Mariateresa Fumagalli: Heloïse und Abaelard

Die Ethik des Paares

Vorstufen für die Thesen der Ethik waren schon so manche abfälligen Bemerkungen in Abaelards Autobiographie zu allerlei Zeiterscheinungen. So billigt Petrus die Art des damaligen Schulunterrichts nicht, mit seinem ewig einhämmernden "Repetieren", wodurch das Interesse des Schülers für ein Problem nicht gesteigert, sondern eher abgestumpft werde und zu einem kritiklosen Hinnehmen der vorgegebenen Lösung führe. Und es missfällt Petrus sehr, wie routinemäßig das religiöse Leben praktiziert wird und dass die Gebete dahingemurmelt werden wie magische Beschwörungsformeln. Mit seinem Abscheu über das oberflächliche, ja liederliche Leben in den Klöstern steht er allerdings nicht allein. All solche Zeiterscheinungen führt der Logiker Abaelard auf ein einziges Grundübel zurück: In seiner Zeit und in seiner Welt gibt man nicht mehr acht auf den Sinn von Gebärden, noch von gesprochenen Worten, von Einrichtungen, in und mit denen man lebt, noch gibt man acht auf das, was der Glaube, zu dem man sich doch bekannt hat, eigentlich bedeutet. Man bewegt sich nur an der Oberfläche der Dinge und vernachlässigt dabei das wichtigste Problem: das Gewissen! Schon an verstreuten Bemerkungen in den Briefen wie auch in den Traktaten zur Logik zeichnet sich diese Linie der Gewissenserforschung deutlich ab, die dann vollen Ausdruck findet in der Ethik, vielleicht Abaelards Hauptwerk. Abaelards Gewissenserforschung gleicht einem geraden, zielgerechten Weg am Rand zweier Abgründe, in die man hineinstürzen kann, sobald einen die Vernunft nicht steuert. Diese Abgründe, die es wachsam und kritisch ins Auge zu fassen galt, waren die gegnerischen Perspektiven der vorab erwähnten Poenitentiales einerseits und der extremen Asketen andererseits. In den Libri Poenitentiales, jenen Bußordnungen, die das Leben der Gläubigen durch strenge Regeln lenkten, wurde das Böse im offenkundigen Tun gesehen, in einer eindeutig begangenen Untat, nach deren Hintergründen man nicht fragte. Die Strafen (Fasten, Beten oder Pilgerschaft) waren exakt festgelegt wie ein zu entrichtender Tribut. Ist aber Töten immer ein und dieselbe Tat? Ist es immer gleich böse - ob man nun in Notwehr handelt, verfolgt von jemandem, der einen seinerseits umbringen will, oder ob man aus lang genährtem Hass tötet - oder auch nur auf Grund einer Zufallsanhäufung unglücklicher Umstände?

Mitunter liegt gar kein echtes Verschulden vor, und wir sind trotzdem gezwungen, jemanden zu bestrafen, von dem wir wissen, dass er im Grunde unschuldig ist. Hierfür ein Beispiel: Eine arme Frau hat ein neugeborenes Kind und besitzt nicht genug warmes Zeug für sich und das in der Wiege vor sich hin wimmernde Geschöpf. Voll erbarmender Mutterliebe holt sie es zu sich heran, legt es dicht neben sich, um es in ihr Gewand zu hüllen und es zu wärmen - und schließlich vor Erschöpfung vom Schlaf übermannt, erstickt sie ungewollt ihr Kind, während sie es unendlich liebevoll im Arme hält.
Wenn Abaelard auch nicht die Bedeutung einer Tat unterschätzt, so will er sie doch - in seinem Scito te ipsum wie in anderen Schriften dargelegt - mehr als "Zeichen" verstanden wissen.
Zwei Männer knüpfen einen Sünder auf: der eine tut es um der Gerechtigkeit willen, der andere im Hassgefühl einer alten Feindschaft gegen den Verurteilten; und obwohl doch die Ausübung des Hängens für beide die gleiche ist und obwohl alle beide etwas verrichten, das ordnungsgemäß getan werden muss, weil das Becht es verlangt, so ist doch durch die unterschiedliche innere Einstellung dieselbe Tatausübung bei dem einen schlecht und bei dem anderen gut.
Auch die andere Alternative, wie die Asketen sie aufzeigen, bringt den Menschen nicht weiter: eine globale und undifferenzierte Verurteilung aller Wünsche und spontanen Regungen, der dunklen Kräfte, die sich im Grund des Bewusstseins regen - und damit auch der Lust am Leben, an Speise und Trank oder an der Liebe. All das galt als böse und musste ausgetrieben und im Keim erstickt werden, noch bevor es in Gedanken und Vorsatz Gestalt annehmen und Zustimmung oder Ablehnung finden konnte. Für Abaelard aber gehörte zum Menschen auch das Natürlich-Diesseitige, nicht nur das Streben zum Übernatürlichen hin, das freilich (auch für ihn) das Ziel des Menschenlebens darstellte.
Wie kann man annehmen, Gott habe Früchte geschaffen, die wir doch essen sollen, und Wünsche wie den Hunger in uns gelegt, wenn wir nicht essen dürften, ohne damit eine Sünde zu begehen? Ja, wie kann man überhaupt sagen, dass wir bei etwas sündigen, was uns doch von Gott gegeben wurde?
Inmitten eines langen, dunklen und sehr Ungewissen Bereichs, der an der einen Seite durch das Unbewusste und Triebhafte, an der anderen Seite durch das konkrete Handeln bestimmt ist, das sich mit den sichtbaren Dingen der Welt befasst, durch diese aber auch bedingt und begrenzt wird, findet Petrus, zwischen diesen beiden Polen, das klare, helle Zentrum des Gewissens vor - jenen Punkt, an dem man weiß, was man tut oder tun möchte. Neben die Absicht, es zu verwirklichen, tritt freilich das Bewusstsein, dass die Welt der konkreten Wirklichkeit zugleich ein kompliziertes Geflecht von vorgegebenen Bedingungen und Widerständen ist, die dem Willen oft entgegenstehen. Die Absicht selbst jedoch liegt allein in der Macht des Menschen - und so auch alle Sinndeutung, wie Abaelard betont, in der Logik. Der Mensch schreibt den verschiedenen Stimmen unterschiedliche Bedeutung zu, und darin erkennt er sich als autonom, wenn er auch zugleich seine Unfähigkeit akzeptieren muss, die Welt und den Lauf der Ereignisse zu verändern. Das, was wir Moral nennen, die Wertung von Gut und Böse, hat für Abaelard seinen Sitz in der Gesinnung, der Absicht, die nicht von äußeren Gegebenheiten abhängt, in der freiwilligen Zustimmung zum Gesetz.
Wenn also ein Mensch zu verschiedenen Zeiten ein und dieselbe Tat vollbringt, sie aber in verschiedener Absicht und aus anderer Gesinnung ausführt, kann man sein Handeln in dem einen Falle gut nennen, im anderen dagegen schlecht." Und er fügt hinzu: "Gott hat nicht auf das acht, was wir tun, sondern auf den Geist, in dem wir es tun, und Verdienst und Lobwürdigkeit dessen, der handelt, besteht nicht im Tun selber, sondern in der Gesinnung.
So scheint Abaelards Ethik geradezu die Chiffre zum Aufschlüsseln vieler Gedanken in den Briefen und in der Autobiographie zu liefern. In der Autobiographie meint Abaelard mit menschlicher Natur zweierlei: Zum einen den Hang zur Aggressivität wie auch zur Empfindsamkeit, der nicht schon an sich eine Schuld darstellt, sondern beherrscht und zurückgedrängt werden muss; zum anderen ganz allgemein die Bedingungen des Menschseins mit all seinen Begrenzungen. Für diese Natur nun beansprucht Abaelard Verständnis und verlangt, dass man sie nicht durch allzu harte Regeln und Entsagungen unterdrücke, die sie "schädigen". "Die Natur kommt von Gott, dem Schöpfer des Leibes und auch der Nahrung", so wie auch die menschliche Fähigkeit, sich eine Sprache zu schaffen. Gedanklich scheint dies nicht so fern von der Naturauffassung der Goliarden: doch bleibt für Abaelard in der moralischen Wertung die Natur doch immer noch etwas, das man überwinden und über das man hinausgelangen muss, "um die Krone des Sieges zu empfangen". Über den geistigen und bewussten Menschen hat die Natur keine Macht - und, aus dem gleichen Grund, nicht einmal die Menschen: "Was immer sie gegen uns vorbringen können, sie haben doch nicht die Macht, unser Leben herabzuwürdigen - es sei denn, sie vermöchten so sehr auf uns einzuwirken, dass sie uns, so wie es unsere eigenen schlechten Neigungen und Laster tun können ... zu einer schimpflichen inneren Zustimmung bewegen. Denn sonst erstreckt sich ja ihre Herrschaft über uns nur auf unsern Leib ... unsere wahre Freiheit können sie nicht antasten." Derartiges mag Petrus in Soissons bei sich gedacht haben, als er mit eigener Hand das Buch ins Feuer werfen musste, von dessen Wahrheit er durchdrungen war. Nach derselben Überzeugung ist Geschichte ganz allgemein eine Verkettung von Geschehnissen, die jedes für sich genommen noch nichts bedeuten. Die wahre Geschichte als Heilsplan der Vorsehung verwirklicht sich paradoxerweise in den Absichten der Menschen, die das Reich Gottes aufbauen möchten. Der Gegensatz von Natur und Geschichte findet sich in Abaelards Ethik nicht mehr, ebenso wenig ein anderes Konzept, das im Briefwechsel zwischen Abaelard und Heloïse noch besonderes Gewicht hatte. In der Ethik werden Mann und Frau nicht mehr gegeneinander abgegrenzt: hier gibt es keine Pflichten für den einen, die nicht auch für den ändern gelten ("Da ist nicht Mann ohne Weib, noch Weib ohne Mann, und alles kommt von Gott", hatte Paulus gesagt). Bezeichnenderweise sind einige Beispiele in diesem abaelardschen Text auf den weiblichen Bereich bezogen. Heloïse, der Abaelard die ersten Gedanken zu diesem Thema mitteilte, hat sie in ihren Briefen aufgegriffen:
Schuldig bin ich, durchaus schuldig, und doch auch ganz schuldlos, du weißt es zutiefst, denn Schuld liegt nicht in der Tat selber und ihren Folgen, sondern in den Absichten dessen, der Schuldhaftes begeht. Gerechtes Richten bemisst nicht die Tat als solche, sondern die Gesinnung, die diese Tat bewirkt hat; so hast du selber es dargelegt. Meine Gesinnung dir gegenüber, meine Gefühle, die mich zu dir trieben, kannst allein du beurteilen und ermessen.
Wir dürfen vielleicht sogar vermuten, dass diese ethische Theorie von Heloïse suggeriert wurde - aus ihrer Verzweiflung über ein Leben im Kloster heraus, das sie nicht in bewusster Absicht und der entsprechenden Gesinnung erwählt hatte und das ihr daher in übersteigertem Maße sinnlos vorkam. Zumindest aber hat sie Abaelard in dieser zentralen These bestärkt. Etwa um das Jahr 1135 schreibt Heloïse ihre Problemata. Abaelard hatte sie ermahnt, zusammen mit den Schwestern im Paraklet die Heilige Schrift zu studieren; manche Passagen aber blieben für die Klosterfrauen dunkel und schwierig zu deuten. Diese Textteile stellte Heloïse zusammen und schickte sie Abaelard zu, damit er noch einmal für sie zum Lehrmeister würde. In ihrem Begleitbriefchen zu den Problemata taucht wieder einmal eine Bezugnahme auf den heiligen Hieronymus auf:
Du in deiner Weisheit kennst genauer als ich in meiner Einfalt alle die schwärmerischen Lobesworte, mit denen der hl. Hieronymus das leidenschaftliche Interesse seiner Schülerin Marcella für das Forschen in der hl. Schrift bedacht und wie sehr er sie darin bestärkt und ermutigt hat.
Der gelehrte Text des Briefes beginnt mit der anrührenden Anrede: "Du von vielen Geliebter, mir aber der Liebste!" Die Fragen selber bleiben meist ohne persönlichen Bezug und halten sich ans Thema. Nur zwei Fragen lassen den Menschen Heloïse und ihre persönliche Seelennot durchscheinen: das von Heloïse gelobte Schweigen ist doch nicht so hermetisch, dass sie uns nicht ahnen ließe, um was ihr innerstes Denken kreiste. Die eine Frage ist so formuliert:
Ich frage dich, ob man schuldig werden kann, wenn man einen Befehl seines eigenen Herrn (dominus) ausführt?" Und die andere lautet: "Wenn jemand einen anderen zwingt, mit ihm zusammen etwas Schlechtes zu begehen, ist dann die Zustimmung dieses anderen dazu Sünde?
In einem früheren Brief hatte Heloïse verzweifelt geschrieben: "Du allein hast über mich entschieden ... du weißt sehr gut, dass ich eingewilligt habe, meine Jugend dem düsteren Klosterleben zu opfern... deinem strikten Befehl gehorchend: urteile nun du, wozu das alles mir gedient hat... Ich versichere dir, dass ich mir von Gott keinen Lohn dafür erwarte, weil ich mir bewusst bin, dass ich aus Liebe zu Ihm absolut nichts vollbracht habe." Und weiter: "Ich habe auf alle und jede Freude verzichtet, um deinem Willen gerecht zu werden: für mich habe ich nichts bewahrt, außer dem Wunsche, dein zu sein, dein nur allein." Und noch schwerwiegendere Eingeständnisse: "Ich habe es stets mehr gefürchtet, dir zu missfallen als Gott...", und: "Halte mich nicht für gesundet..., denke nicht, ich sei stark ..." Die Zustimmung Heloises zu Abaelards Beschlüssen - erst zur Eheschließung, dann zum Eintritt ins Kloster - kam ja in beiden Fällen nicht aus tiefstem Herzen, und alles in ihr hatte sich gegen die Entscheidungen ihres dominus aufgebäumt, wie gegen ein Unrecht. Denn sie fühlte sich nicht schuldig, weder an den tragischen Geschehnissen noch an ihrem Groll gegen Gott - der ethischen Einstellung ihres Herrn und Meisters entsprechend, war schuldig nur derjenige, der aus eigenem Antrieb eine bewusste Entscheidung traf. In diesem Zusammenhang ist es besonders ergreifend, in Heloïses Begleitbrief zu den Problemata den von ihr zitierten Satz des Hieronymus zu lesen, die Vertiefung in geistige Arbeit lenke von Grübeleien und von quälenden sinnlichen Vorstellungen ab. Bis 1145 hören wir von ihr nichts mehr: Vielleicht bedeutet ihr Schweigen Ergebung in ihr Schicksal und engagiertes Schriftstudium - vielleicht aber auch fortwährendes Hadern mit Gott, das sie verdrängt, aber nicht überwunden hatte.
Du sollst mir nicht vorwerfen können, ich sei ungehorsam gegen dich, und deshalb will ich, so wie du es verlangtest, alle Äußerungen meines Schmerzes zügeln. Ich habe mir auferlegt, in diesem Punkt zu verstummen und das Schweigen einzuhalten ...
Für beide lag die Wahrheit "im Herzen beschlossen, in das Gott allein hineinsieht": so mag die Bekehrung der Heloïse für sie im Gehorsam gegenüber Abaelard bestanden haben. Sehr wahrscheinlich ist es so - hat sie doch in einem Brief bekannt: "Meine Liebe wurde zum Wahn- und Widersinn, da ich sogar auf den verzichtete, den ich liebte, ohne jede Hoffnung, ihn einmal wiederzuerlangen. Auf ein Wort von dir habe ich mit dem Gewand auch das Herz dahingegeben - um dir zu beweisen, dass du der alleinige Herr über Leib und Seele für mich bist...


[Zurück zur letzten Seite] [Zum Seitenanfang]