Epistolae Duorum Amantium - authentische Liebesbriefe Heloïsas und Abaelards?

© Werner Robl, April 2000

mit einem Nachtrag am Ende, bezüglich der wissenschaftlichen Diskussion der Titelfrage (bis 2005)

Einleitung

 

E. Könsgen editierte vor mehr als 25 Jahren, im Jahre 1974, aus einem Manuskript der Bibliothèque Municipale Troyes die Schrift des Johannes de Vepria: Ex Epistolis Duorum Amantium als Dissertationsarbeit. Es handelte sich um Excerpte eines anonymen Liebesbriefwechsels aus dem 12. Jahrhundert. Eine mögliche Urheberschaft Heloïsas und Abaelards war von ihm in den Raum gestellt, allerdings nur mit Zurückhaltung und in aller gebotenen Vorsicht diskutiert worden. Dazu hatte er triftige Gründe: Erstens konnte diese Autorenschaft aufgrund des Fehlens von biographischen Angaben von vorn herein nicht stringent genug bewiesen werden. Zweitens hatte Könsgen wohl auch die nötige Zeit gefehlt, dieser Autorenhypothese weiter auf den Grund zu geben - es handelte sich ja um eine zeitlich terminierte Dissertationsarbeit. Drittens war in den siebziger Jahren die internationale wissenschaftliche Debatte um die Authentizität des anderen, berühmteren Briefwechsels des Paares voll entbrannt. So relativierte Könsgen letztendlich selbst die Urheberhypothese. Er verwies auf ähnliche Liebesbriefe aus Regensburg, die von Dronke editiert worden waren, sowie auf weitere Briefe Marbods von Rennes, Balderichs von Bourgeuil und Hilarius' von Angers, in denen Frauen, die Männer literarisch in den Schatten stellten, als topische Elemente geschildert wurden. Könsgen fand allerdings auch nichts, was eine Urheberschaft Abaelards und Heloïsas sicher ausgeschlossen hätte. So ließ er denn die Frage der Urheberschaft offen.

P. von Moos erwähnte Könsgens Arbeit in seinem kritischen Review der Abaelard-Forschung von 1974, hatte allerdings zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Untersuchung (1972) noch keinen Einblick in die Arbeit gehabt (siehe Peter von Moos, Mittelalterforschung und Ideologiekritik, München 1974, 130f). In einem Artikel des Mittellateinischen Jahrbuchs von 1976 (Peter von Moos, Die Bekehrung Heloisas, MLJ 11, 1976, 120) hielt dann Peter von Moos die Ansicht, die Epistolae seien authentische Briefe Heloïsas und Abaelards, für abwegig. Ähnlich äußerte sich P. Dronke. Er behandelte kurz die Arbeit (z.B. Abelard and Heloïsa in Medieval Testimonies, Glasgow 1976), vertrat aber die Hypothese, dass sich die Charakteristika eines derartigen Briefwechsels auch anderen frühmittelalterlichen Liebesbriefen zuordnen lasse, und dass deshalb ein Rückschluss auf Abaelard und Heloïsa nicht statthaft sei. Die Stellungnahmen Dronkes und von Moos' beruhten allerdings nur auf einer jeweils kurzen Revision der Briefe; um eine weitergehende Begründung ihrer Ansicht haben sie sich bis dato nicht bemüht. Immerhin beschrieb Dronke in seinem Quellenvergleich das notwendige wissenschaftliche Untersuchungsprogramm, das zur Klärung der Authentizität zu vollziehen sei. Bis dahin sollten jedoch nochmals fast 25 Jahre vergehen.

Zunächst wurde in den folgenden Jahren der Diskussion um Abaelard und Heloïsa Könsgens Arbeit nur am Rande diskutiert: 1988 und 1996 erschienen Übersetzungen des Briefdialogs ins Französische und Italienische, ohne dass Könsgens Argumentation in irgendeiner Weise erweitert worden wäre. Die Frage der Urheberschaft wurde von den Autoren nicht weiter verfolgt: Graziella Ballanti, Un Epistolario d'Amore del XII secolo - Abelardo e Eloisa?, Rom 1988; È. Wolff, La lettre d'amour au moyen âge, Paris 1996. Beiläufig wurden die Briefe erwähnt von J. Verger (L'amour castré, l'Histoire d'Heloïse et Abélard, Paris, 1996) und von A. Podlech (Abaelard und Heloïsa oder Die Theologie der Liebe, München 1990). In einigen anderen Veröffentlichungen jüngerer Zeit, z.T. von M. Clanchy und J. Marenbon, wurde die Arbeit Könsgens übergangen. Könsgen sorgte seinerseits nicht für eine spätere Bekanntmachung seiner wichtigen Arbeit, obwohl die Bedeutung Abaelards und Heloïsas und ihre Liebesliteratur für die europäische Geistesgeschichte in den letzten Jahren zunehmend untermauert wurde.

In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre fand dann die Arbeit in der angloamerikanischen Mediävistik wieder Beachtung: Fast zeitgleich erschienen Werke von Jaeger: Ennobling Love - In Search of a lost Sensibility, Philadelphia 1999 und  von C. Mews, einem der  namhaften Abaelard-Forscher unserer Tage: The Lost Love Letters of Heloïsa and Abaelard, New York, 1999. Beide Autoren kamen aufgrund bestimmter Analogien und vergleichender Literaturbetrachtung zu dem Schluss, dass an der Autorenschaft Abaelards und Heloïsas nicht zu zweifeln sei. Deshalb müsse die Beziehung des Paares neu beschrieben werden. Mittlerweile erschienen weitere Arbeiten von C. Mews und J. Ward, die die entsprechende Urheberschaft als gegeben voraussetzen. Hier nochmals die aufgeführten Titel im Einzelnen:

Haben Heloïsa und Abaelard die Epistolae Duorum Amantium wirklich geschrieben?

Diese Frage ist Gegenstand der folgenden Untersuchung. Schon beim bekannteren Briefwechsel des Paares hatte es eine oftmals ideologisch gefärbte Authentizitätsdebatte gegeben, welche vor allem in diesem Jahrhundert bis in die achtziger Jahre hinein erbittert geführt wurde. Bis heute steht fest, dass keine der Schriften Heloïsas und Abaelards im persönlich verfassten Manuskript oder wenigstens in einer zeitgenössischen Fassung überliefert sind. Es steht jedoch ebenso fest, dass die weitere Forschung die historischen Personen Heloïsa und Abaelard wenigstens in Teilaspekten beschreiben, bzw. bestätigten konnte. Die zum Teil Bände füllenden Abhandlungen für und wider eine Autorenschaft des Paares wurden bereits von P. von Moos in seiner wissenschaftskritischen Schrift Mittelalter und Ideologiekritik (München 1974) und - in der jüngsten Entwicklung - von J. Marenbon beschrieben und kritisch hinterfragt: Authenticity Revisited, New York 2000.

Die meisten der bisher vorgebrachten Argumente für und wider die Echtheit des früheren Briefwechsels wurden bei der vorliegenden Untersuchung bewusst nicht berücksichtigt. Denn zur Überprüfung der Urheberschaft der Epistolae Duorum Amantium muss die Echtheit des bekannten Briefwechsels Heloïsas und Abaelards sozusagen als conditio sine qua non vorausgesetzt werden - auch wenn sie letztlich nicht gesichert ist.

Um zu einer möglichst vorurteilfreien Sicht der Dinge zu kommen, wurden fast ausnahmslos zeitgenössische Quellen zur Argumentation herangezogen. Die Schilderung des soziokulturellen Hintergrundes und die literaturgeschichtliche Einordnung, die einen großen Teil der zuletzt erschienenen Werke ausmachen, wurden bewusst außer Acht gelassen. Derartige Ausführungen, bzw. eine literaturgeschichtliche Einordnung, müssen der Fachwissenschaft vorbehalten bleiben.  Ehe also nicht anderweitig das Datierungsproblem gelöst ist und die Urheberschaft Heloïsas und Abaelards im Raum steht, wollen wir uns auf einen bloßen Vergleich der genuinen Stimmen verlegen. Unabhängig davon sei dem Leser empfohlen, die Originaltexte der zu vergleichenden Primärquellen vorweg zu lesen. Zur Vermeidung nomenklatorischer Verwechslungen werden im Weiteren folgende Ankürzungen verwendet. Auf ein Literaturverzeichnis wurde verzichtet.

Am Ende der Gegenüberstellung von Parallelitäten und Widersprüchen mögen die Leser selbst über die Authentizitätsfrage entscheiden - unabhängig von den Rückschlüssen dieser Arbeit. Es wäre schon genug erreicht, wenn das kritische Auge des Lesers an Schärfe gewonnen hätte.

 

Parallelen zwischen den Briefcorpora

 

>>>> Parallelen und Analogien, die bei der Erstellung dieser Arbeit auffielen, in den oben erwähnten Publikationen jedoch keine Berücksichtigung gefunden hatten, sind durch Kursivschrift kenntlich gemacht.

In der Tat drängt sich der Gedanke einer Urheberschaft Heloïsas und Abaelards auf, weil sehr viele Eigenschaften von Mulier und Vir - das sind die namentlich ungenannten Briefpartner aus den Epistolae, im folgenden mit M. und V. abgekürzt - auf Heloïsa und Abaelard zutreffen. Das folgende Kapitel stellt diese Übereinstimmungen, die sich zum großen Teil auch in oben genannten Arbeiten an verschiedenen Stellen wiederfinden, in einer (sicher nicht vollständigen) Auswahl vor.

 

Parallelen in der Lebenssituation

 

Parallelen in den Einstellungen und Gedanken

 

Parallelen in Stil und Sprachgebrauch

 

Von den bildhaften Ausdrücken sei hier nur ein kleine Auswahl angeführt:

Ist Parallelität gleich Identität?

 

Dass aus den aufgeführten Parallelen trotz ihrer Zahl und Bedeutung keine voreiligen Schlüsse gezogen werden dürfen, soll an einigen Beispielen demonstriert werden:

 

Die Lebenssituation

 

Abaelard wirkte zu Beginn des 12. Jahrhunderts in den wissenschaftlichen Schulen des aufstrebenden Paris. Er war keineswegs der einzige namhafte Lehrer. In seinen Schriften weist er immer wieder auf einen hohen Konkurrenzdruck hin:

perveni tandem Parisius, ubi iam maxime disciplina hec florere consueverat, ad Guillhelmum scilicet Campellensem preceptorem meum in hoc tunc magisterio re et fama precipuum - schließlich bin ich nach Paris gelangt, wo diese Lehre schon am meisten zu blühen pflegte, nämlich zu meinem Lehrer Wilhelm von Champeaux, damals berühmt als Dozent, sowohl was den Sachverhalt als auch den Ruf anbetraf (Abaelard, Hist. Cal.)

qui inter conscolares nostros - derjenige unter unseren Schulteilnehmern (Abaelard, Hist. Cal.)

ipse qui in scolis Parisiace sedis magistro successerat nostro locum mihi suum offerret - selbst der, der in den Schulen von Paris dem Schulleiter nachgefolgt war, bot mir jetzt seinen Posten an (Abaelard, Hist. Cal.)

clerici sive scolares huc certatim ad disciplinam tuam confluentes - die Kleriker und Studenten strömten eifrig hierher zu Deinem Unterricht (Heloïsa, Brief II)

Wir halten fest: Im wissenschaftsorientierten Paris der damaligen Zeit gab es eine ganze Reihe von namhaften Lehrern und Meistern. Wenn einer dieser Lehrer ein Verhältnis mit einer Schülerin gehabt hat, so dürfte es kaum anders ausgefallen sein, als oben geschildert. Die meisten der oben angeführten Analogien betreffen somit Stellung und Verhalten eines Lehrers, der ein Verhältnis mit einer Schülerin hat, schlechthin. Selbst heute, nach über 800 Jahren, dürfte sich eine heimliche Liebesbeziehung kaum anders abspielen.

Der Lehrbetrieb lief allerdings damals ganz anders als heute ab. Alle Lehrer und Lehren hatten eine große Öffentlichkeitswirkung. Viele der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen wurden auf der Straße oder auf öffentlichen Plätzen ausgetragen:

crebriores disputationis assultus - die häufigen Angriffe der Disputation (Abaelard, Hist. Cal.)

inter cetera disputationum nostrarum conamina - unter allen anderen Anstrengungen unserer Disputationen (Abaelard, Hist. Cal.)

Diese öffentlichen disputationes vermochten wohl den Ruhm eines Lehrers zu begründen, erbrachten jedoch meist kein unmittelbares Einkommen. Dieses wurde eher in Einzel- oder Gruppenunterricht, in den scolae, erworben. Ein Hauslehrer wie Abaelard dürfte in aristokratischen Kreisen nichts Ungewöhnliches gewesen sein. Durch derartige Aktivitäten konnte Abaelard auch seine Verbindungen mit einflussreichen Leuten wie Stefan von Garlande (siehe Bautier) knüpfen. Jeder Meister, der an der renommierten Domschule von Paris lehrte, gehörte standeshalber dem Klerus an. Diese Stellung verpflichtete zur vorehelichen Enthaltsamkeit (siehe Gregors VII.: Dictatus Papae, Ivo von Chartres: Decretum). Die geschilderten Probleme und Zwänge trafen somit für alle Dozenten zu, die ein voreheliches Verhältnis zu einer Frau hatten. Und dies dürften nicht wenige gewesen sein.

Vor diesem Hintergrund sind die allermeisten der oben angeführten Parallelen zwar als vereinbar mit der Situation Abaelards, keineswegs jedoch als spezifisch für ihn anzusehen.

Interessanter ist da eine Beurteilung der Situation Heloïsas. Sie ist ja durch viele, von  einander unabhängige Quellen als herausragendes Talent beschrieben worden (siehe oben). Die Tatsache, dass sie in einer Klosterschule eine dreisprachige literarische Ausbildung erhalten hatte, erscheint zunächst ungewöhnlich. Auch hierzu äußerte sich Abaelard persönlich.

nam quo bonum hoc litteratorie scilicet scientie in mulieribus est rarius, eo amplius puellam commendabat et in toto regno nominatissimam fecerat - denn je seltener dieses Gut in der wissenschaftlichen Kenntnis bei Frauen ist, desto mehr empfahl es dieses Mädchen und hatte es schon im ganzen Königreich sehr bekannt gemacht (Abaelard, Hist. Cal.)
Diese Bemerkung in mulieribus est rarius bestätigt aber im Grunde genommen, dass Frauen zwar selten literarisch ausgebildet wurden, dass dies aber durchaus nicht unmöglich war. Ähnlich äußerte sich Jahre später Petrus Venerabilis, der Großabt von Cluny, über Heloïsa:
tu illo efferendo studio tuo et mulieres omnes evicisti - Du hast durch Deinen herausragenden Eifer alle Frauen hinter Dir gelassen (Petrus Venerabilis, Brief an Heloïsa)
Demnach ist es durchaus berechtigt, anzunehmen, dass Mädchen aus betuchtem Hause in den Genuss einer wie auch immer gearteten Ausbildung kommen konnten. Häufig erfolgte dies in Frauenkonventen. Auch von Le Ronceray in Angers, Fontevrault und anderen Nonnenkonventen ist bezeugt, dass es Mädchen aus dem Adel zur sprachlichen und literarischen Erziehung aufnahm. Somit war Heloïsa vielleicht eine der begabtesten, aber durchaus nicht die einzige Schülerin mit religiöser und klassischer Bildung. Demnach lassen sich auch für Heloïsa aus den verglichenen Primärquellen keinerlei Rückschlüsse auf Exklusivität und Spezifität ziehen.

Zusammenfassung:

All die in langer Liste aufgeführten Parallelen der Lebenssituation belegen letztlich nur, dass es in der damaligen Großstadt Paris Schulen, Klöster und Haushalte mit gebildeten Lehrern und Schülern, aber auch Schülerinnen gab, und dass diese mitunter eine unerlaubte und damit nicht problemlose Beziehung eingehen konnten. Diese Situation traf auch, aber eben nicht ausschließlich, auf Heloïsa und Abaelard zu!

 

Sprachliche und stilistische Merkmale

Kunstsprache und Sprachkunst

 

Der Vergleich der Epistolae Duorum Amantium mit zeitgenössischer Liebesliteratur, wie mit den Carmina Burana, den Werken von Marbod von Rennes, Fulco von Beauvais, Balderic von Bourgeuil, oder mit den erhaltenen Liebesbriefen aus Regensburg und Tegernsee, Zürich und Fleury, machte weite Teile und den eigentlichen Wert der oben zitierten, neueren Arbeiten von Mews, Jaeger oder Ward aus. Die literaturgeschichtliche Einordnung ist sicher interessant; sie erweitet enorm den Horizont des Lesers. Allein - zur Klärung der Authentizität der Briefe trägt der Vergleich letztlich nichts bei. Mews räumt dies auch in seiner Schlussfolgerung ein:

the only way of establishing more firmly whether or not these letters are written by Abelard and Heloïsa is to compare their vocabulary and style to that of known texts by this famous couple - die einzige Art, die Ansicht zu erhärten, ob diese Briefe von Abaelard und Heloïsa geschrieben wurden oder nicht, ist, das Vokabular und den Stil mit dem der bekannten Texte dieses berühmten Paares zu vergleichen (Mews, LLL 114)
Jedoch schon Könsgen hatte in seiner Dissertationsarbeit einen Stilvergleich wegen des Exzerptcharakters der Epistolae Duorum Amantium für aussichtslos gehalten. Die ungenannten Briefautoren verwenden obendrein unzählige Epithete und Stilmittel der Ars dictaminis, die wegen ihres Kunstcharakters zur Klärung der Urheberschaft nicht verwendbar sind. Viele der verwendeten Motive, z.B. das von M. geschilderte Unvermögen, ihrer Liebe einen adäquaten Ausdruck zu verleihen, müssen als topisch gewertet werden.

In welch hohem Maß die Epistolae Duorum Amantium literarische Kunstprodukte sind, erkennt man u. a. an folgenden Merkmalen:

Es finden sich fast 300 Junkturen und Zitate aus der damals bekannten Literatur, von der Antike und Schöpfungsgeschichte bis zur Gegenwart, nahezu alle Tropen und Figuren der lateinischen Antike, Reimprosa, Cursus und Metrik, Verwendung von poetischen und lyrischen Inhalten, Einsatz von Proverbien und seltenen Ausdrücken, vor allem Gräzismen. Mit dieser Sprachkunst wird exemplarisch ein Liebesbegriff entwickelt, welches gleichermaßen christliche und klassische Ideale und körperliche Bedürfnisse vereinigte: amor, amititia, dilectio, caritas. Ebenso exemplarisch werden Liebesleid und Liebesglück geschildert, Treue und Eifersucht. Die Reihe der Briefe beschreibt im Wechsel zwischen Krisis und Lösung einen natürlichen Spannungsboden, der nach einer nochmaligen Steigerung am Schluss unter dramatisch-offenem Ende abbricht. Zuletzt folgt ein elegisches Gedicht über die Macht der Liebe - sozusagen die moralisatio.

Naturgemäß bemüht sich im laufenden Dialog die begabte Schülerin M. weitaus mehr als ihr viel beschäftigter Lehrer V. um literarische Vollkommenheit. Dies ist an der Vielzahl ihrer stilistischen und inhaltlichen Varianten und an der Verwendung eines dunkleren und schwerer lesbaren Lateins leicht zu erkennen. Beide Briefpartner drücken expressis verbis ihr Lern- bzw. Lehrprogramm aus:

novus dictandi fervor sumendus - mit neuem Eifer muss ich formulieren (V 33)

qua dictaminis dulcedine te alloquar, dilectissime, mentis mee excedit valenciam - mit welch süßer Formulierungskunst ich Dich anspreche, Geliebtester, übersteigt das Vermögen meines Geistes (M 69)

Somit repräsentieren die Briefe zweifellos ein literarisches Programm, dienten zur Erlernung der Ars dictaminis, der zunächst Liebe als Thema gilt.

Ungeachtet sollen die Briefe aber auch Hinweise auf eine konkrete Beziehung zweier real existierender Partner enthalten. Dies wurde bereits von Könsgen so in den Raum gestellt und ist in seiner Arbeit anschaulich dargestellt. Der Übergang zur Beschreibung der konkreten Lebenssituation ist jedoch nur schwer im Laufe des Briefwechsels zu erkennen; vermutlich liegt er erst bei Brief 28 bis 30. Die Trennung zwischen Fiktion und Realität gelingt somit dem Leser nicht immer. Umso schwieriger gestaltet sich die Beurteilung der Authentizität und Urheberschaft.

So ist es zum Beispiel nicht möglich, aus der Verwendung der Reimprosa oder einer Untersuchung der cursus vorschnelle Rückschlüsse zu ziehen. Denn diese waren in der monastischen Literatur des 11. und 12. Jahrhunderts weit verbreitet. Dasselbe gilt für die klassische Metrik.

 

Verwendung von Schlagworten der Philosophie

 

Die in den Epistolae vorkommenden philosophischen Begriffe zum spezifischen Wortschatz Abaelards zu erklären, ist ebenfalls kaum möglich. Dies soll im Folgenden näher erläutert werden.

Mews erklärt in seinem Buch:

letter 24 is written by someone intimately familiar with Abelards philosophical vocabulary as recorded in the Sententie secundum magistrum Petrum, before it was refined in his later glosses on Porphyry and Aristotle - Brief 24 ist von jemandem geschrieben, der mit Abaelards philosophischem Vokabular, welches in den Sätzen nach Meister Peter wiedergegeben wird, bestens vertraut ist, ehe dieses in seinen späteren Glossen zu Porphyrius und Aristoteles verfeinert wurde (Mews, LLL, 128)
Es ist eine waghalsige Hypothese, dass Abaelards Vokabularium die Urheberschaft von Brief 24 beweisen könnte, denn in dem Brief kommen lediglich die Begriffe indifferenter und res universalis vor. Nach Mews' eigenen Angaben hat Abaelard den Begriff res universalis nur ein einziges Mal in seiner Dialectica erwähnt. Allerdings ist der Begriff universale allein in Abaelards Schrift De Intellectibus insgesamt 5 Mal nachzuweisen. Trotzdem handelte es sich um keinen für Abaelard oder Heloïsa spezifischen Begriff. Der Terminus universale, bzw. res universalis waren Zentralbegriffe der damaligen Philosophie. Sie kennzeichneten den philosophischen Dauerstreit der ganzen Epoche, heute bekannt unter dem Schlagwort "Universalienstreit". Der Begriff indifferenter gehörte ebenfalls zu dieser Auseinandersetzung. In der substantivischen Form indifferentia war er bereits von Boethius geprägt worden. Da der Universalienstreit in öffentlichen disputationes ausgetragen wurde, waren Schlagworte wie dieses auch jedem anderen Paar aus den intellektuellen Kreisen von Paris des 12. Jahrhunderts zugänglich. Dies belegt die Tatsache, dass auch Roscelin von Compiègne dreimal in seinem Brief an Abaelard darauf zurückgriff: Dort finden sich die Worte indifferenter, indifferens und indifferentia! Die Annahme, dass nur Abaelard und Heloïsa, und nur diese allein, die Begriffe gebraucht haben können, entbehrt somit jedweder Grundlage. Einen anonymen Sentenzenkommentar, dessen Datierung, Verfasserfrage und Einordnung sowieso sehr schwierig ist, als Beweismittel anzuführen, ist von vorne herein wenig nutzbringend. Im übrigen hatte Abaelard laut der Historia Calamitatum an Porphyrius bereits vor der Beziehung zu Heloïsa gearbeitet.
Porphirius quoque in Ysogogis - Porphyrius auch in den Isagogen (Abaelard, Hist. Cal.)
Die in den Epistolae ebenso wie in den Schriften Abaelards und Heloïsas verwendeten Neologismen mit der Endung -bilis sind ebenfalls nicht spezifisch für das Paar, sondern finden sich z.B. auch bei den wohlbekannten Zeitgenossen Roscelin von Compiègne und Fulko von Deuil. In den Briefen, die beide an Abaelard gerichtet haben, finden sich diese Verbalkonstruktionen (Nomina, Adjektive, Adverbien mit -bil-) in folgender Häufigkeit: bei Roscelin 13 mal (insgesamt 0,24%), bei Fulko 10 mal (0,59%). Dagegen gibt es Schriften Abaelards, die diese Wortarten kaum enthalten. So finden sich im Prolog von Abaelards Sic et Non nur 3 x Wörter mit -bil-; das ist im Verhältnis zum Gesamttext eine verschwindend geringe Zahl (0,072%)! Selbst wenn der Begriff scibilitas als Abaelard-spezifisch gelten kann, wie von Mews postuliert, liegt darin kein Beweis, da Abaelard ihn wohl auch öffentlich gebraucht hatte, und er somit auch anderen zur Verfügung stand.

 

Synonymer Gebrauch von Wörtern

 

Wie fragwürdig Rückschlüsse aus Wortvergleiche sein können, mögen auch folgende Beispiele verdeutlichen:  

M. und V. verwenden in ihren Briefen nahezu ausschließlich den Begriff litterae im Sinne von Brief. Abaelard spricht in der Abaelard, Hist. Cal. in Bezug auf Briefe von epistola und scripta. Mit litterae bezeichnet er ausschließlich die Wissenschaften. Zu den litterae der Briefe von Troyes kontrastiert auch Johannes de Veprias Titel Ex epistolis sowie Heloïsas Schilderung in Brief II.

nosque etiam absentes scriptis internuntiis - auch in unserer Abwesenheit durch häufige Schreiben (Abaelard, Hist. Cal.)

sicut in exordio prefatus sum epistole - wie ich gleich im Anfang meines Briefes vorausschickte (Abaelard, Hist. Cal.)

facilius in studio litterarum profeci - ziemlich leicht habe ich im wissenschaftlichen Studium Fortschritte gemacht (Abaelard, Hist. Cal.)

crebris me epistolis visitabas - mit häufigen Briefen suchtest Du mich auf (Heloïsa, Brief II)

Dass aus der unterschiedlichen Verwendung der lateinischen Begriffe für Brief kein vorschneller Beweis gegen die Authentizität gezogen werden kann, belegt Heloïsas Brief II; denn in ihm werden litterae und epistola mehrfach synonym gebraucht:
missam ad amicum pro consolatione epistolam - den Brief, den Du an einen Freund zum Trost geschickt hast (Heloïsa, Brief II)

huius epistole fere omnia felle et absintio plena - fast alles in diesem Brief ist voll Galle und Wermut (Heloïsa, Brief II)

numquam epistolam tuam accipio - niemals empfange ich einen Brief von Dir (Heloïsa, Brief II)

in epistola illa - in jenem Brief (Heloïsa, Brief II)

crebris litteris de his - in häufigen Briefen darüber (Heloïsa, Brief II)

tanto amplius maturande sunt littere - umso mehr muss ich meinen Brief beschleunigen (Heloïsa, Brief II)

quam iocunde vero sint absentium littere amicorum - wie angenehm aber sind Briefe von abwesenden Freunden (Heloïsa, Brief II)

quanto iocundiores sunt littere - umso angenehmer ist ein Brief (Heloïsa, Brief II)

Auch Balderich von Bourgeuil nannte in seinen Versbriefen unterschiedslos die Begriffe littera, scripta, carta, cartula, pagina, epistola, liber, libellus (Ernstpeter Ruhe, De amasio ad amasiam, München 1975, S. 29). Demnach konnten die Bezeichnungen für einen Brief willkürlich ausgetauscht werden, ohne dass darin eine besondere Bedeutung läge!

 

Variabilität der Häufigkeit von Begriffen zwischen und innerhalb der Schriftwechsel

 

M. verwendet in den epistolae - wie bereits gezeigt - häufig den Begriff specialis (M 21, M 25, M 76, M 79), V. dagegen nie. Diametral anders verhält es sich in den Briefen Abaelards und Heloïsas: Heloïsa verwendet nur zweimal den Begriff in Brief II, Abaelard dagegen 10 Mal in der Abaelard, Hist. Cal., 5 Mal in Brief III, einmalig in Brief V.

Der Begriff specialis ist im übrigen keineswegs spezifisch für Heloïsa und Abaelard, sondern findet sich auch zahlreich in anderer zeitgenössischer Literatur jeglicher Art, z.B. auch bei Balderich von Bourgeuil (siehe Ernstpeter Ruhe, De amasio ad amasiam, München, 1975) und sogar mehrfach in den Urkunden des Paraklet-Klosters. Beispiel: debemus specialiter curam impendere (Garnerius, Bischof von Troyes, Urkunde von 1194, aus: Cartulaire du Paraclet).

M. verwendet im Gegensatz zu V. häufig das Wortpaar tot - quot, insgesamt 7 mal. Heloïsa und Abaelard dagegen verwenden dieses Wortpaar in ihren persönlichen Briefen überhaupt nicht.

Schon früher war die Vorliebe Abaelards und Heloïsas für das Wort saltem bekannt (siehe Charlotte Charrier, Héloïse dans l'Histoire et dans la légende, Paris, 1933). Die Historia Calamitatum enthält dieses Wort insgesamt 8 mal, Heloïsas Brief II 6 mal, Brief IV 4 mal, Abaelards Brief 4 mal, Abaelards Dialogus inter Philosophum, ludaeum et Christianum insgesamt 7 mal. Die Epistolae Duorum Amantium enthalten dieses Wort 4 mal für M. und 2 mal für V. Trotzdem sind aus diesen Analogien vorschnelle Rückschlüsse nicht erlaubt, da andere Schriften Abaelards das Wort saltem überhaupt nicht enthalten, z.B. Abaelards Brief III oder die Schrift De Intellectibus.

Grobe Diskrepanzen ergeben sich auch bei der Verwendung des Wortes unicus. Während M. den Begriff unicus nur einmal in der Anrede gebraucht, verwendet V. dieses Wort auffallend oft als Anrede: zehnmal!

vale unica salus mea - lebe wohl, meine einzige Rettung (M 48)

lassate mentis unico solamini - dem einzigen Trost seines müden Geistes (V 2)

unico remedio suo - seinem einzigen Heilmittel (V 31)

unice expectacioni sue - seiner einzigen Erwartung (V 37)

unica quies mea - meine einzige Ruhe (V 47)

inter unice amantes - zwischen einzigartig Liebenden (V 63)

unice suavitati sue - seiner einzigen Sanftheit (V 75)

unico gaudio suo - seiner einzigen Freude (V 89)

unici amoris constanciam - die Beständigkeit einzigartiger Liebe(V 99)

unice sue - seiner Einzigen (V 110)

Ganz anders verhält es sich in den Briefen Heloïsas und Abaelards! Obwohl auch hier das Wort unicus häufig verwandt wird, gebraucht es fast ausschließlich Heloïsa - Abaelard jedoch nie in der Historia Calamitatum und in Brief V, in Brief III einmal, jedoch nicht als Anrede. Die Aussage, dies sei ein bewusst gewählter Kontrast, wie Mews argumentiert, ist nicht nachzuvollziehen.
et tuas, unice, cruces - auch Deine Qualen, Einzigartiger (Heloïsa, Brief II)

unice tue -Deiner Einzigen (Heloïsa, Brief II)

ut te tam corporis mei quam animi unicum possessorem ostenderem - damit ich Dich als einzigen Besitzer meines Körpers wie meiner Seele zeigte (Heloïsa, Brief II)

vale, unice - lebe wohl, Einziger (Heloïsa, Brief II)

unico suo post Christum unica sua in Christo - ihrem Einzigen nach Christus, seine Einzige in Christus (Heloïsa; Brief IV)

miror, unice meus - ich wundere mich, mein Einzigartiger (Heloïsa; Brief IV)

rogas unice - Du fragst, Einziger (Heloïsa; Brief IV)

parce itaque unicae saltem tuae - verschone wenigstens deshalb Deine Einzige (Heloïsa; Brief IV)

Zusammenfassung:

Wortvergleiche aus dem Bereich der Philosophie tragen insgesamt wenig zur Klärung der Authentizität bei, da die betreffenden Schlagworte im Paris des 12. Jahrhunderts in den öffentlichen  Disputationen verwendet wurden und somit allgemein zur Verfügung standen. Der Wortschatz der disputationes dürfte z.T. sogar Modecharakter in den intellektuellen Kreisen der Schulstädte angenommen haben. Dies gilt insbesondere auch für die Wörter scibilitas und indifferenter. All diese Wörter können deshalb nicht als spezifisch für Abaelard reklamiert werden. Die Häufigkeiten spezieller Begriffe variieren innerhalb und zwischen den Briefcorpora und im Vergleich mit sonstigen Schriften so stark, dass für Heloïsa und Abaelard spezifische Profile nicht erarbeitet werden können. Ein Vergleich mit den Epistolae ist wegen deren Exzerptcharakters sowieso nicht möglich. Es ist insgesamt fragwürdig, nur schriftliche Zeugnisse zur Analyse des Sprachgebrauches heranzuziehen. Dieses Unterfangen führt zu einem verzerrten Bild, da speziell die Philosophie sehr umfangreich mündlich tradiert wurde, und obendrein nur wenige Werke der klassischen Philosophie überhaupt bis dato bekannt waren.

 

Einstellungen und Gedanken

 

Ist schon der sprachliche Vergleich der Epistolae mit dem späteren Briefwechsel von Abaelard und Heloïsa problematisch, dann erst recht der inhaltliche:

Der seit dem 13. Jahrhundert bekannte Briefwechsel Heloïsas und Abaelards erfolgte - chronologisch gesehen - mehr als 15 Jahre nach dem Wechsel etwaiger Liebesbriefe. Die Lebenssituation der Akteure hatte sich entscheidend verändert: Beide waren nach einschneidenden Erlebnisses wie Kastration und unfreiwillige Konversion stark charakterlich gewandelt. Sie hatten Jahre personaler Einsamkeit durchlebt. Vor allem aber hatte sich der Bildungshorizont stark verschoben: Abaelard hatte in St. Denis, im Paraklet und in St. Gildas unzählige Werke, die ihm vorher unbekannt gewesen waren, studiert. Die Quellensammlung Sic et Non spiegelt dies eindrucksvoll wieder. Auch Heloïsa mag sich in Argenteuil und später im Paraklet literarisch weitergebildet haben. Das Cartularium des Paraclet berichtet von Bücherschenkungen: Petrus, sacerdos Parrigniaci, dedit... libros suos et quidquid habebat tam in edificiis quam in mobili. Religiös-theologische Inhalte bestimmten von nun an das Denken der beiden. Dass Abaelard später zu einer durchaus anderen Einschätzung von Liebe fähig war, erkennt man an seiner Definition von Liebe in der Introductio der Theologia Scholarium:

caritas vero est amor honestus, qui ad eum videlicet finem dirigitur, ad quem oportet, sicut e contrario cupiditas amor inhonestus ac turpis appellatur - die christliche Liebe aber ist eine ehrenhafte Liebe, die freilich auf den Sinn hin ausgerichtet wird, der sich gehört, so wie im Gegensatz dazu Begierde eine ehrlose und schändliche Liebe genannt wird (Abaelard, Introductio ad Theologiam)
In den Epistolae fasste V. den amor-Begriff in Brief 24 durchaus weiter, als man ihm klischeehaft aufgrund der anderen Briefe zugetraut hätte. In etwas verlegen-dozierendem Ton antwortet er auf eine glühende Liebeserklärung von M.:
est igitur amor vis quedam anime non per se existens nec se ipsa contenta, sed semper cum quodam appetitu et desiderio se in alterum transfundens et cum altero idem effici volens, ut de duabus diversis voluntatibus unum quid indifferenter efficiatu... nos enim duo amorem integrum, invigilatum, sincerum habemus, quia nichil est dulce, nichil quietum alteri, nisi quod in commune proficit - die Liebe ist also eine gewisse Kraft der Seele, nicht aus sich selbst heraus bestehend oder mit sich selbst zufrieden, sondern sich immer mit einem gewissen Bestreben und Verlangen auf den anderen ergießend, in dem Willen, dass mit dem anderen dasselbe bewirkt wird, so dass aus zwei verschiedenen Willen ein einziger fast unterschiedslos entsteht... wir beide nämlich haben die Liebe unversehrt, behütet, rein, weil nichts süß, nichts ruhig ist für den anderen, es sei denn, es habe gemeinsamen Nutzen (V 24)
Oft wohnen zwei Seelen in ein und derselben Brust; je nach Situation kommt die eine oder andere zum Tragen. Man erkennt hier, dass V. schon während des Briefwechsels zumindest zeitweise zu einer Haltung fand, die Abaelard vermutlich erst viele Jahre später entwickelte. Das Beispiel belegt, wie vorsichtig man bei der Beurteilung von Einstellungen und Haltungen sein sollte. Schubladendenken kann auf gefährliche Abwege führen. - Klischees - z. B. V. und Abaelard als eitle Eroberer - dürfen nicht zu vorzeitigen Analogieschlüssen führen.

Ein Vergleich der literarischen Quellen, die in den Epistolae und den späteren Briefen Abaelards und Heloïsas herangezogen, bzw. zitiert werden, ist vielleicht interessant in Bezug auf die jeweilige Lebenssituation. Keinesfalls ist ein derartiges Quellenvergleich tauglich im Sinne der Beweisführung in Sachen Identität der Urheberschaft. Lediglich ein Vergleich der in den Epistolae enthaltenen Quellen und des Kenntnisrahmens Heloïsas und Abaelards zum Zeitpunkt ihrer Liebesbeziehung, der jedoch aus ihrer Chronik erschlossen werden muss, ist sinnvoll: Hieraus ergibt sich zum Beispiel der Rückschluss, das M. eine weitaus umfassendere theologische Vorbildung als V. hatte, V. dagegen eine Vorliebe für Gesänge und Lieder. Beide hatten Einblick in Teile der klassischen Literatur; zur Zeit des Briefwechsels interessierten sie sich vornehmlich und situationsgerecht für Ovid und seine Liebeskunst, aber auch für Cicero. Dies mag durchaus dem Bildungshorizont von Heloïsa und Abaelard entsprochen haben, traf jedoch wiederum auch für ein anderes Liebespaar der damaligen Zeit im Lehrer-Schüler-Verhältnis zu. Im übrigen ist von einer wagemutigen Sprache, die Abaelard in der Historia Calamitatum für sich reklamierte, in den Briefen von Troyes wenig zu spüren - ganz im Gegenteil!

scriptis internuntiis... et pleraque audacius scribere quam colloqui - und in schriftlichen Botschaften das meiste wagemutiger zu schreiben als zu besprechen (Abaelard, Abaelard, Hist. Cal.)
Zusammenfassung:

Die meisten der obenstehenden Parallelen in den Charakterzügen suggerieren zwar eine Identität von M. und V. sowie Heloïsa und Abaelard, erlauben jedoch bei genauerem Hinsehen keinen Beweis. Die betreffenden Textstellen weisen z. T. stark topischen Charakter auf, und könnten wiederum auch für ein anderes Lehrer-Schüler-Paar mit entsprechendem Bildungshorizont zutreffen.

Um so wichtiger wird jetzt die Frage, ob sich durch vergleichende Analyse gar werkimmanente Widersprüche aufdecken lassen, welche gegen eine gemeinsame Urheberschaft der Briefe sprechen. Dies ist in der Tat der Fall:

 

Argumente, die dagegen sprechen, dass die Epistolae Duorum Amantium von Heloïsa und Abaelard verfasst wurden

Die Einschätzung der Liebesbeziehung durch den weiblichen Briefpartner

 

Abaelard schildert sich selbst in der Historia Calamitatum als einen relativ eitlen Eroberer Heloïsas, als einen nach heutiger Sprechweise typischen "Macho". Aus Übermut und Selbstgefälligkeit heraus habe er sich in die hübsche und kluge Heloïsa verliebt, den Zutritt in ihr Haus als Privatlehrer quasi erschlichen und mit ihr überwiegend sexuelle Beziehungen aufgenommen. Er lässt keinen Zweifel daran, dass er höhere Liebesideale zunächst nicht verfolgt habe.

hanc igitur, omnibus circunspectis que amantes allicere solent, commodiorem censui in amorem mihi copulare, et me id facillime credidi posse... nullus a cupidis intermissus est gradus amoris, et si quid insolitum amor excogitare potuit, est additum - diese, die ich mit allem geschmückt sah, was Liebhaber anzulocken pflegt, gedachte ich nun, da sie eher willfährig war, zur Liebe an mich zu fesseln, und meinte, ich könne dies sehr leicht... keine Stufe der Liebe ließen wir Leidenschaftlichen aus, und wo die Liebe etwas Ungewohntes erfinden konnte, wurde es hinzugefügt (Abaelard, Hist. Cal.)

amor meus, qui utrumque nostrum peccatis involvebat, concupiscentia, non amor dicendus est - meine Liebe, die uns beide in Sünden verstrickte, muss man Begehrlichkeit, nicht Liebe nennen (Abaelard, Brief V)

nosti quantis turpitudinibus immoderata mea libido corpora nostra addixerat, ut nulla honestatis vel Dei reverentia in ipsis etiam diebus Dominicae passionis, vel quantarumcunque solemnitatum ad hujus luti volutabro me revocaret - Du weißt, mit welch großer Gemeinheit meine unmäßige Lüsternheit unsere Leiber preisgegeben hat, so dass keine Ehrfurcht vor Anstand oder Gott sogar in der Karwoche noch irgendwelche Feierlichkeiten mich von diesen schmutzigen Schweinereien abhielten (Abaelard Brief V)

sed et te nolentem... quae natura infirmior eras, saepius minis ac flagellis ad consensum trahebam - aber auch wenn Du nicht wolltest... wo Du doch von Natur aus die Schwächere warst, habe ich Dich des Öfteren mit Drohungen und Schlägen gefügig gemacht (Abaelard, Brief V)

Mews äußert in seinem Buch die Ansicht, Abaelard habe dies sehr einseitig geschildert. Doch dies widerlegt Heloïsa in ihren Briefen persönlich. Sie bestätigt ihrerseits diese überwiegend auf Lustgewinn gerichtete Beziehung und nimmt sich als Beteiligte nicht aus:
concupiscentia te mihi potius quam amicitia sociavit, libidinis ardor potius quam amor - die Lüsternheit hat Dich eher als die Freundschaft mit mir verbunden, die Glut der Geilheit eher als die Liebe (Heloïsa, Brief II)

dum tecum carnali fruerer voluptate, utrum id amore vel libidine agerem incertum pluribus habebatur - als ich des Fleisches Lust in Deinen Armen genoss, da durften die meisten unsicher sein, ob ich es aus Liebe oder Lüsternheit trieb (Heloïsa, Brief II)

cum me ad turpes olim voluptates expeteres - als Du mich einst zu schändlichen Vergnügen auffordertest (Heloïsa, Brief II)

que coniugata, que virgo non concupiscebat absentem et non exardebat in presentem, que regina vel prepotens femina gaudiis meis non invidebat vel thalamis - welche Ehefrau, welche Jungfrau begehrte Dich nicht, wenn Du abwesend warst und erglühte nicht, wenn Du anwesend warst, welche Königin oder mächtige Frau beneidete mich nicht wegen meiner Freuden oder um mein Liebeslager (Heloïsa, Brief II)

et si uxoris nomen sanctius ac validius videretur, Dulcius mihi semper extitit amice vocabulum aut, si non indigneris, concubine vel scorti - auch wenn der Name Gattin heiliger oder wertvoller erschien, erwies sich mir immer das Wort Freundin süßer, oder - hoffentlich bist Du mir nicht böse - Konkubine oder Hure (Heloïsa, Brief II)

pristinis vacaremus voluptatibus - um für die früheren Leidenschaften frei zu sein (Heloïsa, Brief IV)

diu ante carnalium illecebrarum voluptatibus - lange vor den Vergnügen der fleischlichen Verlockungen (Heloïsa, Brief IV)

illae, quas pariter exercuimus, Amantium voluptates dulces mihi fuerunt, ut nec displicere mihi, nec vix a memoria labi possint - jene Vergnügen der Liebenden, die wir gleichermaßen übten, waren mir so süß, dass sie mir weder missfallen noch kaum aus dem Gedächtnis weichen können (Heloïsa, Brief IV)

jucundissimarum experientia voluptatum - die Erfahrung der hocherfreulichen Vergnügen (Heloïsa, Brief IV)

si, nisi poeniteat me commisisse priora, salvari nequeam, spes mihi nulla foret, dulcia sunt adeo commissi gaudia nostri, ut memorata iuvent, quae placuere nimis - könnte ich nur dann gerettet werden, wenn frühere Sünden mich reuten, dann würde mir keine Hoffnung zuteil, denn so süß ist die Freude über das, was wir begangen, dass mich die Erinnerung über das, was allzu sehr gefallen hat, immer noch erfreut (Abaelard, Heloïsa zitierend, Monita ad Astralabium)

Diese Einschätzung des Verhältnisses durch Heloïsa und Abaelard teilten auch andere Zeitgenossen, die das Paar kannten, wenngleich auch nicht unbedingt schätzten: Fulco, Prior von Deuil, einem Nachbarkonvent von St. Denis, der sehr wohl über die Verhältnisse in Paris Bescheid wissen konnte, bestätigte Abaelard in einem Brief, den er kurz nach seiner Kastration an ihn adressierte, als typischen Weiberhelden:
haec corporis particula, quam omnipotentis Dei judicio et beneficio perdidisti, quantum tibi nocuerat, ac nocere, quandiu permansit, non desistebat - dieses kleine Körperteil, das Du durch das wohlwollende Urteil des allmächtigen Gottes verloren hast, wie sehr es Dir  geschadet hat und nicht aufhörte, Dir zu schaden, solange es Dir blieb (Fulko von Deuil, Brief an Abaelard)
Auch Abaelards früherer Lehrer und späterer Gegner, Roscelin von Compiègne, äußerte sich ähnlich:

vidi siquidem Parisius quod quidam clericus nomine Parisus te ut hospitem in domo sua recepit, te in mensa sua ut amicum familiarem et domesticum honorifice pavit, neptim etiam suam puellam prudentissimam et indolis egregiae ad docendum commisit. Tu vero viri illius nobilis et clerici Parisiensis etiam Ecclesiae canonici, hospitis insuper tui ac domini, et gratis et honorifice te procurantis non immemor, sed contemptor, commissae tibi virgini non parcens, quam conservare ut commissam, docere ut discipulam debueras, effreno luxuriae spiritu agitatus non argumentaris, sed eam fornicari docuisti, in uno facto multorum criminum, proditionis scilicet et fornicationis reus, et virginei pudoris violator spurcissimus - ich habe freilich gesehen, dass ein Pariser Kleriker mit Namen Fulbert Dich wie einen Freund in sein Haus aufgenommen, Dich an seinem Tisch wie einen engen Vertrauten und zum Haus Gehörigen ehrenhaft verköstigt und Dir seine Nichte, ein sehr kluges Mädchen von außerordentlicher Begabung, anvertraut hat. Du aber hast nicht nur jenen ehrenvollen Pariser Kleriker und Domkanoniker, Deinen Gastgeber und Brotherrn vergessen, sondern auch verachtet; Du hast das Dir anvertraute Mädchen nicht verschont, das Du wie ein Mündel hättest beschützen und wie eine Schülerin hättest unterrichten sollen; Du hast aus entfesselter Triebhaftigkeit nicht Thesen aufgestellt, sondern sie Unzucht treiben gelehrt. In einer Tat vieler Vergehen wurdest Du Angeklagter, des Verrats freilich und der Unzucht, Du hast die Scham des Mädchens auf das Unflätigste verletzt. (Roscelin, Brief an Abaelard)
Eine völlig andere Art der Beziehung und eine idealistischere Definition von Liebe repräsentiert M. in den Epistolae Duorum Amantium. Sie definiert immer wieder Liebe in einem umfassenden Sinn: als Verbindung zwischen Leidenschaft, am besten repräsentiert durch Ovids amor, der tugendbasierten Freundschaft, repräsentiert durch Ciceros Begriff der amititia und der religiös motivierten interpersonellen Liebe, dilectio. Allein die christlich geprägten Begriffe dilectio bzw. diligere (selbstlos lieben) verwendet M. 69 mal! Liebe im Sinne von M. umfasst auch Charakter, Treue, Zuwendung zu Gott, Nächstenliebe, Einheit im Tun und Wollen. Körperlichkeiten, sexuelle Befriedigung rücken hier stark in den Hintergrund; sie finden kaum Erwähnung (siehe oben).
si amor noster tam facili propulsione discedit, verus amor non fuit; verba mollia et plana, que inter nos hactenus contulimus, non fuerunt vera, sed amorem simularunt... nosti, o mi amor precordialis, quod tunc veri amoris officia bene persolvuntur, quando sine intermissione debentur, ita ut pro amico secundum vires faciamus et super vires velle non desinamus. hoc ergo vere dilectionis debitum persolvere studebo - wenn unsere Liebe durch so leichte Gegenkraft verschwindet, ist sie wahre Liebe nicht gewesen. Die sanften und glatten Worte, die wir untereinander bislang gewechselt haben, waren nicht wahr, sondern haben die Liebe nur nachgeahmt... wisse, oh meine herzliche Liebe, dass dann der Dienst der wahren Liebe gut erfüllt wird, wenn er ohne Unterbrechung geschuldet wird, so, dass wir für den Freund gemäß der Kräfte handeln und nicht aufhören, mit dem Wollen die Kräfte zu übersteigen. Ich werde mich also bemühen, das, was der wahren und anerkennenden Liebe geschuldet wird, einzulösen (M 25)

nemo debet vivere nec in bono crescere, qui nescit diligere et amores regere - niemand muss leben noch im Guten wachsen, der nicht zu lieben und die Leidenschaften zu lenken weiß (M 48)

nosti, o maxima pars anime mee, multos multis se ex causis diligere, sed nullam eorum tam firmam fore amiciciam quam, que ex probitate atque virtute et ex intima dilectione proveniat - Du weißt, oh größter Teil meiner Seele, dass viele sich aus vielerlei Gründen lieben, aber dass sie keine so feste Freundschaft erlangen, wie sie aus der Redlichkeit und Tugend und innerer Hochschätzung resultiert (M 49)

nam qui ob divicias vel voluptates sese diligere videntur, eorum nullomodo diuturnam arbitror amiciciam, cum res ipse, propter quas diligunt, nullam videantur diuturnitatem habere - denn diejenigen, die sich wegen Reichtum und Vergnügen zu lieben scheinen, haben meiner Meinung nach keine anhaltende Freundschaft, da die Sachen selbst, deretwegen sie lieben, keine Beständigkeit zu haben scheinen (M 49)

magno caritatis pignore me tibi intimaveram, quamdiu vera dilectio tua firma in radice pendebat - mit dem großen Pfand der Liebe hatte ich mich Dir verinnerlicht, solange Deine wahre Liebe an fester Wurzel hing (M 60)

ille amicus non est laudandus nec ex omni parte perfectus, qui non est memor amici nisi in tempore usus necessarii - jener Freund ist nicht zu loben noch vollständig vollkommen, der an den Freund nur in Zeiten des Nutzens denkt (M 94)

Heloïsa dagegen  definierte ihr früheres Liebesverhältnis - wie oben gezeigt werden konnte - durchaus als von Leidenschaftlichkeit und Lust dominiert; der Unterschied zu M. aus den Epistolae ist evident!

 

Heloïsas Haltung gegenüber Gott

 

Die Haltung von M. gegenüber Gott ist eng mit dem Liebesideal verbunden. In den Epistolae erweist sich M. als tiefgläubig; von Anfang an bezieht sie Gott in Ihre Liebesbeziehung mit ein. Die Fülle und Varianz der Formulierungen schließen eine formelhafte Verwendung des Gottesbegriffes weitgehend aus.

deum testem habeo, quem neque latet nec latere potest ulla secreti machinacio, quam pure, quam sincere, cum quanta fide te diligo - ich habe Gott zum Zeugen, dem keine Geheimniskrämerei verborgen ist oder verborgen sein kann, wie rein, wie aufrichtig, mit welcher Treue ich Dich liebe (M 1)

sicut tibi cupio, ita michi faciat deus - so wie ich Dich begehre, so mache Gott mit mir (M 26)

alma dei dextra te protegat intus et extra - die rechte Hand Gottes schütze Dich innen und außen (M 34)

quia deo teste cum sublimi et precipua dilectione te diligo - weil ich - Gott ist mein Zeuge - Dich mit hehrer und ausnehmender Hochschätzung liebe (M 53)

deum enim testem habeo, quod vera et sincera dilectione te diligo - ich habe Gott zum Zeugen, dass ich Dich mit wahrer und aufrichtiger Hochschätzung liebe (M 55)

omnipotens deus, qui neminem vult perire, qui supra paternum amorem diligit peccatores, illuminet cor tuum gracie sue splendore et reducat ad viam salutis, ut cognoscas, que sit voluntas eius beneplacens et perfecta - der allmächtige Gott, der niemand ins Verderben stürzen will und der über Liebe eines Vaters hinaus die Sünder liebt, beleuchte Dein Herz mit dem Glanz seiner Gnade und führe es zum Weg des Heiles zurück, damit Du erkennest, welches sein wohlgefälliger und vollkommener Wille sei (M 60)

cum omnia factus sis michi excepta solius dei gracia - da Du für mich alles geworden bist - abgesehen von der Gnade des einen Gottes 79)

protegat te valida manus omnipotentis dei - es schütze Dich die starke Hand des allmächtigen Gottes (M 77)

deo teste, cui difficile est verba dare fallacie, nichil est in omni orbe terrarum, quod maius optarem - Gott ist mein Zeuge, den mit Worten zu betrügen schwierig ist: Es gibt nichts Größeres auf der ganzen Erde, was ich mir wünschte (M 86)

sitire deum et illi adherere soli necessarium est omni viventi - nach Gott zu dürsten und ihm allein anzuhängen, ist notwendig für jedes Lebewesen (M 12)

Völlig anders schildert Heloïsa in ihren Briefen das Verhältnis zu Gott. Obwohl sie durchaus als Gott gläubig angesehen werden kann (ihr ganzes späteres Leben deutet darauf hin), hadert sie in Bezug auf ihren Geliebten, Abaelard, mit Gott erheblich:
quam quidem iuvenculam ad monastice conversationis asperitatem non religionis devotio, sed tua tantum pertraxit iussio - zu dieser Härte, noch als blutjunge Frau in den Orden einzutreten, hat mich nicht die Hingabe des Glaubens, sondern nur Dein Befehl gebracht (Heloïsa, Brief II)

nulla mihi super hoc merces expectanda est a Deo, cuius adhuc amore nichul me constat egisse - darüber hinaus habe ich von Gott keinen Lohn zu erwarten, da feststeht, dass ich bisher nichts aus Liebe zu ihm getan habe (Heloïsa, Brief II)

in omni autem - Deus scit - vitae meae statu, te magis adhuc offendere quam Deum vereor, tibi placere amplius quam ipsi appeto, tua me ad religionis habitum jussio, non divina traxit dilectio - in jeder Phase meines Lebens - Gott weiß es - fürchte ich mehr, Dich zu beleidigen als Gott, strebe ich mehr danach, Dir als ihm zu gefallen; Dein Befehl und nicht die Liebe zu Gott hat mich zur Nonne gemacht (Heloïsa, Brief IV)

 

Die Chronologie der Ereignisse

 

Die aus den Epistolae Duorum Amantium zu entnehmende Reihenfolge der Ereignisse differiert stark mit der Schilderung der Historia Calamitatum:

In der Historia Calamitatum übernimmt Abaelard zuerst die Leitung der Domschule von Paris und hat diese einige Jahre ungestört inne. Er lehrt sowohl Dialektik als auch Theologie. Nach längerer Zeit, vermutlich nach mehr als Jahresfrist, lernt er Heloïsa kennen und beginnt den Briefwechsel. Erst im Anschluss daran erschleicht sich Abaelard Fulberts Freundschaft und übernimmt schließlich den Privatunterricht des Mädchens.

Parisius reversus, scolas mihi iamdudum destinatas atque oblatas unde primo fueram expulsus, annis aliquibus quiete possedi - Nach meiner Rückkehr nach Paris habe ich die Schulen, aus denen ich anfangs vertrieben worden war, die mir jedoch schon lange zugestanden hatten und angeboten waren, einige Jahre in Ruhe innegehabt (Abaelard, Hist. Cal.)

nosque etiam absentes scriptis internuntiis invicem liceret presentare et pleraque audacius scribere quam colloqui, et sic semper iocundis interesse colloquiis - trotz unserer Abwesenheit durften wir durch geschriebene Botschaften gegenseitig präsent sein und sehr vieles tollkühner schreiben als sprechen, und so allzeit uns angenehm unterhalten (Abaelard, Hist. Cal.)

occasionem quesivi - ich habe eine Gelegenheit gesucht (Abaelard, Hist. Cal.)

Ganz anders ist die Reihenfolge in den Epistolae!

Hier besteht von Anfang an ein Briefwechsel zwischen dem Lehrer und seiner Schülerin. Der Beginn des Unterrichts erfolgte also vor und nicht nach dem ersten Brief! Erst relativ spät, in der Mitte des Briefwechsels (M 66), spricht M. in einer Eloge davon, dass der Glanz ihres Lehrers die Nacht seines Vorgängers vertreibt.

Wir erinnern uns: In der Historia Calamitatum hatte Abaelard schon Jahre vorher, vor Beginn eines Briefwechsels mit Heloïsa, seinen Vorgänger abgelöst!

ecce manus cleri splendescit luce magistri, splendor doctoris noctem fugat atque prioris - siehe, die Schar des Klerus erglänzt im Licht des Meisters, der Glanz des Lehrers vertreibt die Nacht des Vorgängers (M 66)
Die Annahme, Johannes de Vepria hätte bei der Transskription der Exzerpte die Reihenfolge der Briefe vertauscht oder Briefe ausgelassen, entbehrt jeder Grundlage. Könsgen hatte bereits 1974 nachgewiesen, wie sorgfältig der Kopist gearbeitet hatte. Außerdem zeigen die Epistolae an zahlreichen Stellen chronologische Bezüge! Dasselbe gilt für die Historia Calamitatum: Auch hier gibt es keinerlei Anhalt dafür, dass Abaelard sich falsch erinnert hätte!

 

Die Häufigkeit des Kontaktes

 

In der Historia Calamitatum steht, dass Heloïsa und Abaelard sich in der Zeit des Privatunterrichts, den Abaelard komplett übernommen hatte, täglich sahen. Da machten weitere Briefe häufig keinen Sinn mehr, zumal die beiden Liebhaber die Nächte miteinander verbrachten. Einigen Stellen ist zu entnehmen, dass sich Abaelard und Heloïsa in dieser Zeit nahezu täglich sahen; anders hätte ein Unterricht auch nicht sinnvoll stattfinden können. Gegen Ende der Unterrichtszeit hatte Abaelard kaum noch Zeit zu anderer Beschäftigung. Erst nach der Entdeckung der Liebesaffäre erfolgte die Trennung. Zu diesem Zeitpunkt war Heloïsa bereits schwanger.

qua eam mihi domestica et cotidiana conversatione familiarem efficerem - um sie mir in häuslichem und täglichem Umgang vertrauter zu machen ( Abaelard, Hist. Cal.)

eam videlicet totam nostro magisterio committens, ut quotiens mihi a scolis reverso vaccaret, tam in die quam in nocte ei docende operam darem - er hat sie freilich ganz meinem Unterricht anvertraut, damit ich sie, so oft mir nach der Rückkehr aus den Schulen Zeit blieb, sie zur Tag- und zur Nachtzeit unterrichtete (Abaelard, Hist. Cal.)

et quo me amplius hec voluptas occupaverat, minus philosophie vaccare poteram et scolis operam dare. Tediosum mihi vehementer erat ad scolas procedere vel in eis morari; pariter et laboriosum, cum nocturnas amori vigilias et diurnas studio conservarem - und je mehr mich dieses Vergnügen ergriffen hatte, umso weniger konnte ich mich mit der Philosophie beschäftigen und mich auf den Unterricht konzentrieren. Es war mir ziemlich lästig, in die Schulen zu gehen oder mich dort aufzuhalten; gleichermaßen kostete es mich Mühe, die Nachtstunden für die Liebe und die Tagstunden für das Studium vorzuhalten (Abaelard, Hist. Cal.)

Im Widerspruch dazu ist im letzen Drittel der Epistolae von häufigen und längeren Phasen der Abwesenheit und Trennung die Rede - ein Sachverhalt, der in keiner Weise der in der Historia Calamitatum geschilderten intensiven Beziehung entspricht. Nur in einem Brief wird ein kurzes Treffen geschildert.
at repetens, quam rara tuo contingis amanti - und ich wiederhole, wie selten Deinem Liebenden ein Treffen mit Dir gelingt (V 87)

si ergo presens essem - wenn ich also anwesend wäre (V 91)

o si nutu dei acciperem volucris speciem, quantocius volando te visitarem - oh wenn ich auf einen Wink Gottes hin die Gestalt eines Vogels annähme, wie oft würde ich zu Dir fliegen und Dich zu besuchen (M 86)

pendula expectacione vix expectavi, sed quid hec spes michi profuit, que nullum profectum attulit - schwebend in der Erwartung habe ich Dich kaum erwartet; aber was hat mir diese Hoffnung genützt, die keine Erfüllung gebracht hat (M 95)

et illum non datur oculis cernere corporeis, qui nunquam labascit ab intencione mentis - und es bietet sich keine Gelegenheit, mit leiblichen Augen jenen zu sehen, der niemals aus meiner inneren Aufmerksamkeit entschwindet (M 104)

quia uterque nostrum alter alterius conspectui modo in momento presentari valet - weil wir beide uns nur einen Augenblick sehen können (M 109)

In den Epistolae werden sogar Phasen der gegenseitigen Entfremdung geschildert:
nullus nobis infelicior est, quos amor simul et pudor in diversa rapiunt - keiner ist unglücklicher als wir, die uns die Liebe und die Scham gleichzeitig in verschiedene Richtungen ziehen (V 93)

verba das ventis, si me pro talibus lapidas, quid faceres ferenti iniurias? ille amicus non est laudandus nec ex omni parte perfectus, qui non est memor amici nisi in tempore usus necessarii - Du sprichst Worte in den Wind, wenn Du mich für solches steinigst; was würdest Du tun, hätte ich Dir Unrecht zugefügt? Jener Freund ist nicht lobenswert noch allseits vollkommen, der an den Freund nur zur Zeit des Nutzens denkt (M 94)

tu non equo mecum sentis animo, sed mutasti mores; idcirco nusquam est tuta fides - Du bist nicht einer Gesinnung mit mir, sondern hast die Anschauungen gewechselt; deshalb gibt es nirgends eine sichere Treue (M 95)

jam fessa sum, tibi respondere nequeo, quod dulcia pro gravibus accipis ac per hoc animum meum contristaris - schon bin ich müde und kann Dir nicht mehr antworten, weil Du Süßes als Schweres vernimmst und dadurch mein Herz traurig machst (M 12 a)

Für eine derartige Entfremdung gibt es in Abaelards Autobiographie keinerlei Anhalt,  wenn wir diesen Briefwechsel zeitlich vor Schwangerschaft, Heirat und Trennung datieren wollen!

 

Der Mangel an Zitaten aus philosophischen Werken

 

Nach den Angaben der Historia Calamitatum hatte sich Abaelard bereits vor dem Liebesverhältnis mehrere Jahre lang mit Philosophie, vor allem der Dialektik, zuletzt auch - nach Laon - mit Theologie beschäftigt und beides gelehrt. Von den Werken, die er bereits früher bearbeitet hatte, erwähnte Abaelard expressis verbis Porphyrius mit einem Aristoteleskommentar. Er dürfte sich jedoch auch mit anderen Werken von Aristoteles, Platon, Prophyrius, Boethius und seinen Lehrern Roscelin von Compiègne und Wilhelm von Champeaux beschäftigt haben - vermutlich in täglichem Umgang.

dialecticarum rationum armaturam omnibus philosophie documentis pretuli, his armis alia commutavi et tropheis bellorum conflictus pretuli disputationum - die Rüstkammer der dialektischen Methode habe ich allen Beweismitteln der Philosophie vorgezogen, für diese Waffen habe ich anderes getauscht und die Kampfpreise der Disputationen den Kriegstrophäen vorgezogen (Abaelard, Hist. Cal.)

que quidem adeo legentibus acceptabiles fuerunt, ut me non minorem gratiam in sacra lectione adeptum iam crederent quam in philosophica viderant. Unde utriusque lectionis studio scole nostre vehementer multiplicate, quanta mihi de pecunia lucra, quantam gloriam compararent ex fama te quoque latere non potuit - diese Lesungen wurden bei den Lesern so günstig aufgenommen, dass sie glaubten, ich hätte keine geringere Ausstrahlungskraft in der theologischen Vorlesung erreicht, als sie sie in der philosophischen gesehen hatten. Die Begeisterung für meine Vorlesungen in beiden Fächern vermehrte die Zahl meiner Schüler ganz erheblich; welcher Gewinn, welcher Ruhm mir daraus erwuchs, das hat auch Dir vom Hörensagen nicht verborgen bleiben können (Abaelard, Hist. Cal.)

de universalibus in hoc ipso precipua semper est apud dialeticos questio ac tanta ut eam Porphirius quoque in Ysogogis suis cum de universalibus scriberet definire non presumeret dicens... - diese Frage galt aber bei den Dialektikern von jeher als eine der wichtigsten in der Lehre von den Universalien, so dass selbst Porphyrius in seinen Isagogen, als er über die Universalien schrieb, sie nicht zu entscheiden wagte, sondern nur sagte... (Abaelard, Hist. Cal.)

me dialectice studium regente - als ich den Dialektiklehrstuhl leitete (Abaelard, Hist. Cal.)

Wenn Abaelard dem V. der Epistolae entsprechen soll, wie erklärt es sich, dass dieser in den Epistolae Duorum Amantium nur ein einziges Mal einen Philosophen, nämlich Boethius, direkt zitierte? Es findet sich kein einziges Zitat aus den Werken des Aristoteles, des Porphyrius, des Augustinus u. a. Auch die Anzahl der verwendeten Begriffe der Philosophie und Theologie nehmen sich vor dem Hintergrund der täglichen Beschäftigung mit diesen Fachgebieten letztlich verschwindend gering aus. Bereits unabhängig von der Verfasserfrage ist der Mangel an Zitaten aus dem Bereich der Philosophie ein Argument für einen fiktiven Briefwechsel. Denn wie erklärt sich dieser Mangel, wenn V. ein aktiv tätiger Lehrer der Philosophie war? Dies kontrastiert besonders vor den Hintergrund, dass die Epistolae fast 300 Zitate aus verschiedensten Werken enthalten. Erst recht wäre eine derartige Schwäche des Zitierens aus dem eigenen Fachbereich heraus untypisch für den zitierfreudigen Abaelard!  Dass die in den Epistolae vorkommenden, wenigen Begriffe der Dialektik als nicht spezifisch für Heloïsa und Abaelard gelten können, wurde bereits oben ausgeführt.

 

Der für Abaelard typische Briefanfang

 

Heloïsa erwähnt in Brief II des bekannten Briefwechsels, dass sie, nachdem sie zufällig Abaelards Historia Calamitatum erhalten hatte, dieses Schreiben bereits an einem für Abaelard typisch formulierten Briefkopf erkannt habe:

quam ex ipsa statim tituli fronte vestram esse considerans, tanto ardentius eam cepi legere - als ich schon an der Überschrift bemerkte, dass er der Deine sei, habe ich umso brennender begonnen, ihn zu lesen (Heloïsa, Brief II)
Später vermerkt sie in Brief IV:
miror... quod praeter consuetudinem epistolarum... in ipsa fronte salutationis epistolaris me tibi praeponere praesumpsisti, feminam videlicet viro, uxorem marito, ancillam domino, monialem monacho et sacerdoti, diaconissam abbati - ich wundere mich darüber, dass Du Dir vorgenommen hast, entgegen der Gewohnheit in den Briefen meinen Namen vor dem Deinen an den Anfang der brieflichen Grußformel zu setzen, somit die Frau vor den Mann, die Gattin vor den Gemahl, die Magd vor den Herrn, die Nonne vor den Mönch und Priester, die Diakonisse vor den Abt (Heloïsa, Brief IV)
Da die Briefformel von Heloïsa als absolute Besonderheit eingestuft wurde, schließen wir, dass ein andersartiger, für Abaelard typischer und spezifischer Briefkopf (bekannt von den Liebesbriefen!) existiert haben muss, in dem vermutlich die intitulatio der inscriptio (A., an H., Gruß) voranging. In den Epistolae verwendet V. die damals übliche, aber keineswegs für Abaelard spezifische Reihenfolge:

V. setzt grundsätzlich die inscriptio, d.h. die Worte für die Empfängerin, an den Briefanfang (an M., V., Gruß); bei M. geht dagegen fünfmal die intitulatio, d. h. die Angabe der Absenderin der inscriptio voraus. Die Grußformel, die salutatio, fehlt bei M. siebenmal, bei V. neunmal. Es ist nicht auszuschließen, dass eventuell die salutatio von Johannes de Vepria zeitweise beim Exzerpieren weggelassen wurde. Trotzdem ist dies nicht sehr wahrscheinlich, da in Brief 109 eigens auf einen Verzicht der salutatio Bezug genommen wird:

littere nostre salutacione non indigent - mein Brief bedarf keiner Grußformel (M 109)
Bei M. fehlt achtmal, bei V. zweiundzwanzigmal die intitulatio. Häufig jedoch findet sich das Demonstrativpronomen ille oder illa, jeweils gefolgt von einem Relativsatz. Dagegen findet sich nur zweimal ein Proverb in der Anrede, entgegen weit verbreiteter Gewohnheit. Häufig finden sich jahreszeitliche Angaben, nicht nur als metaphorische Ausdrücke, sondern auch mit chronologischem Bezug. All dies spricht zwar für die Eigenständigkeit des Briefwechsels und gegen die Version einer reinen literarischen Fiktion. Aber die im Briefwechsel von Heloïsa und Abaelard postulierte, für Abaelard typische Grußkonstellation ist hier in keiner Weise zu erkennen!

Soweit die Liste der bestehenden Widersprüche, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt! 

Die Hypothese der Authentizität der Urheber ist nun erheblich ins Schwanken geraten. Umso mehr interessiert jetzt die Frage, mit welcher Methodik und welchen weiteren Argumenten die eingangs erwähnten Veröffentlichungen der jüngsten Zeit die gemeinsame Urheberschaft der Briefwechsel stringent beweisen wollten.

 

Die Epistolae Duorum Amantium als Gegenstand der jüngsten Veröffentlichungen

 

Die eingangs zitierten Autoren, Mews, Ward, Jaeger, vertreten ungeachtet der zuletzt besprochenen und z. T. schwerwiegenden Widersprüche die Ansicht, dass aufgrund der zahlreichen Analogien nicht an einer gemeinsamen Urheberschaft der Briefwechsel zu zweifeln sei. Weitere Arbeiten, die sich in dieser Richtung äußern, werden vermutlich folgen. Es besteht jetzt nicht der Anlass, in großem Umfang Methodenkritik zu äußern. Es wird jedoch jedermann anerkennen, dass eine wissenschaftliche Beweisführung zunächst von einer Hypothese auszugehen hat, welche unabhängig von der verwendeten Untersuchungsmethode nach dem Für und Wider durchleuchtet wird, ehe ein eigentlicher Beweis oder wenigstens eine Wahrscheinlichkeitsaussage erfolgt. Leider haben die genannten Autoren - wohl aus einer gewissen Faszination über die Materie heraus - sich diese Beweisführung erspart und die zu formulierende Schlussfolgerung bereits a priori als Faktum genommen. Mews berichtet bereits in seiner Einleitung:

words and ideas that sent a shiver down my spine - Worte und Ideen, die einen Schauer über meinen Rücken rieseln ließen (Mews, LLL, X, Seite 2 des Vorwortes)
Er lässt den Leser im Weiteren nie mehr bezüglich seiner Überzeugung im Zweifel. 

Entsprechend verhält sich Ward, welcher bereits in seinem Einleitungssatz von einer revolution in our study of the real Heloïsa - Revolution in unserer Studie über die wirkliche Heloïsa spricht.

This chapter is an attempt to explore the next stage in our discussion of these litterae, once we have accepted, as I think we must, the case Mews present for their authenticy as a set of extracts...made perhaps by Heloïsa herself of an exchange between herself and Abelard - Dieses Kapitel ist eine Versuch, die nächste Stufe in unserer Diskussion über diese litterae zu erkunden, wenn wir einmal den Fall akzeptiert haben - und ich denke, wir müssen es - , den Mews als einen Satz von Auszügen für ihre Authentizität präsentiert... eventuell von Heloïsa selbst über einen Briefwechsel zwischen ihr und Abaelard erstellt (John O. Ward and Neville Chiavaroli: The young Heloïsa and Latin Rhetoric: Some preliminary comments on the lost love letters and their significance)
Im weiteren hegt auch er keine Zweifel mehr und spricht  nur noch von Heloïsa und Abaelard als den Autoren.

Jaeger leitet seine Besprechung der Briefe mit dem Satz ein:

A set of love letters from the early twelfth century, which we can now accept as letters exchanged between Abelard and Heloïsa in the early days of their love affair - Eine Kollektion Liebesbriefe aus dem frühen 12. Jahrhundert, welches wir jetzt als Briefe akzeptieren können, die zwischen Abaelard und Heloïsa in den frühen Tagen ihrer Liebesaffäre gewechselt wurden (C. Stephen Jaeger, Ennobling Love, In search of a lost sensibility, Philadelphia, 1999)
Erneut wird die postulierte Urheberschaft bereits an Anfang zum Faktum erklärt, eine weitere Beweisführung im Weiteren umgangen. Dem Abaelard-Freund kommt hier schmerzlich Abaelards eigenes methodisches Vorgehen ins Gedächtnis, welches er in seinem Werk Sic et Non beschrieben hat:
Haec quippe prima sapientiae clavis definitur, assidua scilicet seu frequens interrogatio; ad quam quidem toto desiderio arripiendam philosophus ille omnium perspicacissimus Aristoteles in praedicamento ad aliquid studiosos adhortatur, dicens: Fortasse autem difficile est de huiusmodi rebus confidenter declarare, nisi pertractatae sint saepe. Dubitare autem de singulis non erit inutile. Dubitando enim ad inquisitionem venimus; inquirendo veritatem percipimus - Als erster Schlüssel zur Weisheit gilt doch die beharrliche und wiederholte Fragestellung. Aristoteles, jener bedeutendste aller Philosophen, hat in in seiner Vorlesungschrift ad aliquid die Studenten ermahnt, die Befragung sich mit ganzem Erstreben einzuverleiben. Er sprach: "Vielleicht aber ist es schwierig, sich über derartige Dinge zuverlässig zu äußern, es sei denn, man hat sie sich oft durchgenommen. Man wird gut daran tun, an Einzelheiten zu zweifeln. Denn durch Zweifeln kommen wir zur Untersuchung; durch die Untersuchung aber vernehmen wir die Wahrheit (Abaelard, Sic et Non, Prologus)

 

Der Wahrheitsgehalt der Historia Calamitatum

 

Wie evident die Widersprüche der Epistolae Duorum Amantium zu Abaelards Historia Calamitatum sind, wurde bereits aufgezeigt. Während Jaeger und Ward so gut wie nicht auf diese inneren Widersprüche eingehen, erkennt sie Mews sehr wohl. Zunächst ist er auch prinzipiell bereit, die Historia Calamitatum als relevantes Beweismittel anerkennen:

The close interconnections between their correspondence and their other writings leaves no doubt that Abelard and Heloïsa did write the correspondence attributed to them - Die engen Verknüpfungen zwischen ihrer Korrespondenz und anderen Schriften lassen nicht daran zweifeln, dass Abaelard und Heloïsa den Briefwechsel, der ihnen zugeschrieben wird, auch tatsächlich verfassten (Mews, LLL 55)
Doch wegen der offensichtlichen Widersprüche erklärt er die Historia Calamitatum in Teilen für nicht zuverlässig:
The Historia Calamitatum is certainly an authentic text of Abealard, but it does not provide an authentic record of his relationship with Heloïsa - Die Historia Calamitatum ist sicherlich ein authentischer Text von Abaelard, aber er gibt nicht einen authentischen Bericht seiner Beziehung zu Heloïsa wieder (Mews, LLL 53)
Mews äußert die Ansicht, dass Abaelard die ganze Geschichte erst viele Jahre nach den Ereignissen niedergeschrieben habe - primär mit dem Ziel, seinen Ruf als orthodoxen Theologen und aufrichtigen Wissenschaftler kurz vor der Wiedereinnahme seines Logik- und Theologielehrstuhles um das Jahr 1133 herum wiederherzustellen. Dazu habe er ein Schuld-Sühne-Konzept entwerfen müssen, das sein Abweichen von der Wahrheit rechtfertigte:
Abelards professed intention is to relate how the consoling power of the Holy Spirit had enabled him to survive many difficulities and turn from a life of arrogance and debauchery to one devoted to the will of God - Abaelards zugegebene Absicht muss darauf bezogen werden, wie die tröstende Macht des Heiligen Geistes ihn in den Stand versetzt hatte, viele Schwierigkeiten zu überstehen und von einem Leben der Arroganz und Ausschweifung zu einem Gott geweihten Leben zu wechseln (Mews, LLL 31)
Der Autor folgt hier einem seit langem bekannten Klischee der Abaelard-Forschung, ähnlich vertreten von Peter von Moos und anderen Wissenschaftlern (z.B. Duby, Misch u.a.): Die Historia Calamitatum habe als exemplum, als öffentliche Rechtfertigungsschrift zu dienen, als eine Begründung der Konversion vom amor carnalis zum amor dei, von der heidnischen und damit ketzerischen Philosophie zur rechtgläubigen Theologie. Das Konzept wirkt griffig, enthält vielleicht auch einiges Wahre, kann aber nicht als das Erklärungsmodell schlechthin gelten. Mews glaubt dennoch, Äußerungen Heloïsas als Bestätigung für seine Theorie heranziehen zu können.
In the Historia calamitatum on the other hand Abelard deliberately contrasts a sinful past of physical indulgence, with his present relationship to Heloïsa as based on spiritual concern alone. His suppression of the intellectual aspect of his early relationship to Heloïsa is the attitude to which she reacts so harshly - In der Historia Calamitatum stellt andererseits Abaelard überlegt eine sündige Vergangenheit des physischen Genusses gegen seine aktuelle Beziehung zu Heloïsa, die nur auf einer geistigen Basis beruht. Seine Unterdrückung des geistigen Aspektes seiner frühen Beziehung zu Heloïsa ist die Haltung, auf welche sie so unwirsch reagiert (Mews, LLL )
Doch entspricht Heloïsas Replik auf Abaelards Darstellung in der Historia Calamitatum nicht dieser Darstellung. Heloïsa litt nicht daran, dass Abaelard die intellektuellen Aspekte ihrer früheren Beziehung vergessen hatte, denn es hatte ja kaum welche gegeben. Vielmehr litt sie daran, dass sie eben nicht vorhanden gewesen waren:
nova quedam nobis vulnera doloris inflixisti et priora auxisti - Du hast mir manche neue und schmerzhafte Wunden zugefügt und die früheren noch verstärkt (Heloïsa, Brief II)
Heloïsa verpflichtet in diesem Brief Abaelard nicht darauf, seine alten Versprechungen von früher einzulösen, da er sie ja vermutlich gar nicht gegeben hat. Aber Abaelard hatte Heloïsa einige Jahre zuvor den Paraklet übergeben, danach jedoch erneut den Kontakt abgebrochen. Darüber beklagte sie sich - über nichts anderes! In Brief II erinnert Heloïsa Abaelard primär an seine Verpflichtung als Begründer und geistiger Vater des jungen Nonnenkonventes und an die Tatsache, dass sie verheiratet waren!

An diesem Beispiel wird deutlich, wie genau die Texte zu lesen sind. Die Mews'sche Ansicht, Abaelard hätte in der Historia Calamitatum aus taktischen Gründen Geschichtsklitterung betrieben und den Pfad der Wahrheit verlassen, ist bei näherer Betrachtung nicht zu halten:

Zusammenfassung:

Die Theorie einer teilgefälschten Historia Calamitatum ist bei genauerer Betrachtung der Textstellen und Berücksichtigung der sonstigen Umstände nicht zu halten!  Abaelard schrieb die Historia Calamitatum nicht ausschließlich als Rechtfertigungsschrift, die für eine öffentliche Diskussion zur Wiederherstellung seines Rufes vorgesehen war. Andere Briefbeispiele aus der Zeit belegen, dass in ein- und demselben Schreiben durchaus mehrere Kommunikationsebenen miteinander verwoben werden konnten: So ist zum Beispiel das Schreiben des Abtes Petrus Venerabilis an seine Brüder anlässlich des Todes seiner Mutter (Constable, The letters of Peter the Venerable, I, 153) zugleich ein sehr persönliches und einfühlsames Kondolenzschreiben an seine leiblichen Brüder, aber auch eine Ehrung der Toten gegenüber den Mitgliedern seines Konventes, ein exegetisches Schreiben und ein nahezu hagiographisch intendierter Nachruf an spätere Generationen. Die letzteren Zweckbestimmungen hindern nicht an der Exaktheit der persönlichen Angaben. Getrost darf man derartig ausgefeilte Schreiben, wie es Abaelards Historia Calamitatum oder des Großabtes Kondolenzbrief darstellen, als literarische Raritäten mit erkennbarer Multifunktionalität ansehen, denen im Übrigen wegen der Verwendung des teueren Pergamentes schon zum Zeitpunkt der Abfassung auch ein erheblicher materieller Wert zukam. Welchen Zwecken die Historia Calamitatum Abaelards im Einzelnen auch gedient hat, mag diskussionswürdig sein. Unzweifelhaft ist sie jedoch in erster Linie ein persönlicher Bericht, ein hervorragendes Beispiel für die effektive Selbsthilfe eines an Körper und Seele kranken, verzweifelten Menschen. Abaelard schrieb sich in den einsamen Jahren von Saint-Gildas in erster Linie den Kummer seines bisherigen Lebens vom Leibe, suchte eine höhere Erklärung für seine Misserfolge, vor allem für seinen schändlichen körperlichen Zustand. Vielleicht beabsichtigte er auch eine Rechtfertigung vor der Nachwelt, vermutlich jedoch nicht vor irgendwelchen Zeitgenossen. Er richtete das Schreiben mit hoher Wahrscheinlichkeit an einen realen, wenn auch der Nachwelt unbekannten Freund. Da man ihm selbst nach dem Leben trachtete, war die Autobiographie bei ihm persönlich ja nicht sicher. Wie das Schreiben zu Heloïsa kam, ist allerdings unklar. Sie selbst spricht von einem Zufall:

forte quidam nuper attulit - jemand hat ihn mir neulich zufällig vorbeigebracht (Heloïsa, Brief II)
Wie dem auch sei! Wenn wir die Aussagen der Historia Calamitatum als wahr erachten, dann müssen wir das in allen ihren Teilen tun, auch bezüglich des Liebesverhältnisses. Denn diese Affäre wurde von Heloïsa in ihren Briefen keineswegs dementiert. Wer konnte besser um das frühere Liebesverhältnis wissen als sie?

 

Die Bedeutung der letzten Briefe

 

Bei der Interpretation der zum Abbruch des Briefwechsels führenden Briefe M 112 und V 113 der Epistolae Duorum Amantium wirft die Interpretation Mews' erneut Fragen auf:

Die chronologischen Widersprüche der Epistolae Duorum Amantium und der Historia Calamitatum wurden offensichtlich von Ward in seiner zusammen mit Chiavaroli verfassten Arbeit bemerkt, denn er präsentierte eine andere Abfolge der Ereignisse:

Nach jahrhundertelangen Interpretationsversuchen können wir heute kaum mehr die historischen Gestalten Heloïsa und Abaelard von den Kunstfiguren, die Dichtung und Wissenschaft geschaffen haben, unterscheiden. In den angesprochenen Arbeiten werden diese Kunstfiguren ins Unerkenntliche überhoben.

 

Abschließende Beurteilung

 

Die zahlreichen Parallelen zwischen den Epistolae Duorum Amantium und den Werken Heloïsas und Abaelards ergeben letztlich - trotz ihrer Fülle - keinen Beweis für die Identität der Verfasser. Die Epistolae tragen zum großen Teil rhetorischen Charakter. Sie behandeln die Liebe in ihren Varianten und Ausprägungen, schildern ihre Wandelbarkeit, vermitteln gleichermaßen Liebesglück und Liebesleid. Weite Abschnitte sind durchsetzt mit Zitaten aus der damals bekannten Literatur, sie enthalten unzählige formelhafte Wendungen, Allegorien, Metaphern, Epithete. Mitunter dienen sie als Anwendungsfeld für diverse literarische Stilmittel wie Reimung, Metrik, Tropen und Figuren. Unbestreitbar haben die Epistolae einen hohen literarischen und philologischen Wert; es sind wunderbare Beispiele mittelalterlicher Epistulographie. Wenngleich es bei der hohen Gesamtzahl an Briefen auch nicht wahrscheinlich ist: Wegen stilistischer Eigenheiten können die Briefe prinzipiell als das Produkt realer Briefpartner durchgehen.

Könsgen hatte in seiner Dissertationsarbeit von 1974 die Frage aufgeworfen: Authentizität der Briefe oder literarische Fiktion? Diese Frage wird man, ehe sich nicht gewichtigere Argumente in der einen oder anderen Richtung finden, am besten mit einem sowohl - als auch beantworten müssen. Wahrscheinlich sind die Epistolae authentische Briefe und literarische Fiktion zugleich. Nur einzelne Textstellen erlauben einige wenige Rückschlüsse auf das tatsächliche Befinden der Verfasser.

Auf eine Urheberschaft Heloïsas und Abaelards rückschließen zu wollen, dafür ist die Beweislage zu dürftig. Wirkliche Angaben von Beweis-Charakter enthalten die Briefe nicht. Zu groß ist in einzelnen Punkten die Diskrepanz zu den Primärquellen. Die bis dato vorliegenden Publikationen sind geprägt durch die Vorliebe der Autoren fürs literarische Genre, lassen jedoch einige eklatante Widersprüche unberücksichtigt. Die Ansicht, die Epistolae Duorum Amantium ergäben im Gegensatz zur Historia Calamitatum das wahrere Bild der Beziehung zwischen Abaelard und Heloïsa, stellt letztlich die Authentizität des schon seit dem 13. Jahrhundert bekannten Briefwechsels derart in Frage, dass der Beweis der identischen Urheberschaft ad absurdum geführt wird.

Das ganz Entscheidende kommt jedoch zuletzt: Die gesamte Liebesbriefdiskussion geht von der Prämisse aus, dass Heloïsa und Abaelard in der Tat einen Liebesbriefwechsel geführt haben. Doch bei genauer Übersetzung der beiden einzigen darauf hindeutenden Textstellen aus ihrem Briefwechsel ergibt sich ein gründlich anderer Eindruck:

Tanti quippe tunc nominis eram et iuventutis et forme gratia preminebam, ut quamcunque feminarum nostro dignarer amore nullam vererer repulsam. Tanto autem facilius hanc mihi puellam consensuram credidi, quanto amplius eam litterarum scientiam et habere et diligere noveram; nosque etiam absentes scriptis internuntiis invicem liceret presentare et pleraque audacius scribere quam colloqui, et sic semper iocundis interesse colloquiis...

Mein Name war damals hoch gefeiert, und ich stach im Reiz meiner Jugend und Schönheit hervor, so dass ich keine Zurückweisung fürchten zu müssen glaubte, wenn ich eine Frau meiner Liebe würdigte, mochte sie sein, wer sie wollte. Von diesem Mädchen aber glaubte ich, dass sie sich mir um so lieber hingeben werde, als sie wissenschaftliche Bildung besaß und schätzte, wie ich wusste. So könnte es auch uns eventuell möglich sein, im Falle der Trennung schriftlich miteinander zu verkehren und dabei das Meiste verwegener hinzuschreiben als auszusprechen und so immer in angenehmem Dialog zu bleiben... Hist. cal.

Hier, in der Historia Calamitatum, hat Abaelard ausschließlich im Konjunktiv der Möglichkeit formuliert, womit er lediglich seine damalige Absicht begründete, einen Liebesbriefwechsel zu etablieren. Mit keinem Wort schrieb Abaelard jedoch, dass Heloïsa auf seine stürmischen Anträge geantwortet hätte. Durch die fehlenden Bestätigung des Briefdialogs glauben wir an Heloïsa den nahezu zeitlosen Archetypus weiblichen Verhaltens zu erkennen, der es einem liebenden Mädchen gebietet, sich eher erobern zu lassen, als seine Geheimnisse brieflich feilzubieten. Wie unklug und völlig inadäquat wäre es für diese junge Heloïsa mit ihren hohen ethischen Grundsätzen gewesen, das Geheimnis der eigenen Liebe dem viel älteren und allbekannten Eroberer vorschnell und plump in schwelgenden, manchmal fast manieristisch wirkenden Metaphern preiszugeben. So darf man getrost davon ausgehen, dass auch Heloïsa damals auf Abaelards Ansinnen zunächst mit gezielter Zurückhaltung reagierte. Doch ein solches Verhalten verbietet eben einen überbordenden, im Wechselspiel von Schreiben und Antwort eigenartig starr und ping-pong-haft wirkenden Briefwechsel. Falls dieser Schluss der einen oder anderen Leserin zu weit geht, so sei auf die spätere etwas vorwurfsvolle Stellungnahme Heloïsas verwiesen, die genau diesen Sachverhalt bestätigte:

Cum me ad turpes olim voluptates expeteres, crebris me epistolis visitabas, frequenti carmine tuam in ore omnium Heloysam ponebas; me platee omnes, me domus singule resonabant.

Weil Du mich einst zu Deinen schändlichen Vergnügungen begehrtest, hast Du mit ständigen Briefen Kontakt gesucht; den Namen Deiner Heloïsa hast Du in zahlreichen Gedichten in aller Munde gelegt. Mich verkündeten alle Plätze, alle Häuser in einzigartiger Weise... Brief 1, Heloïsa an abaelard

Woraus, bitte, ist hier abzuleiten, dass Heloïsa die Briefe und Gedichte Abaelards mit gleichgewichteten Schreiben, nach Inhalt und Zahl, beantwortet hätte?

Der Liebesbriefwechsel zwischen Heloïsa und Abaelard ist - so scheint es - bei genauerem Hinsehen nichts anderes als ein Klischee - eine jener Legenden, die sich um ihre Geschichte ranken und jede objektive Sicht erschweren. Insofern muss der Versuch, den "verschollenen Liebesbriefwechsel" zu entdecken, von vorne herein als ein hoffnungsloses Unterfangen angesehen werden.

Was die Epistolae Duorum Amantium betrifft, so kann man nur festhalten: Dieser Liebesdialog eines berühmten Lehrers und einer hochbegabten Schülerin im Frankreich des 12. Jahrhunderts beschreibt eine von hohen Idealen getragene, aber nicht unproblematische Beziehung. Selbst wenn sich in ihm Hinweise auf einen reale Gesprächssituation ergeben, so weist er dennoch in hohem Maße, wenn nicht ausschließlich, einen fiktiven bzw. topischen Charakter auf. Bei den Dialogpartnern handelt es sich allenfalls um ein Paar wie Heloïsa und Abaelard, nicht um diese selbst. Bereits 1974 hatte Ersteditor Könsgen ein entsprechendes Resümee gezogen. Dem wollen wir nicht hinzufügen. Mögen die Briefe uns das bleiben, was sie eigentlich sind: Absolut lesenswerte, aber eben anonyme Exemplare mittelalterlicher Briefkunst.

[Nachtrag 9/2003: Peter von Moos hat zwischenzeitlich ein fast den Umfang eines Buches erreichendes, philologisch-literaturhistorisches Fachgutachten vorgelegt, welches in gewohnter rhetorischer Brillanz und exorbitanter literaturhistorischer Beschlagenheit die oben genannte Autorenhypothese verwirft und eine Entstehung der Briefe vor dem Ende des 13. Jahrhunderts dementiert. Wer mehr dazu wissen möchte, auch zu den z. T. noch unveröffentlicht gebliebenen Stellungnahmen einiger anderer Fachwissenschaftler, sei auf die Originalarbeit verwiesen: Peter von Moos: Die Epistolae duorum amantium und die säkulare Religion der Liebe. Methodenkritische Vorüberlegungen zu einem einmaligen Werk mittellateinischer Briefliteratur, in: Studi Medievali 44, 2003]

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[Nachtrag 5/2004: Jan Rüdiger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschäftigte sich in einem Feuilleton-Beitrag ebenfalls mit der Verfasserfrage der EDA und zeigte sich ebenso skeptisch wie der Autor dieser Seiten:

Echt gefunden

Nichts ist ärgerlicher als ein anonymes Werk. Es entzieht sich dem Begehren, von Mensch zu Mensch zu gelangen, und keine biographische Information enthebt den Leser der Mühe, sich dem Werk zu stellen. Man verstehe recht: Das Nachdenken über die Jahre Thomas Manns am Katharineum kann sicher nicht nur den Genuss an, sondern auch das Verständnis von Hanno Buddenbrooks Schulzeit befördern. Und das Streben der Literaturwissenschaft nach der Zuschreibung anonymer Werke kann durchaus von so lauteren Motiven wie Erkenntnisgewinn getrieben sein.

Eines der größten Korpora mittelalterlicher lateinischer Liebesdichtung, die "Epistolae duorum amantium", ist ein anonymes Werk. Es handelt sich um über hundert Briefe, die ein Mann an eine Frau und diese an ihn richtet, in Sprachform und Gedankenwelt unverkennbar auf das zwölfte Jahrhundert verweisend, auf die große Zeit des Protohumanismus und der höfischen Liebe, das schönste Stück Mittelalter überhaupt. Die Sammlung, überliefert in einer spätmittelalterlichen Handschrift aus dem Kloster Clairvaux (dem Kloster des heiligen Bernhard, des großen Predigers der göttlichen Liebe), wurde 1974 von Ewald Könsgen sorgfältig ediert und mit einem Fragezeichen philologischen Mißbehagens als "Briefe Abaelards und Héloïses?" untertitelt. Spricht doch die Frau den Mann ein paar Mal als "ihren edlen und gelehrten Meister" an, dessen Brillanz "alle Halsstarrigkeit Frankreichs" bezwinge, und er nennt sie "den einzigen Schüler der Philosophie unter allen Mädchen unserer Zeit" - an wen sollte man angesichts eines in geschliffenem Latein geschriebenen, in der Originalität des Räsonierens über die Liebe ganz außergewöhnlichen Briefwechsels da denken, wenn nicht an das berühmteste Intellektuellenpaar, das je gelebt hat und von dem man so gern mehr Selbstzeugnisse hätte als die acht unter Abaelards und Héloïses Namen überlieferten Briefe sowie Abaelards eigene "Geschichte meiner Mißgeschicke"? Kein einziges Textindiz erlaubt eine positive Zuschreibung, und so begnügte sich Könsgen seinerzeit mit der Feststellung, der außergewöhnliche Briefwechsel zeige ein Abaelard und Héloïse ähnliches Paar. Kurz darauf begann allerdings die Debatte um die Echtheit der bekannten Briefe Héloïses: Sind sie das Werk einer Frau oder vielmehr die ovidianische Fiktion einer weiblichen Briefschreiberin durch einen Mann?

Die hundert anonymen Briefe gerieten in den Schatten der Grundsatzdiskussion über die Möglichkeit weiblicher Intellektualität im Mittelalter. Derweil studierte Constant J. Mews bei den großen englischen Mediävisten Richard Southern und David Luscombe und machte sich später als Abaelard-Herausgeber in Fachkreisen einen Namen. Das Umfeld an der Monash University in Australien und die Lektüre der Hildegard von Bingen machten, so schreibt er, "mir bewusst, wie wichtig das Thema ,gender' für das Verständnis der lateinischen Tradition ist". Mit diesem Bewußtseins las er Anfang der neunziger Jahre die "Briefe zweier Liebenden" und bekennt, ihm sei ein Schauder über den Rücken gelaufen angesichts einiger typisch Abaelardscher Termini in den Briefen des männlichen Parts. Das Ergebnis dieses Erlebnisses war ein 1999 in New York erschienenes Buch, "The Lost Love Letters of Héloïse and Abelard".

Könsgens Fragezeichen ist hier getilgt: Das anonyme Briefpaar sei den berühmten Liebenden einfach so ähnlich, "daß es eine zu große Belastung der Plausibilität darstellt zu behaupten, die Briefe seien von jemand anderem als Abaelard und Héloïse geschrieben". Mit dieser Volte sind sämtliche Bedenken vom Tisch gefegt, grundsätzliche Methodenfragen ebenso wie die Tradition der Briefliteratur, das Umfeld (das durchaus andere Fälle von Lehrer-Schülerin-Briefsammlungen aufweist und in dem das Verfassen von Briefen aus Frauenperspektive zum grammatischen Übungsprogramm von Lateinschülern gehörte) ebenso wie die Möglichkeit zeitgleicher oder späterer literarischer Nachahmung: "Ich argumentiere für die einfachste Lösung, daß sie tatsächlich von Abaelard und Héloïse stammen."

Nun gibt es plötzlich 120 statt acht Briefe, und Mews nutzt sie, um eine Hintertreppenliaison zu erzählen, in der Diener die Briefe auf Wachstäfelchen von einem Teil des Hauses, in dem Abaelard als Logiergast von Héloïses Onkel wohnte, in den anderen schmuggeln. Das Ganze wäre vor allem ein Kuriosum, dem die Gelehrten auch sogleich zahlreich widersprachen (am gründlichsten Peter von Moos in den Studi Medievali, Heft 44, 2003) und vereinzelt zustimmten, und mit der boshaften Bemerkung, hier habe ein australischer Mediävist versucht zu landen, was angloamerikanisch scoop heißt, wäre die Sache abgetan.

Wenn nicht kürzlich in Dänemark das providentiell "entdeckte" Tagebuch von Søren Kierkegaards geliebter Verlobten Regine Olsen von einem kleinen Verlag veröffentlicht worden und am ersten Wochenende komplett ausverkauft gewesen wäre, während die Kierkegaard-Forscher mit ihren Zweifeln nur zusehen konnten. Wenn man nicht an Antonia Byatts Roman "Besessen" denken müsste, in dem es just um einen unbekannten Briefwechsel zwischen einem großen Dichter und einer bislang unterschätzten Dichterin geht - und in dem der biographische Memorabilia sammelnde Erfolgsintellektuelle aus Amerika immer den längeren Atem hat als der jedem textkritischen Einwand nachgehende alteuropäische Professor. Constant J. Mews hat in seinem Buch Könsgens Edition nachgedruckt, um eine englische Übersetzung ergänzt und einige Kapitel über "Voices of Héloïse" und die "Politics of Sex" beigegeben. Die Verbreitung seines Werks in deregulierten Geschichtsdepartments, deren Kunden unumwundene Identifikationsangebote erwarten, wird die der philologischen Einwände seiner Opponenten womöglich weit übertreffen.

JAN RÜDIGER

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.05.2004, Nr. 110 / Seite N3]

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[Nachtrag 9/2005: Einige Jahre der wissenschaftlichen Diskussion sind nun vergangen, ohne dass bislang eine abschließende Entscheidung über die Verfasserfrage der EDA gefallen wäre - leider. Allerdings wurde inzwischen vielerorten Zweifel an der Mews'schen Hypothese laut, darunter auch aus dem Mund so namhafter Wissenschaftler wie Giles Constable oder Peter Dronke. Etwas verallgemeinernd lässt sich sagen, dass sich die konkurrierenden Lager in etwa nach geographischen Kriterien formiert haben. Während die Skeptiker überwiegend aus dem europäischen Raum kommen, finden sich die Befürworter vorwiegend in der Neuen Welt (Neuseeland, USA, Australien). Umso bedeutender ist es, wenn sich Jan M. Ziolkowski von der Harvard University/Massachusetts in einem wissenschaftlichen Artikel mit schlagenden Argumenten gegen die Urheberschaft Abaelards und Heloïsas plädiert und damit auch gegen einige seiner anglophonen Kollegen:

Jan M. Ziolkowski: Lost and Not Yet Found: Heloise, Abelard, and the Epistolae duorum amantium, in: The Journal of Medieval Latin, Bd. 14, Brepols Turnhout, 2004, S. 171-202

Der Artikel, den uns Prof. Ziolkowski freundlicherweise überlassen hat, fasst nicht nur in ausgezeichneter Weise den bisherigen Verlauf der Gesamtdebatte einschließlich aller dazugehörigen Argumente und Quellen zusammen, sondern bringt auch die philologischen Schlüsselargumente (mit Beispielen aus den Gebieten der Wortverwendung, Reimprosa, Prosodie und Zitationspraxis). Er widerlegt damit derart zwingend die Autorenschaft Abaelards und Heloïsas, dass sich die Befürworter der Mews'schen Hypothese künftig schwer tun werden, noch etwas entgegenzusetzen. Insofern handelt es sich, wenn auch nicht um ein Schlusswort, so doch um eine echte Vorentscheidung. Am Ende führt der Autor programmatisch in die künftige Diskussion, in derart geistreicher und konzilianter Manier, dass es C. Mews letztendlich möglich sein sollte, einen Widerruf zu wagen. Seiner wissenschaftliche Reputation würde dies jedenfalls in keiner Weise schaden.]

 


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