision einer besseren künftigen Welt der Juden entwickelt. Sein Bild des Juden war geprägt von Abaelards eigener Rolle als Angehörigem der dominierenden christlichen Mehrheit in seinem Land und der Rolle des Juden als Angehörigem einer ausgegrenzten Minderheit. In diesem Gefüge war bei Abaelard nicht Platz für eine Vision - und zumal nicht für eine optimistische Projektion seines Bilds des Juden in die Zukunft.

So zeigt sich in der Summe, daß die Besonderheiten von Umfeld und Perspektive, aus denen heraus Abaelard und Halevi ihre Dialoge geschrieben haben, zu ganz unterschiedlichen Bildern des Juden führen, den sie in diesen Dialogen auftreten lassen. Gegenüber dem eher nüchternen, realitätsbezogenen und skepsisbehafteten Juden, wie ihn Petrus Abaelardus in seinem "Dialogus" zeichnet, entwirft Halevi in seinem "Kusari" ein Judenbild, das durch seine Einbettung in eine hierarchisch konzipierte Weltsicht, durch seinen Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit, durch die Dynamik in der Entwicklung von Halevis Denken, aber auch durch die - im Vergleich zu Abaelard - intensivere Nutzung der literarischen Möglichkeiten des Dialogs wie auch durch die Geschichtlichkeit seiner Rahmenhandlung weitaus überhöhter, aber auch lebendiger und facettenreicher wirkt.

Alle vorgenannten elf Punkte münden jedoch in eine zwölfte, abschließende und zentrale Aussage ein.

Halevi hat mit seinem "Kusari" ein Buch geschrieben, das den jüdischen Glauben verteidigt, Halevi ist Jude und damit Vertreter einer unterdrückten Minderheit in seinem Land. Er hält den jüdischen Glauben gegenüber Christentum und Islam für die überlegene Religion. Für das Judentum fordert er Toleranz, wird aber gegenüber Christentum und Islam an keiner Stelle polemisch.

Abaelardus hingegen ist Christ und damit Angehöriger der herrschenden Mehrheit. Im Gegensatz zu Halevi gibt es in seinem "Dialogus" kein Urteil über den rechten Glauben. Aber so, wie es in Halevis "Kusari" keine Polemik gegenüber Christentum und Islam gibt, fehlt auch in Abaelards "Dialogus" jede Polemik - mit dem Islam setzt er sich nicht im einzelnen auseinander - gegenüber dem Judentum. Abaelard steht dem jüdischen Glauben skeptisch gegenüber, aber er respektiert ihn und die Menschen, die ihm anhängen. Mit dem Bild, das er zeichnet, nähert er sich dem Juden also auf ganz andere Weise, als dies bei Halevi der Fall ist. Und doch ist er ihm in einem grundsätzlichen Gedanken gleich: im Gedanken der Toleranz.

Mögen somit die Bilder des Juden, die Abaelard und Halevi entwickelten, und deren Kontexte im einzelnen noch so unterschiedlich sein, so bedeuten sie letztlich doch dasselbe. Menschenbilder - und damit auch das Bild des Juden, wie immer es aussehen und wer immer es vertreten mag - beeinflussen politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse. Abaelard und Halevi haben ihr jeweiliges Bild des Juden vor rund 870 Jahren gezeichnet. Sie zeigen, wie tief in der Vergangenheit jene Triebkräfte wurzeln, die heute die Welt in Atem halten; aber sie zeigen auch, daß es damals schon gewichtige Stimmen gab, die sich für Toleranz einsetzten.

Was dies für das Verhältnis der verschiedenen Glaubensrichtungen und politischen Systeme zueinander in der Zukunft bedeutet, ist offen. Die Aussichten mögen nach einer so langen Geschichte von Gewalt und Diskriminierung eher düster sein. Und trotzdem darf das Bemühen um Toleranz nicht erlahmen. Denn: Es muss möglich sein, mit Vernunft über Religion zu sprechen. Diesen Gedanken lehrt Abaelard. Der guten Absicht aber muss die Tat folgen; sonst gibt es keine Hoffnung. Das lehrt Halevi.

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