Adalbert Podlech: Heloïsa und Abaelard

Eine Vielzahl von Werkanalysen liegen vor: Werkanalysen, die psychologisch, literaturkritisch, wissenschaftskritisch, theologisch, philosophisch ausgerichtet sind. Aber keine dieser Analysen hat so sehr überzeugt wie die von Adalbert Podlech, der alle Deutungsversuche noch um den Aspekt der persönlichen Beziehung von Abaelard und Heloïsa erweitert hat, ohne in romantische Verklärung zu verfallen. Ebenso hat er es vermieden, jedes Einzelwerk Abaelards streng isoliert zu betrachten. Dies wäre schon deshalb unsinnig gewesen, da viele Werke einem lebenslangen Änderungsprozess unterworfen waren und auch kaum ohne Kenntnis des soziokulturellen Hintergrundes und der jeweiligen Lebensstation Abaelards verstanden werden können. Da sich dieser Autor sehr um ein vertieftes Werkverständnis bemüht, muss man sich zum Lesen schon etwas Zeit nehmen! Die folgenden Auszüge sind vereinzelt leicht gekürzt und umgestellt.

Theologie

Abaelard lehrtDas erste überlieferte theologische Werk war der Traktat "Über die göttliche Einheit und Dreifaltigkeit", in der Wissenschaft nach ihren Anfangsworten "Theologia Summi Boni" genannt. Dieses Werk wurde im Jahre 1121 in Soissons verurteilt. Abaelard musste es eigenhändig verbrennen, und es galt als verschollen. Erst im Jahre 1891 wurde es aufgefunden und veröffentlicht. Bereits dieses frühe Werk liegt in drei Handschriften und zwei Fassungen vor. Aus diesem Werk hat Abaelard im Parakleten seit dem Jahre 1123 durch Umarbeitung und Erweiterung seine "Theologia Christiana" entwickelt. Dieses Werk liegt in drei Fassungen vor. Die erste Fassung wurde in den Jahren 1122 bis 1125 im Parakleten geschrieben. Die zweite Fassung erstellte Abaelard in den Jahren 1133 bis 1135, als er sich auf seine letzte Lehrtätigkeit in Paris auf dem Genovefa-Berg vorbereitete, und die letzte Fassung kurz vor dem Konzil von Sens in den Jahren 1136 bis 1140. Die letzte Ausgestaltung seiner Theologie, wieder aus den früheren Werken heraus entwickelt ist das Werk, das nach den Anfangsworten "Theologia Scholarium" benannt wird, von Abaelard und seinen Zeitgenossen häufig einfach "Theologia" genannt, später auch "Introductio in Theologiam", "Einführung in die Theologie". Es war das unter seinen Zeitgenossen verbreitetste Werk und stellt die Frucht seiner letzten Pariser Lehrtätigkeit dar. Auch dieses Werk ist in wenigen Jahren ständig überarbeitet worden, nicht zuletzt unter dem Druck der sich häufenden Angriffe. Eine erste kurze Fassung wurde in den Jahren 1134/35 geschrieben. Hier entwickelte Gedanken und Formulierungen benutzte Abaelard für die letzte Fassung der "Theologia Christiana". Aus beiden Werken erstellte er dann - wohl noch im selben Jahr - eine neue Fassung der "Theologia Scholarium". Auf eine Kritik Walters von Mortagne hin, der ihn aufforderte, sich stärker auf die Kirchenväter zu stützen, ergänzte er die Schrift. Anschließend überarbeitete er sie gründlich und stellte eine längere Fassung her, indem zahlreiche Passagen seines anderen Werkes, der "Theologia Christiana", eingearbeitet wurden, diejenige Fassung, die dann Wilhelm von Saint-Thierry und Bernhard von Clairvaux vorlag, als sie ihre Angriffe auf Abaelard vorbereiteten. Diese Fassung ist die aggressivste. Man spürt in den Erweiterungen, dass Abaelard immer häufiger gezwungen war, sich zu verteidigen. Im Jahre 1140, kurz vor dem Konzil von Sens, das die Verurteilung aussprach, trafen sich Bernhard und Abaelard zweimal, und Abaelard versprach, anstößige Stellen zu bereinigen. Dies geschah, verhinderte aber die Verurteilung nicht. Schließlich, in Cluny, nach der Verurteilung und der Aussöhnung mit Bernhard von Clairvaux, wenige Monate vor seinem Tod, überarbeitete er sein Hauptwerk zum letzten Mal. Kein anderer Autor des frühen Mittelalters ist Abaelard in dieser Arbeitsweise vergleichbar. So sagt er selbst von sich, dass er nicht die Wahrheit lehren wolle, sondern seine Meinung sagen. Jetzt erst entstand Theologie als ein wissenschaftliches Lehrgebäude von Aussagen über die Wahrheiten der Heiligen Schrift, als Formulierung einer wissenschaftlich begründeten Meinung. Je älter Abaelard wurde, um so häufiger streute er in seinen Texten ein ut arbritor, "wie ich meine" ein. Wissenschaft strebt nach Wahrheit, aber in der jeweiligen Fassung immer subjektiv und Ansicht dessen, der sie formuliert. Diese Einsicht stand bereits am Beginn der europäischen Wissenschaft.

Theologia Summi Boni

"Ich befasste mich damals zuerst damit, die Grundlagen unseres christlichen Glaubens durch Analogien aus dem Gebiet der menschlichen Vernunft zu erläutern, und verfasste eine theologische Abhandlung "Über die göttliche Einheit und Dreifaltigkeit" für meine Studenten. Diese begehrten eine verständliche philosophische Beweisführung und wollten Begreifbares hören, nicht bloße Worte. Die vielen Worte, bei denen man sich nichts denken könne, seien überflüssig, man könne erst etwas glauben, wenn man es zuvor begriffen habe."

Die Logik - oder im Sprachgebrauch der damaligen Zeit die Dialektik - konnte nur "die Wissenschaft aller Wissenschaften" (Augustinus), die Kunst jedes vernünftigen Denkens und Sprechens sein, wenn dies auch für die Theologie gelten konnte. War Gott auch unbegreiflich, die Dreieinigkeit nur zu glauben, so musste doch das Sprechen über Gott und die Dreieinigkeit verstehbar sein. Der Glaube lehrte, "dass die Person des Vaters eine andere ist als die Person des Sohnes und eine andere als die Person des Heiligen Geistes und dennoch der Vater und der Sohn und der Heilige Geist eine Gottheit sind... Ewig ist der Vater, ewig der Sohn, ewig der Heilige Geist und dennoch nicht drei Ewige, sondern ein Ewiger. ... Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist und dennoch nicht drei Götter, sondern ein Gott" (Glaubensbekenntnis des hl. Athanasius). Abaelard nahm die Arbeit auf sich, nachzuweisen, dass auch das Sprechen über Unbegreifliches begreiflich sein kann, ja, wegen der Angriffe der Juden und der Muslime auf den Glauben begreiflich sein muss. Bisher waren Unklarheiten der Schrift oder der Glaubensaussagen mit Autoritäten, mit Zitaten der Kirchenväter erläutert worden, und so hatten sich im Laufe der Kirchengeschichte Worte an Worte, Erklärung an Erklärung gereiht, und die Zahl der Ungereimtheiten war ständig größer geworden. Dagegen setzte Abaelard sein neues wissenschaftliches Programm:

"Weil die Ungeeignetheit von Argumenten durch die Autorität weder der Heiligen (der Kirchenväter) noch der antiken Philosophen widerlegt werden kann (man beachte die Gleichstellung von Kirchenvätern und heidnischen Philosophen in Dingen des Glaubens), wenn nicht mit menschlichen Vernunftgründen jenen widerstanden wird, die mit menschlichen Vernunftgründen daherkommen, entscheiden wir uns dafür, dass den Toren nach ihrer Torheit geantwortet werden muss und ihr Angriff (auf den Glauben) mit der Wissenschaft zurückgewiesen werden muss, mit der er vorgetragen wird."

Und diese Wissenschaft, die jeder benötigt, gleichgültig, ob er angreift oder verteidigt, ist die Logik oder Dialektik. Und so ging er daran, die Einwände der Juden und der Muslime, aber auch die zeitgenössischer Autoren gegen die Trinität aufzulisten und jeden einzelnen zu widerlegen. Und weil seine Studenten das Vorgetragene nicht behalten konnten, verfasste er ein Skriptum, einen theologischen Traktat, eben jenes Buch "Über die göttliche Einheit und Dreifaltigkeit". War dies der Inhalt des Werkes, so "Theologia" sein Titel. Diese Wahl des Titels war unerhört. Erst diese Wahl hat der Disziplin, die wir heute "Theologie" nennen, ihren Namen gegeben. Die Zeitgenossen Abaelards sprachen mit der Tradition von "Philosophie" (Weisheitsliebe) oder "Göttlicher Wissenschaft" [scientia sacra) oder einfach von "Schriftauslegung" (scriptura). Theologie war die Lehre von den heidnischen Göttern. Abaelard begann jetzt, mit der Dialektik als den Regeln jedes vernünftigen Redens auch von den Göttern oder dem einen Gott die Exklusivität des christlichen Glaubens als Voraussetzung für das Verstehen von Sätzen, die den Glauben formulieren, aufzusprengen. Für die Disziplin, die dies betreibt, wählte er einen Namen, der ebenfalls die Exklusivität christlicher Tradition aufhebt: Theologie, Lehre vom Göttlichen überhaupt. Erst später, auf Angriffe hin, fügte er das Adjektiv hinzu, das den Unterschied zu der heidnischen Lehre kennzeichnet: "Theologia Christiana", christliche Gotteslehre. Abaelard war sich sehr genau darüber im klaren, dass die Verständlichkeit der Worte und Sätze, in denen von einer Sache gesprochen wird, nicht identisch ist mit der Verständlichkeit der Sache. Das Geheimnis der Dreieinigkeit, des einen Gottes in drei Personen, wird Menschen immer unverständlich sein. Gegenüber den Hyperdialektikern oder den pseudodialectici, wie er sie nennt, führt er die Autoritäten ins Feld, dass der Inhalt des Glaubens unbegreiflich sei. Aber um glauben zu können, muss der Satz, der den Glauben formuliert, seine Bedeutung verstanden sein, die significatio, die auf Gott und sein Geheimnis weist. Sonst ergäbe sich die Lage, dass der Glaube, die fides quae creditur, völlig beliebig wäre, jedem unverständlich und von jedem individuell auszudeuten. Ein kirchliches Lehramt, Entscheidungen der Konzilien über den Inhalt des Glaubens wären überflüssig, ja sogar sinnlos. Jede Aussage über Gott ist nur im übertragenen Sinne wahr, durch Analogie. Da die Wahrheit über Gott nicht in einem Sachverhalt ausgesagt werden kann, muss sie in viele Analogien auseinandergelegt werden, die jede in einer Hinsicht Richtiges sagen, aber wegen ihrer Herkunft aus der geschaffenen Welt auch Unrichtiges. Die Analogien kreisen um das Unendliche, Unaussprechliche, aber sie sagen es nicht aus. "Zuerst ist zu untersuchen" - so beginnt er die Auflösung der Einwände – "ob die Dreiheit der Personen in Gott mehr in Worten oder in der Sache besteht."... So folgt eine weitere Analogie, die das Verhältnis der Substanz zur Person behandelt. Ob einen heutigen Leser die Analogien befriedigen oder nicht, ist nicht das Wichtige. Wichtig für Abaelard und die entstehende Wissenschaft der Scholastik ist, dass jedes Wort in der Formulierung der Analogie in seinem Sprachgebrauch geklärt wird oder wenigstens geklärt werden kann und dass die grammatische Struktur aller Sätze den Regeln der Logik gehorcht. Abaelard hat eine Korrektheit der Wissenschaftssprache eingeführt, die auch heute noch nicht überall selbstverständlich ist... Eine anerkannte Ordnung, gleichsam eine Habilitationsordnung, nach der ein Student die Magisterwürde empfing, gab es zu Lebzeiten Abaelards noch nicht. Aber man konnte immer von einem Magister angeben, wessen Schüler er war. Dieser konnte natürlich ein ganz unbedeutender sein, so dass es sich nicht lohnte, ihn zu nennen. In einer Schule aber hatten alle gelernt. Abaelard ist der erste uns greifbare Autodidakt Europas...

Theologia Christiana

Seit seiner Lehrtätigkeit in Maisoncelles wurden ihm Logik und Methodenlehre aber immer mehr zu bloßen Werkzeugen, die Offenbarung Gottes auszulegen und darzulegen, wurde die Philosophie wenn auch nicht zur Magd der Theologie, so doch zu ihrer besten Helferin. Und so beginnt Abaelard im Parakleten neben "Dialectica« und "Sie et Non« sein drittes großes Werk, die "Theologia Christiana", den ersten mittelalterlichen Versuch einer umfassenden Darstellung der Glaubenslehre aus einem Konzept. Dieser Versuch wird Abaelard zu immer neuen Fassungen seines Werkes und immer neuen Bemühungen des Versuchs führen. Die Erfahrung, dass jede endliche Formulierung der Unendlichkeit göttlicher Gedanken inadäquat bleibt, und die ständigen Angriffe der Umwelt lassen Abaelard seine Texte immer neu überdenken und korrigieren. Abaelard war suchender Forscher, nicht Verkündiger gefundener Wahrheiten. Zwei Eigenarten der theologischen Konzeption, die im Parakleten entstand, sind es wert, auch für diejenigen heutigen Leser herausgehoben werden, die an der reinen Theologiegeschichte nicht interessiert sind, nämlich der Umgang Abaelards mit der antiken Philosophie und sein moralisch begründeter Protest gegen die Lehre, dass nach Gottes Heilsplan diejenigen Menschen, denen die christliche Botschaft unzugänglich blieb oder bleiben wird, vom ewigen Heil ausgeschlossen sein könnten... Der Kirchenvater Augustinus hatte zwar in einer existenziellen Notsituation erfahren, dass in der Lehre Platons und der Neuplatoniker die ganze christliche Lehre enthalten sei, die der Apostel Johannes im Prolog zu seinem Evangelium formuliert hatte: "Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort, und alles, was geworden ist, ward durch das Wort" (Joh.II und 3). Nichts allerdings hatte er bei den heidnischen Philosophen gefunden von der Menschwerdung Gottes und seinem Opfertod. Hatte schon Augustinus Platon nur durch andere Werke kennen gelernt, so kannte das frühe Mittelalter die antike Philosophie weitgehend nur durch Augustinus. Gestützt auf dessen Autorität hatte Abaelard schon in seinem in Soissons verurteilten Traktat unmittelbar auf die antiken Autoren zurückgegriffen und die ihnen zuteil gewordene Offenbarung Gottes der des Alten Testaments gleichberechtigt zur Seite gestellt. Die durch Christus gestiftete Kirche hat zwei gleichberechtigte Wurzeln, Juden und Heiden: Die göttliche Eingebung hat die Dreieinigkeit "den Juden durch die Propheten und den Heiden durch die Philosophen geoffenbart, auf dass beide Völker durch die so erkannte Vollkommenheit des höchsten Gutes zur Verehrung des einen Gottes eingeladen würden". Durch die Lehrer der Völker, die Philosophen und die Propheten, sind so "zwei Häuser zum einen Körper der Kirche vereinigt worden". Diese Gleichstellung der Offenbarung an Juden und Heiden führt Abaelard in seinem neuen Werk fort und baut sie zu einer systematischen Methode aus. Neben die nicht-christlichen Zeugnisse für die Schöpfung und Trinität treten die für die Ethik und die Lehre vom Gemeinwesen. Und da die Lehre von der Menschwerdung Gottes heilsnotwendig ist, lässt er die Einschränkung des Augustinus nicht gelten... Treibende Kraft dieser Gleichstellung ist für Abaelard die moralische Überzeugung, dass es keine Schuld in der Unkenntnis gibt, eine Überzeugung, die ihn zur Gewissensethik und zur Umbildung des Erbsündedogmas führen wird: Sünde darf man nur nennen, was nicht ohne Schuld geschehen kann. Gott nicht-kennen, ihm nicht glauben oder unrechte Werke tun, kann vielen ohne Schuld geschehen. "Wenn einer dem Evangelium oder Christus nicht glaubt, weil beide ihm nicht gepredigt wurde,... welche Schuld kann ihm vorgeworfen werden ? Ich sehe also nicht ein, warum man ein Nicht-Glauben an Christus, also Unglauben, oder alles, was aus hoffnungsloser Unkenntnis geschieht, wie bei kleinen Kindern oder solchen, die keine Kunde erhalten haben, zur Schuld rechnen sollte." Gottes Angebot des Heils an alle Menschen setzt voraus, dass allen die zum Heil notwendigen Glaubenslehren zugänglich sind. Dass die Mehrheit der Heiden und viele Juden in ihrem Starrsinn die Grundzüge der katholischen Lehre, von Philosophen und Propheten verkündet, nicht annahmen, ist ihre Schuld. Diejenigen aber, die die "Predigt der Philosophen" annahmen, gehören "zum einen Körper der Kirche". So deutlich Abaelards Absicht ist, kirchliche Lehre in den Lehren der Philosophen zu finden, so vorsichtig geht er in seiner Interpretation mit diesen Lehren um. Deutlich wird das an der platonischen und neuplatonischen Lehre von der Weltseele, der anima mundi. Er bejaht zwar in seinen Schriften immer wieder die Beziehung zwischen der Weltseele und dem Heiligen Geist. Aber mit der oben schon angerührten Ausnahme der neuplatonischen Lehre, dass die durch die Zahlen bestimmte Harmonie der Weltseele die Struktur der Schöpfung sei, vermeidet Abaelard jede kosmische Interpretation der Weltseele, in der er nur Spiegel und Gleichnis des Heiligen Geistes sehen kann. In Anwendung seiner sprachlogischen Lehre legt er auseinander, dass "Geist" der Name für eine Natur ist, "Heiliger Geist" der Name für die dritte Person der Gottheit und "Seele" der Name für die Funktion, etwas zu beleben. Nur in diesem Sinn kann der Heilige Geist mit Recht Weltseele genannt werden, denn mit seiner siebenfachen Gnadengabe belebt er die Gläubigen in der Welt, auf dass sie eine Kirche werden...

Liebe als göttliche Tugend (caritas) ist jene sittliche Liebe (amor honestus), die zu jenem Ziel hinlenkt, das in der Ordnung liegt... Liebe allgemein (amor) aber ist das Verlangen, dass es dem Geliebten um seiner selbst willen gut geht, und zwar so, wie er meint, dass es für ihn gut sei. Im Anschluss an diese Definition entwickelt Abaelard dann kurz seine Lehre von der Liebe, die er in anderen Schriften entfaltet hat und die oben schon dargestellt wurde. Und dann folgt die Definition des Sakraments: Das Sakrament ist ein sichtbares Zeichen der unsichtbaren Gnade Gottes. Werden wir zum Beispiel getauft, so ist diese äußere Waschung Zeichen der inneren Reinigung der Seele, da der innere Mensch so von der Sünde gereinigt wird, wie der äußere vom körperlichen Schmutz. Diese Definition bleibt im Rahmen der Überlieferung, aber sie ist blass, ohne konstruktive Kraft. Weder wird aus ihr ersichtlich, welche Bedeutung der Auftrag des Auferstandenen an seine Jünger hat "Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen! Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden« (Mark. 16,15 f.), noch wird deutlich, wie Abaelard bei seiner Auffassung vom umfassenden Heilsangebot an alle Menschen die theologische Notwendigkeit der Taufe zur Rettung begründen will. Geht man auf seinen Römerbrief-Kommentar zurück, der zwischen den Jahren 1133 und 1137 geschrieben sein dürfte, dann steht dort eine klare Absage an die innere Notwendigkeit des Sakraments der Taufe zum Heil. Die Rechtfertigung des Menschen geschieht durch den Glauben und die Liebe. Aus den theologischen Aussagen, dass niemand, der die Liebe hat, verdammt werden kann, und niemand ohne Taufe gerettet werden kann, entsteht das theologische Paradoxon, dass ein Mensch, der die Liebe Gottes hat, aber ohne Taufe stirbt, gerettet und verdammt werden müsste. Die Lösungen dieses Paradoxons, die Abaelard immer wieder versucht, interessieren heute nur noch Dogmengeschichtler. Die personale Auffassung von Sünde und Schuld, an der Abaelard immer festgehalten hat, war unvereinbar mit der Augustinischen Ausformung der Paulinischen Erbsündenlehre. Konsequent hätte Abaelard die Erbsündenlehre aufgeben müssen, eine Auflehnung gegen die Tradition und Lehre der Kirche, die selbst er nicht gewagt hat. Die Folge war, dass er eine Sakramentenlehre nicht entwickelt hat. Sicher ist es kein Zufall, dass er in den verschiedenen Ansätzen, die gesamte Theologie systematisch darzustellen, nie bis zum Ende, zur Sakramentenlehre gelangt ist. Das theologische Problem spitzte sich in der Diskussion zu bei der Frage, warum Kinder, die im Mutterleib oder vor Erlangung des Vernunftgebrauches sterben, ohne Taufe, aber auch ohne eigene Schuld, auf ewig verdammt sein sollen. Nachdem Augustinus die schauerliche Konsequenz der ewigen Höllenpein ungetaufter Kinder ausdrücklich auf sich genommen hatte, um seine Erbsündenlehre widerspruchsfrei zu machen, stellt sich die sozialpsychologische Frage, ob die Monomanie, mit der die katholische Kirche den Schwangerschaftsabbruch verfolgt und anprangert, intensiver, öffentlicher und anhaltender als selbst alle Massenmorde unseres Jahrhunderts, die Gaskammern der Konzentrationslager eingeschlossen, ob diese Monomanie nicht tiefenpsychologisch der Angst vor der Konsequenz ihrer eigenen Lehre entspringt, dass das im Mutterleib sterbende Kind ohne eigene Schuld ewiger Höllenstrafe unterliegt. Der vergaste Jude hatte ja die Chance gehabt, zu glauben und sich taufen zu lassen, das ungeborene Kind nicht. In der Redemptionslehre und der Satisfaktionslehre war das ganze Menschengeschlecht Objekt der Heilstat Gottes. Menschen standen Gott nicht als einzelne, als Individuen gegenüber, sondern in Verbänden, in der Familie, in Genossenschaften wie den Klöstern, in der Heilsgemeinschaft der Kirche, als Gliedern des Menschengeschlechts. Wie im Mittelalter kein Mensch als Individuum Träger von Rechten und Pflichten war, sondern nur als Glied der Gesellschaft, die ihm einen Status verlieh, der Rechte und Pflichten umfasste, hatten die Theologen vor Abaelard und noch lange nach ihm Sündhaftigkeit des Menschen und die Wirklichkeit seiner Begnadung immer als Eigenschaften angesehen, die Menschen in der Vergesellschaftung zukommen, Menschen als Glieder des Reichs des Teufels oder des Reiches Gottes. Und noch Bernhard von Clairvaux, der in seiner Mystik das Verhältnis der Seele als Braut zu Jesus als Bräutigam ganz individuell gefasst hatte, lehrt, dass die Heilstat Gottes nicht in erster Linie auf den einzelnen Menschen abzielt, sondern auf die Kirche als seine mystische Braut. Erstmals Abaelard fasst die Beziehung der Menschen zu Gott ausschließlich personal, individuell auf jeden einzelnen Menschen bezogen. Menschwerdung und Erlösertod Jesu sind Vorbild und Grund der Liebe für jeden einzelnen Menschen, und nur diese Liebe, in Gnade durch Gott gewirkt und angenommen, erlöst die Menschen, die lieben. "Die Rechtfertigung besteht in der Liebe, nicht im äußeren Werk der Taufe.« Und diese Liebe ist Folge des Glaubens. An Gott glauben, seiner Botschaft glauben und seinem Heilswillen vertrauen bewirkt die Hoffnung auf die Erlösung und entzündet die Liebe, die seine Güte in uns bewirkt. Durch diese Folge von Sätzen verbindet Abaelard den Glauben als Akt, der sich auf Gott richtet, mit dem Glauben als Inhalt, den Menschen glauben, und mit der Liebe, in der jeder einzelne Mensch von der Gnade Gottes ergriffen wird und als Gläubiger und Begnadeter Gottes Anruf Antwort ist. Dies, und nur dies wäre der Inhalt Abaelards Theologie gewesen, wenn die Tradition nicht zu mächtig gewesen, die Kirche des Mittelalters die Lösungen der Kirchenväter für die theologischen Probleme der Antike nicht wörtlich genommen hätte. Den Kirchenvätern der Antike hatte es ja genügt, so lehrte Abaelard, die theologischen Probleme ihrer Zeit zu lösen. Die für die europäische Entwicklung grundlegende Einsicht in die Subjektivität von Verantwortung und Schuld, in die Personalität der Beziehung der Menschen zu Gott, hätte konsequent die Preisgabe der Heilsnotwendigkeit der Sakramente, die Überwindung des prinzipiellen Gegensatzes von Geistlichen und Laien, die Auflösung der Herrschaftsstruktur der Kirche zur Folge gehabt. Dies erwies sich als theologisch und politisch unmöglich. Auch ein Abaelard schreckte davor zurück, Augustinus und gar Paulus an den Evangelien, an der wörtlichen Überlieferung der Heilsbotschaft Jesu, zu messen und alles zur theologischen Disposition zu stellen, was nicht in dieser Botschaft enthalten ist oder ihr gar widerspricht. Die Herrschaft der Kirche über die Schrift, die Lehre, dass zu glauben ist, was die Kirche als Glauben vorlegt, hatte sich bereits durchgesetzt. Abaelard formulierte einen Kompromiss, aber Bernhard von Clairvaux gelang es auf dem Konzil von Sens, selbst diesen Kompromiss als Irrlehre verurteilen zu lassen. Die Verurteilung Abaelards enthielt in sich bereits die Notwendigkeit der Reformation.

Theologia Scholarium

"Drei sind es, wie ich meine (ut arbitror), worin der Inbegriff des menschlichen Heils beruht, nämlich der Glaube, die Liebe und die Sakramente." So beginnt Abaelard seine letzte, unvollendet gebliebene Darstellung des Systems der christlichen Theologie, früher "Introductio in Theologiam", heute nach ihren Anfangsworten "Theologia Scholarium" genannt. Glaube, Liebe und Sakramente sind heilsnotwendig, und das System der Theologie kann dargestellt werden, indem alle einzelnen Glaubenswahrheiten einem dieser drei Bereiche zugeordnet und gleichzeitig die Beziehungen angegeben werden, die diese zu einer Einheit, der Heilstat Gottes mit den Menschen verbinden... Ausdrücklich will Abaelard eine Summe schreiben, wie er im ersten Satz der Einleitung formuliert, eine "Summe der heiligen Unterweisung, gleichsam eine Einführung in die Heilige Schrift". Divina scriptura - die alte Bezeichnung für das, was ihm und uns "Theologie" heißt. Abaelard will eine wissenschaftliche Darstellung der Glaubenslehre geben, nicht diese selbst verkünden. Predigt der Glaubenslehre durch die Kirche und wissenschaftliche Darstellung sind zusammenhängende, aber verschiedene Dinge. In der Figur mittelalterlicher Bescheidenheit gibt er wieder dem Drängen seiner Studenten nach: So haben wir schließlich ihren Bitten zugestimmt und versprochen, nach unseren Kräften oder vielmehr mit der Hilfe der göttlichen Gnade zu versuchen, das Erbetene zu leisten. Dabei haben wir nicht versprochen, die Wahrheit zu lehren (veritatem docere), sondern den Sinn unserer Meinung (sensum nostrae opinionis) darzulegen, so wie sie (die Studenten) dies verlangten. "Wahrheit zu lehren" ist Auftrag der Kirche, ihr Medium die Predigt. Den Sinn der Sätze zu klären, in denen man von der Wahrheit spricht, ist Aufgabe der Wissenschaft, ihr Medium der Traktat, in der Vollendung die Summe. Abaelard hat als erster diesen Unterschied erkannt und durchgeführt. Da seine Gegner dies nicht erkennen oder erkennen wollen, sie seine Wissenschaft an den Maßstäben der Glaubensverkündung messen, wird ihm dies zum Verhängnis werden. Abaelard betreibt Wissenschaft, und Wissenschaft strebt Sicherheit an, aber nie ist der Wissenschaftler sicher, die Wahrheit endgültig gefunden zu haben... Die Wahrheit zu lehren ist Menschen (als Menschen, vielleicht nicht als Verkündern der Lehre Jesu im Beistand des Heiligen Geistes) unmöglich, aber wenigstens das Wahrscheinliche und das menschlicher Vernunft Nahegebrachte (ist uns möglich). Predigt geschieht im Beistand des Heiligen Geistes, Forschen liegt in der Verantwortung des Magisters. Solches, Wahrscheinliches, der menschlichen Vernunft Nahes und "dem heiligen Glauben nicht Widersprechendes" will Abaelard denn auch in seinem Buch darlegen, "um jene zu widerlegen, die den Glauben bekämpfen". Damit ist Abaelard in seinem letzten theologischen Werk wieder bei dem Anliegen seines ersten angelangt. Im Abschnitt "Lob der Dialektik" hatte er 20 Jahre zuvor geschrieben: Und weil weder durch die Autorität der Kirchenväter noch der der Philosophen die Ungeeignetheit von Argumenten gezeigt werden kann, wenn nicht mit menschlichen Vernunftgründen jenen widerstanden wird, die mit menschlichen Vernunftgründen angreifen, bin ich entschieden der Meinung, dass den Toren nach ihrer Torheit entgegnet werden muss und dass die Angriffe mit jenen Mitteln zurückgewiesen werden müssen, mit denen sie uns bekämpfen. Jene Mittel, das ist die ars, die Kunst der Dialektik, der Logik. Logik ist nur durch Logik widerlegbar, nicht durch Autorität, nicht durch Glauben. Aber es gilt zu unterscheiden. Die Argumente der Heiden, der Ketzer sind menschliche Argumente, menschlich widerlegbar, nach den Maßstäben der Logik zu beurteilen. Schwerer hat es der Christ in der Darlegung seines Glaubens. Die Worte der Sprache stammen aus der Welt der Erfahrung, der äußeren oder der inneren Erfahrung, und vermögen nie Gott und seine Erkenntnis zu erreichen. Nur in Bildern und Gleichnissen hüllen sie Gott gleichsam ein, ihn durch Worte mehr verbergend als entbergend. Die Analogie kreist das Unaussprechliche ein, sagt es aber nicht aus. Der tiefste Grund der Unzulänglichkeit menschlicher Sprache, Gott auszudrücken, ist die Zeitlichkeit menschlicher Erfahrung, die Zeit als Struktur der Sprache. "Jede Rede ist zeitlich, nicht ewig." Das Verb, das Zeitwort, regiert den Satz, die Aussage. Je weniger aber Sprache geeignet ist, Gottes Geheimnisse auszudrücken, um so genauer muss sie verwendet werden. Ungenauer Sprachgebrauch im Bereich täglicher Erfahrung wird durch die Erfahrung korrigiert, ist im Schaden, den er anrichtet, begrenzt. Ungenauer Sprachgebrauch im Bereich des Glaubens führt zur Unverständlichkeit des Sprechens von Gott, ist in seinem möglichen Schaden unbegrenzt. An dieser Stelle setzt Abaelards Vertrauen in die Vernunft, die Dialektik, die Sprachanalyse ein. Er ist der Überzeugung, dass die theologischen Kontroversen, die Lehren der Irrlehrer, soweit sie nicht in Sünde und Bosheit ihren Grund haben und somit schon von Gott verurteilt sind, dass wissenschaftliche Kontroversen aufgelöst werden können durch seine Kunst (ars) des Umgangs mit Sprache. Nicht vermag die Wissenschaft die Geheimnisse Gottes zu entschleiern, und anders als Anselm von Canterbury, dessen Ziel es war, wenigstens einen kleinen Zipfel des Schleiers zu heben, Gottes Gedanken nachzudenken, anders als Anselm will Abaelard dies auch gar nicht. Das Christentum ist eine Religion des Textes, der Heiligen Schrift, und Abaelard will nichts anderes, als den Text verstehen, ihn für jedermann, jedefrau, gebildet oder ungebildet, verständlich machen. Und so beendet er das "Lob der Dialektik« in der Überzeugung der Schattenhaftigkeit jeder theologischen Erkenntnis, indem er von den Geheimnissen der Dreieinigkeit schreibt: Darüber, die Wahrheit zu lehren, versprechen wir nichts. Es steht fest, dass weder wir noch irgendein anderer Sterblicher sie kennt. Lediglich etwas Wahrscheinliches, der menschlichen Vernunft Nahekommendes und der Heiligen Schrift nicht Widersprechendes gegen die vorzutragen ist erlaubt, die sich rühmen, mit menschlichen Gründen den Glauben zu bekämpfen. Sie gehen ja nur auf menschliche Argumente ein und finden auf diese Weise viele Anhänger, denn fast alle Menschen gehen dem Alltäglichen nach (sunt animales), die wenigsten nur suchen Erkenntnis (sunt spirituales). Es reicht uns aber auch aus, die Kraft der überlegensten Feinde des heiligen Glaubens auf welche Weise auch immer zu zerstören, zumal wir kein anderes Mittel haben, sie zu überzeugen, als durch menschliche Gründe. Was auch immer wir über die höchste Philosophie entwickeln, wir bekennen offen, dass es nicht die Wahrheit (veritas) ist, sondern ein Schatten (umbra), gleichsam ein Gleichnis (similitudo), nicht die Sache selbst (res). Die Wahrheit kennt der Herr. Ich bin der Ansicht (arbiträr), dass wir nur das Wahrscheinliche aussagen können, das den philosophischen Gründen am ehesten entspricht, durch die wir herausgefordert werden. In seinem ersten theologischen Werk hatte er diese Sätze geschrieben, und er wird sie wörtlich in jedes weitere aufnehmen. Wahrheit ist immer göttliche Wirklichkeit, uns Menschen immer verborgen. Uns bleibt das Wahrscheinliche. Und der letzte Satz, fast beiläufig hingeschrieben, zeigt, dass Abaelard schon sehr früh die Überzeugung vertrat, Fragen des Glaubens, der Erkenntnis, der Wahrheit, der Richtigkeit menschlichen Handelns sollten mit Gründen entschieden werden, da es kein anderes Mittel zu überzeugen gibt. Am Ende seines Lebens wird er den Gegensatz zur Überzeugung deutlich benennen: die Gewalt. Vor zwei Ketzerkonzilien hatte er die Gefahr erkannt, die einer Kirche droht, die die Wahrheit verwaltet und Macht in dieser Welt besitzt. Vernunft anstatt Gewalt, diese Überzeugung hat Abaelard der immer gewalttätigeren Kirche als Vermächtnis hinterlassen, nicht angenommen, vergessen für Jahrhunderte. Abaelards Beteuerungen, die Vernunft (ratio), die Logik (dialectica) seien ihm nur Mittel, den Glauben zu verteidigen, nach außen sozusagen, gegen "Irrlehrer, Juden und Heiden", sind subjektiv sicher ehrlich. Vernunft, oder wie immer wir den Sinn des vieldeutigen Wortes ratio aus der Sprachgemeinschaft der Magister und Mönche des 12. Jahrhunderts in unsere Zeit herüberholen, Vernunft lässt sich nicht instrumentalisieren. Indem er die Sentenzen, die einzelnen Aussprüche der Kirchenväter, in die sie den Glauben eingefangen hatten, an sich vorbeiziehen lässt, ihre Widersprüchlichkeit erfährt und gleichzeitig den Glauben als die eine Bewegung des Menschen zu Gott, als Antwort auf dessen Anruf - indem er dies erfährt, ändert sich sein Ort als Theologe... Die Menschen der Zeit bemächtigen sich des Glaubens. Der große Gegenspieler Abaelards, Bernhard von Clairvaux, tat dies nicht weniger als dieser, und beide hätten bestritten, es getan, ja auch nur gewollt zu haben. War für Abaelard die Vernunft das Medium der Aneignung, so für Bernhard die Heilige Schrift. Nicht mehr bloßer Text war sie ihm, sondern ordnende Kraft seiner mystischen Schau. Schon den Zeitgenossen war es aufgefallen: Die Heilige Schrift gebrauchte er so frei und leicht, dass man glauben mochte, nicht er folge ihr, sondern sie folge ihm, er selbst fahre sie dorthin, wohin er wolle, der Führung des Heiligen Geistes folgend, ihres Urhebers. Eine neue Zeit bricht an, ein neuer Geist weht, das Individuum wird sie prägen, seine Einstellung wird Neues erfahrbar machen. Individualismus und Subjektivismus wird man später das Neue nennen, die Zeitgenossen Bernhards und Abaelards spürten nur, dass Neues heraufzog, benennen konnten sie es noch nicht, und beide, Bernhard wie Abaelard, hätten sich in der Beschreibung des Neuen nicht erkannt, aber - Gegnerschaft kann hellsichtig machen - jeder hätte es dem anderen zugetraut, ja, hat es ihm zugetraut, als Vorwurf natürlich. Um zu verstehen, warum die konservativen Theologen der Zeit so aggressiv auf Abaelards Methoden reagierten, muss noch ein Weiteres bedacht werden. Abaelard stand im doppelten Abwehrkampf: Gegen die konservativen Theologen verteidigte er die Anwendung der Dialektik, gegen die Hyperdialektiker die Geheimnisse des Glaubens. Für seine Schüler war das erste nicht mehr notwendig. Sie waren bereits in der Selbstverständlichkeit der Dialektik aufgewachsen...

Logik – Dialektika – Sic Et Non

Es war es die Logik-Vorlesung, die die Studenten wie nach Maisoncelles so auch in den Parakleten zog. "Uns alle und von überall her führte das Fluidum heißer Logik zusammen", dichtete Hilarius. Er selbst war Mailänder, und so mögen Abaelards Hörer auch im Parakleten aus allen Enden Europas gekommen sein. Viele Hundert waren es der Überlieferung nach, im Laufe der etwa fünf Jahre, die Abaelard dort lehrte. Und hier zeigt sich eine fast unvorstellbare Schaffenskraft, wobei wir uns fragen müssen, welche Hilfsmittel Abaelard im Parakleten zu seiner Forschung zur Verfügung standen. Hatte er über die Jahre seit seinem Weggang aus Paris seine persönliche Bibliothek, seine Manuskripte retten können? Besorgten die Studenten ihm Bücher aus Chartres, Paris, Reims, schrieben sie Texte ab ? Wer besorgte Kerzen, Tinten, Pergament ? Wie alle frühmittelalterlichen Autoren begann Abaelard seine literarische Produktion mit der Kommentierung antiker Autoren. Als er im Parakleten zu lehren begann, hatte er bereits Kommentare verfasst zu Aristoteles, Porphyrius und Boetius. Aber während seiner Zeit als Leiter der Domschule in Paris muss er den Entschluss gefasst habe, eine Darstellung der Logik zu schreiben, die in der Fragestellung und der literarischen Gattung völlig selbständig sein sollte, allein geleitet von den sachlichen Problemen. Ja, Abaelard hatte den Ehrgeiz, selbst eine Autorität der Logik zu werden wie die, die er bisher kommentiert hatte. Er wollte Autor, nicht nur Kommentator sein. Irgendwann in den turbulenten Jahren nach der Katastrophe der Kastration und der Aufnahme in Saint-Denis muss er mit der Arbeit begonnen haben, ein erster Versuch, seinem Inneren wieder ein Ziel zu geben. Es entstand das Werk "Dialectica". Eine erste Fassung wurde in Einzelteilen bis zum Jahre 1118 fertig gestellt, eine überarbeitete Version in der Zeit von 1121 bis 1123, und auch noch später arbeitete er an dem monumentalen Werk, der ersten systematischen Darstellung der Logik im Mittelalter. Es ist unvollendet geblieben, der Anfang ist verloren gegangen. Aber auch in dieser Gestalt umfasst es im heutigen Druck 600 Seiten im Lexikonformat. Der Inhalt ist - Abaelards ehrgeizige Hoffnung hat sich nicht erfüllt - heute nur noch für wenig Leute interessant, denn dem logischen Genie Abaelard widerfuhr das Unglück, dass erst gegen Ende seines Lebens das ganze logische Werk des Aristoteles in Europa bekannt und dadurch alles früher Geschriebene als überholt angesehen wurde. Da aber hatte Abaelard nicht mehr die Zeit und die Kraft, sein Werk, sein Jugendwerk, völlig umzuarbeiten. Die geistige Arbeit, die wachsende Schülerzahl, der Erfolg stärkt Abaelards Selbstbewusstsein. So nimmt er seine Liebesgeschichte mit Heloïsa zum Anlass, den trockenen Stoff der Logik aufzulockern. Unverfängliche Sätze könnten noch die Beispiele für die Wunschform sein "Meine Freundin möge mich küssen" oder "Meine Freundin soll herbeieilen". Wenn er aber den Beispielsatz bildete "Petrus liebt sein Mädchen", dann wusste jeder Hörer Bescheid, und wenn der Satz umgekehrt wird "Sein Mädchen liebt den Petrus", dann werden die Studenten ihr Vergnügen gehabt haben. Souveränität des Lehrers, der wusste, dass jeder seiner Hörer seine Liebesgeschichte kannte und wusste, wie sie endete oder Überkompensation in der Betonung der Normalität, die für immer verloren war ?

Lohnt es sich für uns nicht, seine Logik darzustellen, so um so mehr seine Methodenlehre, durch die er im inhaltlichen Sinne der Vater der Scholastik und damit der europäischen Wissenschaft wurde. Das Problem, auf das sie Antwort geben sollte und das nicht Abaelard als erster erkannt hatte, war durch den Investiturstreit entstanden. In dieser ersten großen, gleichzeitig politischen und geistigen europäischen Auseinandersetzung im 11. Jahrhundert war gestritten worden über solche Fragen wie die, ob das Gemeinwesen von Gott gewollt sei oder eine Folge der Sünde, ob man dem König auch Gehorsam schulde, wenn er sich gegen die Kirche stellt, oder darüber, ob der Papst neue Gesetze geben und Kaiser und Könige absetzen dürfe. In dem Streit, der eine Fülle publizistischer Stellungnahmen hervorbrachte, stellten die Zeitgenossen plötzlich bestürzt fest, dass sich die geistigen und politischen Gegner häufig auf dieselben Bibelstellen und kirchlichen Autoritäten beriefen, sie aber im entgegengesetzten Sinne interpretierten. Dies bewirkte eine immer tief greifendere Verunsicherung. Der erste Autor, der die Situation klar formuliert und bereits Regeln über die Auslegung von Texten aufgestellt hatte, war der Kanonist Bernold von Konstanz (um 1054-1125) in seinem um das Jahr 1090 verfassten Werk "Über das Verbot des Umgang" mit Exkommunizierten, die Versöhnung der Sünder und die Autorität der Konzilien, der Kanones, der Decrete und der päpstlichen Decretalien". Fortgeführt wurden diese kirchenrechtlichen Überlegungen von Ivo von Chartres (um 1040-1116) und Alger von Lüttich (+1131). Solche Überlegungen greift Abaelard in seinen Vorlesungen im Parakleten auf. Aber wie immer, wenn er sich eines Problems annimmt, entsteht etwas Neues, Zukunftsweisendes. Während bisher die methodischen Überlegungen auf Rechtsfragen beschränkt blieben, bezieht Abaelard die ganze Philosophie und Theologie in seine Überlegungen ein. Und während ihm aufgeht, dass der gesamte Stoff der Überlieferung von Widersprüchen durchsetzt ist, entsteht ein neues Ethos der Wissenschaft, der methodische Zweifel...

Vor allem galt es zunächst, das Problem zu formulieren und eine Methode zur Lösung zu finden. Dem unterzog sich Abaelard im Parakleten, und es entstand ein einmaliges Werk, das der neuen Methode ihren Namen gegeben hat: "Sic et Non", "Ja und Nein". "Da bei der Fülle der Worte" - so beginnt er im Vorwort – "auch die Aussprüche selbst der Heiligen nicht nur verschieden, sondern auch einander widersprüchlich zu sein scheinen, ist es nicht leicht, darüber zu entscheiden." Einige Beispiele dafür sind etwa die Fragen, ob der menschliche Glaube durch die Vernunft bestärkt werde oder nicht (1. Frage), ob das Vorherwissen Gottes Ursache des Laufs der Dinge sei oder nicht (27. Frage), ob Gott Urheber auch des Bösen sei oder nicht (31. Frage), ob jemand nur wissend sündigen könne oder nicht (145. Frage), ob die Strafen der ungetauften Kinder im Hinblick auf die Strafen der übrigen Verdammten leichter seien oder nicht (158. und letzte Frage). Abaelard beantwortet die Fragen nicht, die er anhand der Überlieferung stellt, sondern sammelt lediglich für jede einzelne Belegstellen für eine bejahende und verneinende Antwort. Heute würden wir eine solche Arbeit eine Materialsammlung für Übungen nennen, und so ist sie wohl auch konzipiert worden. Die intellektuelle Arbeit steckt in der Einleitung. In Fortführung der Regeln des Bernold von Konstanz, Ivos von Chartres und Algers von Lüttich stellt Abaelard sechs Regeln auf: Erstens prüfe die Echtheit der Stelle, dann berücksichtige, ob der Autor seine Meinung vielleicht zurückgenommen oder selbst schon geändert hat. Weiterhin unterscheide, ob es sich um eine begründete Aussage oder eine beiläufig geäußerte Meinung handelt und prüfe dann, ob die Autorität Anspruch auf Geltung erhebt oder nicht; fünftens behandle den Gegensatz dialektisch durch Klärung der Wortbedeutungen in den sich widersprechenden Sätzen und zum Schluss stelle alles in einen Zusammenhang mit den anderen Autoritäten. Kern der methodischen Überlegungen ist die fünfte Regel: Abaelard sucht die Lösung des Problems vornehmlich in der dialektischen Behandlung des Stoffes. Dabei wird zum ersten Mal klar die methodische Regel formuliert, unterschiedliche Wortbedeutungen desselben Ausdrucks zu unterscheiden: "Die Auflösung eines Widerspruchs gelingt meistens leicht wenn man darstellen kann, dass derselbe Ausdruck von verschiedenen Autoren mit verschiedenen Bedeutungen verwendet worden ist." Voraussetzung dieser methodischen Vorschrift war die abgeschwächt nominalistische Position Abaelards. Für die Realisten durfte es keine verschiedenen Bedeutungen eines Wortes, eines nomen, geben, denn das Wort war Zugang zur ewigen, in Gott gedachten Idee. Für die extremen Nominalisten gab es nur die Einzeldinge der Welt Wissenschaft aber suchte die Gültigkeit des Allgemeinen. Abaelards logische Position ermöglichte die methodische Verwendung der europäischen Wissenschaftssprache: Die Bedeutung der Worte gestattet die Formulierung des Allgemeinen. Ganz modern mutet uns an diesen Ausführungen an, dass der Weg zur Wahrheit durch den Zweifel führt: "Zweifelnd gelangen wir zur Prüfung, prüfend erfassen wir die Wahrheit." Die entscheidende Frage war, ob man nach Anwendung aller Regeln, wenn sich ein Widerspruch zwischen zwei Autoritäten als unaufhebbar herausgestellt hatte, von der Ansicht eines Kirchenvaters - der Heiligen oder der Väter - abweichen, sie also eines Irrtums zeihen durfte. Diese Frage hatte schon Johannes Erigena beunruhigt, und er hatte folgende, vorsichtig in die Zukunft weisende Antwort gegeben, woraufhin er damals schon wegen Geringachtung der kirchlichen Autorität angegriffen worden war: Uns ziemt es nicht, über die Einsichten der Väter zu urteilen, sondern wir müssen uns fromm und ehrfurchtsvoll an ihre Lehre halten. Aber es ist uns gestattet, das aus ihren Lehren auszuwählen, was den göttlichen Ansprüchen nach dem Ermessen der Vernunft mehr zu entsprechen scheint. Johannes war überzeugt davon, dass letztendlich die wahre Vernunft mit der wahren Autorität, die Gott ist, nicht in Gegensatz treten kann, da beide eins sind. "Vernunft und Autorität sind Ausfluss der göttlichen Weisheit." Inzwischen war die literarische Produktion weitergegangen, Abaelard spricht von den Werken, "die in einer Unzahl von Büchern enthalten sind". In dieser Situation "hat der Leser oder der Hörer eigene Urteil darüber, was er annimmt, weil er es für richtig hält, oder was ablehnt, weil er es für anstößig hält". Nur die kanonischen Schriften im Alten und Neuen Testaments sind von dieser Freiheit ausgenommen. Was Abaelard hier vertritt und fordert, ist nichts weniger als die Freiheit der Forschung und Lehre in einer kirchlich autoritativ gebundenen Gesellschaft. Diese Ansicht hatte Sprengkraft. Die Tatsache, dass sich die Autoritäten in der Interpretation der Heiligen Schrift widersprachen, ließ sich für den Dialektiker nicht verbergen. Abaelard blieb aber nicht dabei stehen, dies festzustellen und als Konsequenz daraus zu folgern, dass man dann die Freiheit haben müsse, sich für die Autorität zu entscheiden, für die man die besseren Gründe habe. Für einen Logiker erstaunlich, zeigte er ein historisches Verständnis der Entwicklung theologischer Lehrmeinungen. Jede Zeit hat ihre eigenen theologischen Fragestellungen, und nur auf diese antworten die Väter in ihrer jeweiligen historischen Situation. "Es genügte ihnen, die Probleme zu lösen, die sich ihnen stellten, und die Zweifel der eigenen Zeit zu beheben. Ihren Nachfolgern gaben sie damit ein Beispiel, wie man ähnliche Probleme behandeln muss, wenn sie sich ergeben." Ist so die geschichtliche Dimension theologischer Fragestellungen eröffnet, so geht Abaelard noch einen Schritt weiter und weitet sie zur heilsgeschichtlichen aus. Das Glaubensgut, wie es durch das Wirken des Heiligen Geistes als Offenbarung den Propheten und Aposteln in Mund und Feder diktiert wurde, übersteigt immer die Einsichtsfähigkeit dieser Werkzeuge Gottes wie die ihrer Hörer und Leser. Immer hat Gott mehr gesagt, als Menschen verstehen können. So hat jede Zeit und jeder Mensch einen je spezifischen Zugang zu den unendlich interpretierbaren Texten der Heiligen Schrift. Mit dem Hl. Gregor lehrt Abaelard: "Beim Verstehen der Heiligen Schrift darf man nur zurückweisen, was dem gesunden Glauben widerspricht. Wie aus dem einen Gold die einen Halsketten, andere Ringe und wieder andere Armreifen fertigen, alles als Schmuckstücke, so stellen die Ausleger aus den Sätzen der einen Heiligen Schrift durch immer neue und unerschöpfliche Einsichten gleichsam die verschiedensten Schmuckstücke zusammen, die alle zusammen die Schönheit der himmlischen Braut vermehren." Damit ist es Abaelard gelungen, "der Theologie einen Sinn zu geben, der sie sowohl von der Exklusivität eines Anselm von Canterbury wie auch von dem zeitlosen Traditionalismus eines Anselm von Laon befreit. Der Logiker Abaelard hat die Geschichtlichkeit theologischen Fragens und Antwortens entdeckt. Theologische Auslegungen der Heiligen Schrift ist Auslegung im Rahmen einer konkreten geschichtlichen Situation und der Probleme, die sich Menschen in dieser Situation stellten.

Planctus

In der körperlichen und seelischen Not, in der jahrelangen völligen Verlassenheit in St. Gildas wurden die Erinnerungen immer dichter, immer drängender und durchbrachen eines Tages den seelischen Käfig, in dem Abaelard eingesperrt war. "Ich überdachte und beklagte, welch unnützes und elendes Leben ich führte, unnütz für mich und unnütz für andere, wie ich früher meine Studenten unterrichtete und ich nun, da ich sie der Mönche wegen verlassen hatte, weder ihnen noch den Mönchen etwas geben konnte. Ich verzweifelte schier, wenn ich daran dachte, was ich verlassen und was ich angetroffen hatte." Mit diesen Worten spricht Abaelard den ersten Grund seiner Verzweiflung aus, die intellektuelle Trostlosigkeit seines Daseins. Hinzu kam ein Zweites, seine Unfähigkeit, der religiösen und kirchenrechtlichen Pflicht zu genügen, den Gottesdienst im Parakleten aufrechtzuerhalten. "Den Parakleten, den Tröster, habe ich verlassen, in die sichere Verlassenheit habe ich mich gestürzt. Um den drohenden Schrecken zu entgehen, wählte ich die sichere Gefahr des Untergangs. Am meisten quälte mich aber, dass ich die geweihte Kapelle verlassen hatte, ohne dafür sorgen zu können, wie es meine Pflicht war, dass der Gottesdienst gefeiert werde. Das Besitztum war so arm, dass nicht einmal ein Geistlicher unterhalten werden konnte." Ein Drittes können wir nur ahnen. Abaelard berührt es in seiner Biographie mit keinem Wort. Wo war für ihn Heloïsa? Wo war sie für ihn in Saint-Denis, in Maisoncelles, in Soissons, im Parakleten, in Saint-Gildas ? Räumlich einmal nah, dann weit, weit fort. Wo aber und wer war sie in der Erinnerung ? Wie drängten sich dem Verschnittenen die Bilder der Lust auf, wie erfuhr der Mann die Verzweiflung über Unwiederbringliches, wie der Mönch die Reue über die Beleidigung Gottes ? Und wie dachte Abaelard an die Heloïsa der Gegenwart ? Über all das schweigt Abaelard. Aber der seelische Druck wurde immer stärker, musste umgesetzt werden, suchte sich eine Ausdrucksform. Und so wurde Abaelard wieder zum Dichter. Nicht mehr Liebeslieder dichtete und komponierte er, carmina amatoria, wie in Paris, sondern Klagelieder, planctus. "Ich überdachte und klagte." Und wieder waren die Lieder für das Mittelalter eine Neuheit. Sechs Klagelieder sind erhalten, und alle haben alttestamentliche, menschlich aussichtslose Situationen zum Gegenstand. Es klagt Abaelard über den Mord der Söhne Jakobs an dem Schänder und Ehemann seiner Tochter Dina (1. Mos.34), es klagt Jakob über seine verlorenen Söhne (1. Mos.35,16-20; 37,18-35; 42,24,36), es klagen die Töchter Israels über die Tochter Jephtas des Galaditen, der sie Gott als Opfer bestimmte (Ri. 11,29-40), es klagt Israel über Samson, der sich opferte zu Israels Rettung (Ri. 16,23-31), und es klagt David über seinen Sohn Abner, den Joab tötet (2. Sam.3,22-39), und über das Ende Sauls und Jonathans. (2. Sam. 1,17-27). In all diesen Liedern verdichtet sich die düstere Stimmung jener Jahre zu ergreifenden Texten, und immer wieder finden sich Sätze, die zwar von alten Zeiten und anderen Menschen sprechen, die aber Worte Heloïsas oder Abaelards sind, gesprochen aus ihrer Not: "Du Teil meines Lebens, Um Willen welcher Sünden und Missetaten Hat man uns auseinander gerissen ? Größeres, als Liebe tut, gibt es nicht. Weiterleben ist dauerndes Sterben für mich, Denn eine halbe Seele genügt zum Leben nicht." So klagt David über Jonathan, oder klagt Heloïsa über Abaelard oder Abaelard über Heloïsa? Im ersten Lied ist es Abaelard selbst, der das Schicksal Dinas bejammert, die von dem Sohn des Königs entjungfert wurde, der sie liebte und ihr die Ehe anbot. Jakob schloss den Vertrag, der Königssohn heiratete Dina, aber die Brüder konnten die Schmach ihrer Schwester nicht vergessen und ermordeten den Mann ihrer Schwester und mit ihm alle Bewohner seiner Stadt. Und so klagt Heloïsa mit den Worten Dinas in einem Lied, das, abweichend von den anderen, Abaelard ausdrücklich sich selbst in den Mund legt, Heloïsa aber sprechen lässt: "Die Beute eines unreinen Mannes wurde ich, Bezaubert vom Spiel des Verderbens. Wehe mir Elenden, Die sich selbst verdarb. Die Ekstase der Liebe heiligt die Schuld, Wem steht das Urteil zu, wer mindert das Vergehen? Die Jugend, die Leichtigkeit dieses Alters, Muss der Züchtigung Grenze sein." Die oben beschriebene Szene, in der Heloïsa ihren Schleier als Nonne nimmt und Abaelard in seiner Selbstbiographie ihr Worte des heidnischen Dichters Lukan in den Mund legt, verdichtet er in dem Klagelied über die Tochter des Jephta in zwei Kurzzeilen: "Lass dann die Liebe schweigen, Und führe mich dem Herren zu." In beiden Texten ist Abaelard die Bezugsperson. Ihm, nicht Gott, bringt Heloïsa das Opfer der Jugend, er führt sie Gott als Nonne zu, nicht ihr eigener Entschluss. Die Klagelieder zeigen, wie die Verzweiflung der jahrelangen seelischen Einsamkeit Abaelard zu dem Wagnis zwingt, unbestimmt erst noch und ohne sich innerlich wieder auf Heloïsa einzulassen, Trauerarbeit zu leisten, Kräfte der Selbstbehauptung gerade aus der Katastrophe zu gewinnen. Im Anschluss an die wiedergegebene Klage über den verlassenen Parakleten schreibt Abaelard: "Allein der wahre Tröster schenkte mir in meiner tiefsten Trostlosigkeit den wahren Trost und sorgte für sein eigenes Haus, wie es Not tat." Die Sorge für das Haus des Tröstergottes: Abaelard schenkt Heloïsa den Parakleten. Der Trost: Gemeinsam gründen sie ein Kloster für Nonnen, entwerfen eine Theologie der Frau und erarbeiten eine neue Ethik. Erst jetzt werden sie ein nicht mehr trennbares Paar, für ihr eigenes Leben und für alle nachkommenden Zeiten : Abaelard und Heloïsa, Heloïsa und Abaelard.

Historia Calamitatum

Abaelard hatte den Durchbruch erreicht, den Durchbruch in der Verabschiedung der alten Strukturen des überkommenen Klosterwesens, den Durchbruch durch die Verzweiflung hin zur Öffnung für Heloïsa. Ab jetzt wird er nur noch Lehrer sein, allein auf die Autorität des Individuums gestellt, Lehrer der Frauen und Lehrer der Jugend. Die neue Lebensform, der endgültige Inhalt seines Lebensplanes veranlassten Abaelard zur Dokumentation des Vergangenen. Er verfasste eine Autobiographie, die "Historia calamitatum", die erste geschlossene Autobiographie des Mittelalters... Abaelard knüpft an den Typ der epistula consolatoria, des Trostbriefes, an, wie er für das Mittelalter in den Briefen des Seneca exemplarisch geworden war. Während der antike Trostbriefzuspruch dadurch gewährt, dass Schreiber und Empfänger im Erlebnis des Leidens gleichberechtigt sind, eigenes Leid der Schlüssel zum Verständnis fremden Leids wird, entwirft Abaelard eine ganz andere, eine geradezu harte Konzeption: Sein, Abaelards Leid steht so hoch über anderem Leid, dass dieses andere dagegen verblassen, sich auflösen muss. Diese Konzeption hält er im ganzen Werk durch, das ihn nie einfach anders als andere Menschen zeigt, Individualität gegen Individualität setzt, sondern ihn immer nur größer als andere. Die Einzigartigkeit des Individuums ist nicht Andersheit, sondern Größe. Als Logiker ist er scharfsinniger als andere, als Philosoph einsichtiger, als Liebender besser und als Theologe neuer. Abaelards Trostbrief, seine Leidensgeschichte, will nicht andere trösten, nicht den imaginären Freund, nicht Heloïsa, die den Brief angeblich zufällig zu Gesicht bekam, sondern sich selbst. Selbsttröstung durch Sinngebung und Selbstrechtfertigung ist die innere Bewegung, die dem Werk zugrunde liegt. "Es ist genau diese Verbindung von Selbsttröstung und Selbstrechtfertigung, die den eindrucksvollen Inhalt der Historia calamitatum ausmacht" (Ch. D. Ferguson). Die Einheit des Werkes wird erreicht, indem auf zwei Ebenen die Einzelereignisse des Lebens in einem sich wiederholenden Schema zu einer Erzählung, einer narratio, verbunden werden, der sichtbaren Welt von Ursache und Wirkung und der göttlichen Welt von Gnade und Sünde. Die Kategorien, mit denen er sein für jedermann sichtbares Leben beschreibt, sind Genie (ingenium), Ehre und Ruhm (gloria und fama), Neid (invidia) und Leid (calamitas). Die göttliche Welt, in der sein Leben exemplum, Beispiel, wird, liefert die Kategorien Gnade (gratia), Sünde (peccatum), Strafe (poena) und Rettung (redemptio). Sein Genie, das ihn über alle erhebt, ist göttliche Gnade. Ihr verdankt er seinen Beruf als Lehrer, ihr seine alle anderen überragenden Fähigkeiten, ihn auszuüben. Von dieser Einzigartigkeit war Abaelard immer überzeugt. Dieses Genie war seine Ehre, diese Ehre bewirkte seinen Ruhm über alle Lande und Grenzen. Der Ruhm aber rief den Neid der anderen, der geringeren hervor. Und so verfolgten sie ihn, teils offen, teils im verborgenen. Zeitlebens, scheint es, hatte Abaelard Angst vor Verfolgungen, vor Verletzungen, wobei die Quellenlage es uns nicht gestattet zu entscheiden, ob dies erst eine Folge der Kastration war, die frühere Verfolgungsangst also nachträgliche Interpretation, oder ob diese Verfolgungsangst wirklich sein ganzes Leben bestimmte. Der stete Rückhalt, den er beim Klan des Königs suchte, findet von hier aus eine mögliche Erklärung. Diese Verfolgungen erlebt Abaelard als Leid, dieses Leid aber hat einen Sinn. Sein Genie führte ihn zu den beiden Sünden, seine Überzeugung, der beste Liebhaber zu sein, zu Sinnlichkeit und Unzucht, und seine Überzeugung, der beste, ja einzige Philosoph und Theologe zu sein, zu der des Stolzes. Und so war das Leid, das ihm die anderen aus Neid zufügten, wieder Gnadenangebot Gottes. In seiner Ethik wird er später ausführen, dass die Sünder, auch wenn sie sündigen - Abaelard verfolgen und verletzen -, Gottes Ordnung dienen. "Als ich in unbändigem Eigendünkel den Dank für die göttliche Gnadenführung vergessen wollte, da hat Gottes Gnade mich gedemütigt umd für Gottes Reich gerettet." Was weltlich als sich wiederholende Abfolge erscheint - Genie, Ruhm, Neid und Leid -, ist bei Gott der Kreislauf vcm Gnade, Sünde und Strafe als neuer Gnade. Abaelards Autobiographie enthält nicht Ansätze zu einer Analyse seines Selbst. Im Gegenteil beinhaltet sie erstaunliche Beispiele dafür, wie er sich selbst und die Handlungsweisen der anderen missversteht, wenn er beides mit seinen Kategorien beschreibt. Abaelards Absicht ist eine andere: "Er sucht nicht sich zu verstehen, sondern die Bedeutung seines Lebens" (E. B. Vitz). Diese gefunden zu haben ist die Voraussetzung für "die neue Ausübung seines Lehramtes, aber auch für das Durchstehen der Spannung mit Heloïsa. Die Jahre um 1135 sind eine Krisis seines Lebens, die zu zwei Entscheidungen führt: Sein Lebensinhalt wird der Aufbau der utopischen Frauenkommunität des Parakleten zusammen mit Heloïsa, und er beginnt wieder, öffentlich zu lehren.

Der Briefwechsel – die gemeinsame Ethik des Paares

Das Zeitalter knüpfte Strafe seit Alters her an Äußerliches: Einen freien Mann erschlagen, so und so viel Wehrgeld, eine Frau von hinten besteigen, die und die Kirchenbuße. Endlos ist die Kasuistik der Germanenrechte, und endlos sind die Listen der Poenitentiarien, der Bußbücher. Moral und Recht waren eine Frage des Äußerlichen, der Werke. Imputationstheorie nennt man diese archaische Lehre, die Abaelard so formuliert : "Nach der Beschaffenheit der Werke richtet sich die Beschaffenheit der Vergeltung, denn so wie die Werke sind, wird die Vergeltung sein, für gute Werke Gutes, für schlechte Werke Schlechtes, aber" - so fügt er hinzu – "bei Gott wird nicht das Werk, sondern die Absicht vergolten." Werk, das ist bei Abaelard eine menschliche Handlung, insoweit sie von außen, mit körperlichen Augen gesehen werden kann. Eine einfache Überlegung führte Abaelard zur Ablehnung dieser überkommenen Lehre. Gott der Allmächtige kann durch menschliches Tun nicht gestört, nicht beeinträchtigt werden, aber auch in seiner Glückseligkeit nicht vermehrt, gefördert. Sünde besteht in der Beleidigung Gottes und Tugend in der Liebe. Beides aber sind Haltungen, die nicht aus äußerem Tun, einem Werk (opus) ersichtlich sind, sondern allein der inneren Einstellung der Seele (animus) entspringen. "Gott kann also nicht durch eine Übeltat (dampnum), sondern nur durch Missachtung (contemptus) beleidigt werden." Missachtung liegt aber nur in dem, was wir innerlich bejahen, dem wir zustimmen. Dieser uns harmlos klingende Satz führte Abaelard zu einer Umwertung der ganzen bisherigen Anthropologie des Menschen im Stande der Erbsünde. Ihr Kernsatz war, dass die Folge der Erbsünde die böse Begierde und diese bereits sündhaft ist. Demgegenüber lehrt Abaelard : "Nicht eine Frau begehren ist Sünde, sondern der Begierde zuzustimmen, nicht der Wille, mit ihr zu schlafen, ist verdammenswert, sondern die Zustimmung (consensus) zu diesem Willen." Wenn die Sünde aber ausschließlich im Konsens liegt, dann ist die Ausführung der Handlung moralisch indifferent." Die Ausführung der Sünde fügt zur Schuld und zur Verdammung nichts hinzu." Dem Einwand gegenüber, dass die Lust und der Spaß an der Sünde doch gerade in der Ausführung liege, fordert Abaelard seine Gegner - und dies ist die gesamte für seine Zeitgenossen maßgebliche Tradition - auf, nachzuweisen, dass Lust in sich selbst Sünde sei. Natürlich kannte Abaelard den Papst Gregor dem Großen zugeschriebenen Satz "Die Lust kann nie ohne Sünde sein", aber er zitiert diesen Satz nie, er widerlegt ihn nicht, sondern appelliert an die Einsicht in seine Unsinnigkeit. Kühn sich über die Tradition hinwegsetzend, führt er als Argument ad absurdum an, was die Tradition ausdrücklich gelehrt hatte und die Moraltheologie nach ihm lehren wird: "Nehmen sie das aber wirklich an, so darf niemand fleischlichen Genuss (carnalis delectatio) haben. Dann sind weder die Eheleute frei von Sünde, wenn sie sich erlaubt in fleischlicher Lust vereinen, noch jener, der im Verzehr köstlicher Speisen den Ertrag (seiner Arbeit) genießt. Schuldig wäre dann der Herr" - so bringt der Logiker, unbekümmert um die Gefühle der anderen, sein Argument auf den Punkt – "der unseren Leib und solche Speisen schuf." Und dann formuliert er sein Ergebnis, das die gesamte bisherige Sexualethik der Kirche ablehnt: "Ich bin der Ansicht (arbitror), dass kein fleischlicher Genuss Sünde ist und dass es niemandem als Schuld zuzurechnen ist, der sich beim Genuss in einem Zustand befindet, in dem man Lust notwendigerweise empfindet." Wenn der Penis zustimmungslos steif wird, der Alptraum des Augustinus und aller ehelosen Kirchenleute, berührt das die Ethik so wenig, wie das Zusammenzucken des Auges beim Blitzeinschlag. Die Sexualität hat für Abaelard die Unheimlichkeit verloren, die Augustinus, Hieronymus und Bernhard so tief verstörte. Der Weg in eine repressionsfreie Ethik war gezeigt, aber die Kirche konnte ihn nicht gehen, weil Repression die Haltung mittelalterlicher Amtskirche war. Nichts Äußeres ist aus sich heraus Sünde, nicht essen, nicht töten, nicht bei einer fremden Frau liegen, nicht falsches Zeugnis geben. Nur wenn Gott Äußerliches ausdrücklich verboten hat und der Mensch aus Missachtung Gottes dieses dennoch tut, ist es Sünde. "Bekanntlich werden gute und weniger gute Werke von guten und von schlechten Menschen getan, wobei allein die Absicht (intentio) beide scheidet." Soweit nach Abaelards Lehre, der darin den spätmittelalterlichen Voluntarismus und die Lehre der Reformation vorwegnimmt, allein Gottes positiver Gesetzesbefehl eine Handlung verboten oder geboten macht und der innerlich geleistete Gehorsam eine Handlung gut und der bejahte Ungehorsam eine Handlung schlecht machen, verbleibt Abaelard im Rahmen kirchlicher Lehre, wonach der Gehorsam die grundlegende Pflicht der Menschen ist. Biblisch hat sie ihren Ursprung in der Ursünde der Menschen, die im Ungehorsam gegenüber Gottes Gebot lag (1. Mos.3,1-13) und in der Paulinischen Erlösungslehre: "Wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen zu Sündern wurden, so werden auch durch den Gehorsam des einen die vielen zu Gerechten gemacht werden" (Rom.5,19). Aber Abaelard tritt nicht für einen exzessiven Gehorsam ein wie die kirchliche Lehre im Mittelalter und auf ihr gründend die weltlichen Staatstheoretiker der frühen Neuzeit, sondern bindet seine Lehre von der Sünde und der Tugend an seine Lehre von der Liebe. Kein einziges Mal zitiert er Augustinus dort, wo er von seiner Grundlage der Sündenlehre und der Sexuallehre abweicht, aber die Verbindung zwischen Sünde und Egoismus, Tugend und Liebe stellt er durch ein Augustinus-Zitat her: "Der selige Augustinus... bezog daher alle Gebote und Verbote auf die Liebe oder die Selbstsucht und nicht auf die Werke, indem er sagt: Nichts gebietet das Gesetz außer der Liebe, und nichts verbietet es außer der Selbstsucht.” Und wieder ist Abaelard ganz nah an dem Satz: "Liebe und tu, was Du willst!” Abaelard geht aber noch einen Schritt weiter in der Überwindung der überkommenen Lehre. Begründete seine Ansicht, dass nur die Zustimmung zu einem Affekt, einer Begierde, einer Charakterschwäche, dass nur der Konsens etwas zur Sünde machen kann, die Gesinnungsethik, die das Gutsein oder Schlechtsein von Menschen völlig unabhängig macht von ihrem äußeren Tun, theologisch gesprochen von ihren Werken, so führte er diese Lehre noch in zwei Stufen konsequent fort. Der erste Schritt führt zur Situationsethik. Nicht die - wie Juristen sagen würden - tatbestandsmäßig zu beschreibende Eigenart eines Verhaltens macht es gut oder schlecht. Jede äußerlich beschreibbare Handlung, jedes Werk "ist in sich indifferent, ist weder gut noch schlecht". Wenn das so ist, dann kann dasselbe Tun einmal gut und einmal schlecht sein. "Wenn derselbe Mensch zu verschiedenen Zeiten dasselbe tut, so wird es dennoch einmal gut und einmal schlecht genannt, je nach der Verschiedenheit der Absicht." Die Beispiele, die Abaelard bringt, sind einfach und immer dieselben. Töten - ein in seiner Zeit alltäglicher Vorgang - töten aus Habgier, aus Notwehr, im Dienst des Herrn, als Richter: Nur auf die Umstände kommt es an und die Absicht. Bei einer Frau liegen, bei der eigenen Frau, um Kinder zu zeugen, um den Geschlechtstrieb (concupiscentia) zu befriedigen, bei einer fremden Frau, aus Irrtum, von jemandem gefesselt zu ihr gelegt, einfach, um sich mit ihr zu verlustieren, in der Vergewaltigung: Nicht die Handlung ist gut oder schlecht, sondern die richtige, der Situation angemessene Einstellung ist entscheidend. Nicht "das Gute tun" (bonum facere) darf das Ziel der Menschen sein, sondern das, was man tut, "gut tun" (bene facere). Etwas gut tun, zwei knüpfen einen Menschen auf, der eine handelt aus Zorn, Rache oder Hass - seine Handlung ist schlecht -, der andere aus Liebe zur Gerechtigkeit - seine Handlung ist gut. Und wieder treibt Abaelard das Argument auf die Spitze, spielt er mit den Worten, trifft er sein Zeitalter im Kern. Herrschaftsgewalt, die ein Großer ausübte, entstand in der Zeit des Lehnwesens aus der Mannschaft seiner Leute, aus der traditio personae, durch die ein Lehnsmann versprach. Gehorsam und Ehrerbietung zu leisten. Die traditio konstituierte die frühmittelalterliche Herrschaftsordnung. Aber sie ist nicht in sich gut, sie kann Verrat sein und Hingabe, Heil bewirken und ewige Verdammnis. "In derselben Handlung sehen wir Gott den Vater und Judas den Verräter. Durch Gott den Vater geschah die Hingabe - traditio - des Sohnes, und durch den Verräter. Es war der Wille des Vaters, den Sohn den Henkern zu übergeben (tradere), und wenn der Verräter nur dasselbe wollte, was Gott will, auch dann hätte er nicht gut gehandelt." Wenn Petrus etwas will und Paulus will, was Petrus will, dann sind die "Willen" von Petrus und Paulus nicht identisch. Mit der Vorsehung dürfen sich Menschen nicht entschuldigen. "Und - so schrecklich es auch ist, es auszusprechen - manchmal ist ein Wille gut, wenn er will, dass von einem anderen Böses geschehe, wenn er dies nämlich in guter Absicht will. Oft will nämlich Gott durch den Teufel oder einen Tyrannen jene züchtigen, die unschuldig sind oder die Züchtigung - menschlich gesehen - nicht verdient haben, zur Reinigung von Sündenschuld etwa, zur Vermehrung ihres Verdienstes, als Beispiel ihrer Ergebung in Gottes Willen oder sonst aus einem vernünftigen Grund, mag er auch uns Menschen verborgen sein." Wird so aus moralisch gleichgültigen, indifferenten Handlungen eine gute Handlung nur durch die Ergebung in Gottes Willen und eine schlechte durch Ungehorsam, liegt die Sünde nur in der Beleidigung, dann kommt es in erster Linie gar nicht darauf an, was Gott von den Menschen wirklich verlangt - darüber können sich Menschen irren und haben sie sich in der Geschichte mit schauerlichen Konsequenzen geirrt -, sondern darauf, wovon der einzelne glaubt, dass Gott es verlange. Und so führt Abaelard ein subjektives Element in seine Lehre vom rechten Handeln ein. "Sündigen ist, den Schöpfer verachten, das heißt, das nicht tun, wovon wir der Ansicht sind, dass wir es seinetwegen tun müssen." Immer wieder verwendet Abaelard diese Formulierung. Aber natürlich darf sich nicht jeder einzelne einfach ausdenken, was zu tun das Richtige ist. Die feste Überzeugung, so und nicht anders handeln zu müssen, macht ein Handeln gut oder böse. Und für diese Überzeugung führt Abaelard den Begriff ein, der schon in der Antike, bei den Philosophen der Stoa und den Kirchenvätern, eine Rolle gespielt hatte: das Gewissen. Aus der Gesinnungsethik wird über die Situationsethik die Gewissensethik. Abaelard verzichtet völlig darauf zu sagen, was das Gewissen ist. Die Kirchenväter und die Hochscholastik haben viel Unsinn darüber geschrieben, ethisch unbrauchbar. Abaelards Lehre lässt sich so umschreiben: Die vom Menschen in der Liebe Gottes und der Haltung des Gehorsams gewonnene Überzeugung, dass dies oder jenes zu tun gut und dies oder jenes zu lassen schlecht ist, ist sein Gewissen. Und dies führt Abaelard zu dem Satz: "Nur das, was gegen das Gewissen getan wird, ist Sünde." Und wieder exemplifiziert Abaelard es mit den Beispielen, die seinen Zeitgenossen äußerstes Ärgernis sein mussten. Hatte nicht Jesus seinen Jüngern prophezeit: "Es kommt die Stunde, in der jeder, der euch tötet, meint, Gott einen heiligen Dienst zu leisten" (Joh.16,2)? Die Henker der Märtyrer, die glaubten, Gott wohlgefällig zu sein, hatten nicht gesündigt, da sie Gott nicht beleidigen wollten. Die Henkersknechte Jesu vollstreckten einen Befehl, und die Juden des Hohen Rats handelten in ihrem Glauben. "Die Christus nicht kannten und daher den christlichen Glauben ablehnten, weil sie meinten, er sei mit ihrer Gottesvorstellung unvereinbar, wie sollten sie Gott in dem beleidigen, was sie seinetwegen taten und von dem sie daher meinten, es gut zu tun?" Hatte doch Jesus ihren Irrtum selbst bestätigt: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" (Luk. 23,34). Die Juden - keine Gottesmörder! Abaelard stieß in das Herz seiner Zeit. Und so lautete der zehnte Anklagepunkt gegen Abaelard auf dem Ketzerkonzil von Sens, dass er gelehrt habe, "dass diejenigen nicht gesündigt hätten, die Christus im Irrtum kreuzigten". Mehr als 800 Jahre wird es dauern, bis die katholische Kirche diesen einfachen Gedanken Abaelards über ihr Verlangen nach einem Feindbild stellen wird, einem Feindbild, das von der Zeit Abaelards bis in unser Jahrhundert Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Bisher war nur von Abaelard die Rede. Gewiss, er hatte als literarische Kuriosität in seinem Jahrhundert eine Ethik geschrieben und ihr den Untertitel gegeben "Scito te ipsum" – "Erkenne Dich selbst!" - den Sinnspruch des Delphischen Orakels. In der Abfolge der Schriften aber war es Heloïsa, die zuerst die Gesinnungsethik formulierte. Ihre persönlichen Briefe an Abaelard wurden vermutlich zwischen den Jahren 1132 und 1137 geschrieben, Abaelards Römerbrief-Kommentar, in dem der Gewissensbegriff eine wichtige Rolle spielt, zwischen 1133 und 1137 und seine "Ethik" zwischen 1137 und 1139. Nun lässt sich der Urheber eines Gedankens nicht einfach nach dem Zeitpunkt dessen erster schriftlicher Fixierung bestimmen und schon gar nicht aufgrund eines Textes wie des Briefwechsels, dessen Entstehungsgeschichte völlig ungeklärt ist. Mündlich hatte Abaelard seine ethischen Ansichten vermutlich schon im Parakleten vorgetragen. Entscheidend für Heloïsa als Mitbegründerin der Gewissensethik spricht, dass diese Ethik sich bruchlos einfügt in ihre Argumentation in den persönlichen Briefen. In den beiden Briefen wird die Argumentation durch die ethische Grundanschauung des Paares bestimmt. Im 2. Brief ist die erste ethische These gleichsam beiläufig eingestreut. Heloïsa referiert ihre Argumentation gegen die Eheschließung, die sie vor über 15 Jahren Abaelard gegenüber vorgebracht hatte. Und als sie in der Darstellung der ganz persönlichen, inneren, einzigartigen Beziehung, in der sie zu Abaelard steht, und der sie das alte, aber neu verwendete Wort "Liebe" gibt und in der Ablehnung der übermächtigen gesellschaftlichen und rechtlichen Institution der Ehe zu den verächtlichen Ausdrücken "Konkubine" und "Hure" greift, da fügt sie, fortgerissen von ihrer Anklage gegen die gesellschaftlichen Zwänge, in denen sich die Frauen ihrer Zeit befinden, einen Exkurs ein. Liebenswerter und würdiger erscheint es mir, Deine Hure zu heißen als seine (des Kaisers ) Kaiserin. Denn nicht ist etwa derjenige besser, der reicher ist und mächtiger, denn letzteres ist Gabe des Glücks (fortuna), ersteres Folge des Verdienstes (virtus). Und jene, die lieber einen Reichen heiratet als einen Armen, darf nicht meinen, sie sei keine zum Kauf ausgestellte Ware. Ihr Begehren richtet sich nicht auf den Mann, sondern auf sein Vermögen, und welche solches Begehren zur Ehe führt, die verdient Hurenlohn (merces), nicht dankerfüllte Liebe (gratia). Kern dieser Argumentation, die sie dann zu einem grundsätzlichen Angriff auf die zeitgenössische Eheinstitution führt, ist das Auseinanderreißen der im frühen Hochmittelalter immer zusammen gedachten Sphären des Guten und Mächtigen, der sich im Reichtum zeigenden Kraft und Tüchtigkeit. Jetzt, im heraufkommenden oder doch von Abaelard und Heloïsa ersehnten Zeitalter der Kirche der Armen und des Geistes, jetzt ist virtus nicht mehr die Tüchtigkeit der Helden, im Kampf gegen Tod und Teufel und Sarazenen oder auch nur gegen den Nachbarn, dem man zur eigenen Ehre Land, Gold oder Frau raubt. Jetzt ist virtus die Kraft der Selbstlosigkeit, die Liebe, nicht um des Lohnes, sondern des Gehabten willen. Virtus ist Kraft der Seele, nicht des Erfolges. Nicht in der Wirkung einer Handlung (rei effectus), sondern in dem Willen des Handelnden (efficientis affectus) liegt die Schuld. Nicht auf das, was geschieht, kommt es an, sondere darauf, in welcher Gesinnung (animus) es geschieht. Dann zieht Heloïsa die Konsequenz aus dieser Überlegung. Sie hatte in ihrer Hingabe an Abaelard gegen alle Vorschriften verstoßen, denen Frauen ihrer Zeit Unterlagen. Sie hat ihre Jungfrauenschaft vor der Ehe verloren, sie hatte die Ehe, die ihre Verfehlung gutgemacht hätte, abgelehnt, und auch als Nonne und Äbtissin bejahte sie diese Liebe, stellte sie über die Liebe Gottes. Konnte man am Anfang sagen, dass auch sie die Lust suchte, die Freude der körperlichen Liebe, die Genugtuung des Stolzes, die Geliebte Abaelards, des Genies, zu sein, so zeigte das Ende, dass das alles für sie nicht wichtig war. "Während ich mit Dir die sinnlichen Freuden genoss, da konnten viele unsicher darüber sein, ob ich aus Liebe oder aus Genusssucht handelte. Jetzt aber zeigt das Ende, woraus mein Verhalten erwuchs. Ich habe mir schließlich alle Freuden versagt, um Deinem Willen gehorsam zu sein. Nichts habe ich mir zurückbehalten außer dem einen, gerade so die Deine zu werden." Im Gehorsam aus Liebe trennte sie sich von dem Ziel dieser Liebe. "Was ist unbegreiflicher zu nennen, in solchen Wahnsinn schlug meine Liebe um, dass sie das, was sie allein erstrebte, dass sie das sich entriss ohne jede Hoffnung, es je wieder zu erlangen." Heloïsas Liebe war amor purus, reine Liebe, aber nicht Liebe zu Gott, sondern zu Abaelard. Und so ist nicht Gott, sondern Abaelard ihr endgültiger Richter, und den Maßstab des Gerichts liefert die Gesinnungsethik. "Nicht die Wirkung der Handlung (rei effectus), sondern die innere Verfassung des Handelnden (efficientis affectus) unterliegen dem Urteil. Nicht was geschieht, sondern aus welcher Gesinnung (animus) es geschieht, wägt die Gerechtigkeit. Welche Gesinnung ich Dir gegenüber hatte, kannst nur aus Erfahrung wissen und beurteilen. Deinem Urteil unterwerfe ich mich völlig. Deinem Spruch füge ich mich in allem."

Erlösung durch Liebe – die neue Rechtfertigungslehre

Dass Gott den Menschen unsterblich geschaffen hatte und bestimmt zur ewigen Seligkeit, dass der Teufel aber Eva und Eva Adam zum Ungehorsam verführte und diesem Ungehorsam Tod und Verdammnis als Strafe folgen, dass die Menschheit durch den Opfertod Jesu Christi erlöst und der Tod zwar als Strafe nicht genommen, den Auserwählten aber die ewige Seligkeit wieder geschenkt war, das alles war Glaube der Christen von Anfang an. Von all dem ist in der Botschaft Jesu in den überlieferten Evangelien zwar wenig zu lesen, aber der Apostel Paulus, der in der Thora-Schule des Gamaliel ausgebildet und vom Judentum zum Christentum übergetreten war, hatte das Bedürfnis nachzuweisen, dass die neue Lehre die jüdische Tradition nicht verneinte, sondern überwand. So verkündigte er nicht nur die Botschaft Jesu, die er selbst nie gehört hatte, sondern er dachte auch über sie nach. Adam und Christus wurden ihm so zu den Vätern zweier Geschlechter. "Durch einen einzigen Menschen (Adam) kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten" (Rom.5,12). Adam ist der Vater des Menschengeschlechts, und er vererbte seine Sünde allen Menschen, nicht Eva, die Mutter aller Lebendigen, denn eine Frau vererbt nichts. Der Mann senkt seinen Samen in den Schoß der Frau, damit er dort wachse und ein Mensch werde. Bis zur Entdeckung der biologischen Bedeutung des weiblichen Eies durch Oskar Hertwig im Jahre 1875 galt die Frau nur als Gefäß des werdenden Menschen, den der Mann in ihren Schoß gesenkt hatte, als lebendiger "Brutkasten" für die Nachkommen des Mannes, und da Maria von keinem Mann den Samen empfangen hatte, sondern den Sohn Gottes vom Heiligen Geist, nennt die Lauretanische Litanei sie vas spirituale, "geistliches Gefäß". Christus ist das Haupt der Erlösten. "Wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen zu Sündern wurden, so werden auch durch den Gehorsam des einen (Christus) die vielen zu Gerechten gemacht werden." (Rom.5,19) Warum aber musste der Gottessohn sterben, um die Menschen zu erlösen? Eine erste Antwort hierauf geben die Kirchenväter von Origines über Augustinus bis zu Gregor dem Großen: Der Teufel hatte durch den Sündenfall Adams ein Anrecht auf das ganze Menschengeschlecht. Rechtlos war der Mensch gegenüber dem Teufel, seinem neuen Herrn, verfallen, versklavt. Die Erlösung des Menschen von der Herrschaft des Teufels war redemptio, Loskauf der Sklaven vom Sklavenherrn. Eine Täuschung war dabei noch im Spiel. Indem der Teufel Christus, den Gerechten und Sündenfreien, tötete, auf den er kein Anrecht, über den er keine Herrschaft hatte, verlor er das Recht auf die Menschen, die an Christus glaubten. Gott und Mensch musste Christus sein. Wäre er nicht Mensch, sagt der hl. Augustinus, hätte er nicht getötet werden können, wäre er nicht Gott, würde nicht geglaubt, dass er wollte, was er konnte, sondern dass er nicht konnte, was er wollte... Durch diesen Freikauf, bei dem das Blut Christi für uns als Kaufpreis gezahlt wurde, wurde der Teufel als Empfänger nicht bereichert, sondern gefesselt (non ditatus est sed ligatus), damit wir aus seinen Schlingen befreit würden. Eine eigenartige Darstellung des Dreiecksverhältnisses zwischen Gott, Teufel und Menschheit war dies, Überlegungen einer Sklavenhaltergesellschaft: Gott und der Teufel listige Geschäftsleute im Poker um die Menschen, Gott gewinnt, der Teufel verliert, und die Menschen sind befreit. Überzeugend war dies nicht, und schon vor Abaelard leuchtete diese Redemptionstheorie der Erlösung nicht mehr ein. Anselm von Canterbury formulierte den Einwand gegen den gerechten Besitz des Teufels an der Menschheit so: Wenn Gott, der Richter über alle, den so besessenen Menschen aus der Gewalt dessen, der ihn ungerecht besaß, errettete - sei es, um ihn anders als durch den Teufel zu bestrafen, sei es, um ihn zu verschonen: Was wäre das für eine Ungerechtigkeit? Denn obschon der Mensch mit Recht vom Teufel gefoltert wurde, folterte ihn dennoch dieser mit Unrecht. Denn der Mensch hatte zwar verdient, dass er bestraft würde und von niemandem passender als von dem, dem er eingewilligt hatte zu sündigen. Der Teufel aber hatte kein Verdienst, dass er strafen durfte; im Gegenteil tat er das um so unberechtigter, als er dazu nicht aus Liebe zur Gerechtigkeit geleitet, sondern aus boshaftem Trieb angestachelt wurde. Denn das tat er nicht auf Gottes Befehl, sondern mit der Zulassung seiner unbegreiflichen Weisheit, mit der er auch das Böse gut ordnet. In der Sklavenhaltergesellschaft der Antike, die Eigentum an Menschen kannte, ging es um den gerechten Besitz und um den Kaufpreis beim Loskauf. Das Mittelalter kannte zwar noch die Sklaverei - am Verkauf heidnischer Gefangener aus dem Osten, den Slaven, als Sklaven an die Araber im Westen verdiente die Kirche sehr gut -, aber es gab in Europa keine Sklavenhaltergesellschaft mehr. Die Gesellschaft des Mittelalters war eine Feudalgesellschaft, in der Ehre und Treue wichtiger waren als rechtmäßiger Besitz und der Preis. Und wieder erscheint die Heilstat Gottes unvernünftig, irrationabilis. Boso, der Dialogpartner Anselms von Canterbury in seinem Dialog "Cur Deus homo" – "Warum ist Gott Mensch geworden?" - formuliert den Einwand. Die Erlösung durch die Menschwerdung des Sohnes und seinen Opfertod am Kreuz scheint darin "der Vernunft zu widerstreiten,... dass der Höchste sich so zu Niedrigem herablässt, der Allmächtige etwas mit so viel Mühe und Arbeit tue«. Dies alles ziemt sich nicht. Das allein schon, dass Gott erlaubt, dass er (Christus) so behandelt wird, scheint einem solchen Vater bei einem solchen Sohn nicht zu entsprechen." Anselm gibt zu, Unziemliches kann es in Gott nicht geben. Er weist in vier Schritten nach, dass die Heilstat Gottes vernunftgemäß ist. Die Sünde Adams bestand darin, dass er Gott die geschuldete Ehre, den honor debitus, nicht erwies. Einfach verzeihen konnte Gott nicht, denn dann wäre die Ordnung der Ehre nicht wiederhergestellt, und "Gott geziemt es nicht, in seinem Reich etwas ungeordnet zu lassen". Die größte Unordnung der Welt ist es aber, wenn ein Geschöpf dem Schöpfer die schuldige Ehre nimmt, denn "nichts wahrt Gott gerechter als die Ehre seiner Würde". Da Gott unendlich über den Menschen steht, war die Beleidigung unendlich schwer. Und so konnte nur Christus die Erlösung leisten. Als Mensch konnte er in seinem Tod Genugtuung, satisfactio, für das Menschengeschlecht leisten, und als Gott leistete er unendliche Genugtuung. Da die Schöpfung vergeblich gewesen wäre, wäre diese Erlösung nicht erfolgt, da "Gott aber nichts vergeblich tut", so musste er die Menschheit erlösen, "zwar aus Notwendigkeit, aber nicht aus zwingender Notwendigkeit". Und die alte romanische Welt der Helden wird uns deutlich, wenn Anselm versichert, dass Christus, obzwar nackter Mensch in Windeln, gegeißelt, mit Dornen gekrönt und gekreuzigt, dennoch nicht teilhat am Unglück der Menschen. "Er hat teil an unseren Beschwerden, er ist aber dennoch nicht unglücklich", miser. Miseri – "Elende", das sind ständisch abgesunkene Menschen. Der Gottessohn, der Siegerkönig, der victor rex, bedarf nicht unseres Mitleides, er fordert fides, Treue, Eingliederung in die Gefolgschaft seiner Tat. Zweifelnd lässt Abaelard in seinem letzten Werk den Philosophen dem Christen gegenüber einwenden: "Ist nicht schließlich die Seligkeit eures Christus durch sein Leiden verringert, durch seine Auferstehung vermehrt worden ?” So lagen zur Zeit Abaelards zwei Erlösungslehren vor, und beide waren gesellschaftlich gebunden, beide teilten die Grundanschauungen ihrer Zeit, die Grundanschauungen einer Sklavenhaltergesellschaft und die einer Feudalgesellschaft. Und, was uns Heutigen nur schwer verständlich ist, beiden Erlösungslehren ist Gegenstand nicht der einzelne sündige Mensch, sondern das Menschengeschlecht als Ganzes. Verdammt ist der Mensch nicht als einzelner, der gesündigt hat, sondern als Glied des Menschengeschlechts, das als Ganzes in Adam gesündigt hat. Und Heil erwirbt der Mensch nicht als Individuum, sondern als Glied einer Gemeinschaft, der civitas Dei, der Kirche. Abaelard verwirft beide Lehren, die der redemptio, des Loskaufs aus der Herrschaft des Teufels, und die der satisfactio, der Genugtuung für die unendliche Beleidigung. Er formuliert das Problem folgendermaßen: Eine sehr große Frage drängt sich an dieser Stelle auf: was nämlich jene unsere Erlösung durch den Tod Christi ist, oder: wie der Apostel sagen kann, wir würden in seinem Blute gerechtfertigt, wo wir doch eine noch größere Strafe verdient zu haben scheinen, weil wir als aufsässige Knechte dasjenige sträflich getan haben, weswegen der unschuldige Herr getötet wurde. Abaelard wendet gegen die überkommene Lehre ein: Erstens könnte Gott dem Menschen einfach verzeihen. Der Teufel hatte kein Recht, denn die Verführung der Menschen war Verrat, und am Verrat kann gegenüber dem Verratenen kein Recht entstehen. Zweitens kann eine verlorene Ordnung durch den Tod Christi nicht wiederhergestellt werden, denn die Ungehorsamssünde Adams wurde durch die Ermordung des Gottessohnes vervielfältigt. Gott konnte die Menschen erlösen ohne sein Leiden - sine passione -, einfach durch seinen Willen - sola iussione. Wie beantwortet nun Abaelard die "große Frage"? Bescheiden und vorsichtig führt er seine Ansicht vor: "Uns aber scheint, dass wir dadurch gerechtfertigt sind in Christi Blut und Gott versöhnt, dass er durch diese einzigartige uns erwiesene Gnade, dass nämlich sein Sohn unsere Natur angenommen hat und in ihr, uns mit Wort und Beispiel unterweisend, bis zum Tode beharrte, uns sich noch mehr durch Liebe verbunden hat, so dass die wahre Liebe von jemandem, der durch eine so große Wohltat göttlicher Gnade entfacht ist, nicht mehr davor zurückschreckt, etwas seinetwegen zu ertragen. Unsere Erlösung ist daher jene höchste Liebe in uns durch die Passion Christi, die uns nicht nur von der Knechtschart der Sünde befreit, sondern uns die wahre Freiheit der Kinder Gottes erwirbt, so dass wir aus Liebe zu ihm mehr als aus Furcht alles erfüllen, zu ihm, der uns eine solche große Gnade erwiesen hat, dass man nach seinem eigenen Zeugnis eine größere nicht finden kann: Eine größere Liebe, sagt er, hat niemand, als dass er sein Leben für seine Freunde gibt (Joh.15.13). ... Um diese wahre Freiheit der Liebe also unter den Menschen auszubreiten, ist er, wie er bezeugt, gekommen." Die "Freiheit der Liebe", die caritatis libertas, ist das Geschenk der Heilstat Gottes. Zum ersten Mal in der Geschichte des Christentums formuliert Abaelard damit eine Erlösungslehre, die in allen Gesellschaften und allen Zeiten verstanden werden kann, weil sie nicht auf gesellschaftliches Vorverständnis abstellt, sondern auf die Erfahrungen der Menschen, ihre Sehnsucht nach Freiheit und das Glück der Liebe. Christus ist einzig aus dem Grund gestorben, damit in uns die wahre Freiheit der Liebe eingepflanzt und ausgebreitet wird. Erlösung, Liebe und Freiheit sind die Schlüsselworte, mit denen Abaelard die Heilstat des Gottmenschen immer wieder umschreibt. Frei ist, wer keinen Gehorsam schuldet. Gehorsam aber schulden wir Gott und den Herren dieser Welt. Wie steht es dann mit der Freiheit der Kinder Gottes ? Immer wieder kommt Abaelard auf dieses Thema in seinen Predigten zurück, und er entwickelt aus seiner Dreieinigkeitslehre in einer Systematik die Lehre der Erlösung und die Lehre vom weltlichen Gesetz. Den Satz des Apostels Paulus "Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren aus der Frau, geboren unter dem Gesetz" (Gal.4,4) stellt Abaelard an den Anfang der Predigt von Maria Reinigung. Der Gottessohn, der als Gott "keinem Gesetz irgendetwas schuldet, hat sich unter das göttliche wie unter das weltliche Gesetz gebeugt". In Erfüllung des Gebotes des göttlichen Gesetzes "seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst", hat der Gottmensch "in uns jene Liebe seiner Gnade entzündet", die uns vor Gott rechtfertigt. In Erfüllung der Gebote der weltlichen Gesetze hat er beispielhaft gezeigt, dass die Erlösung die politischen Herrschaftsstrukturen nicht aufhebt. "Nicht ist es schimpflich oder verderblich, Menschen zu dienen, sondern den Lastern, und nicht die Dienstbarkeit gegenüber jenen aufzuheben kam der Herr, sondern gegen diese." Aber auch die Herrschaftsstrukturen dieser Welt sind durch die Erlösung verändert. "Frei ist, wen nicht die Furcht zum Dienst zwingt, sondern, wen die Liebe freiwillig zum Gehorsam führt." Wie die Liebe Gottes Menschen dazu führt, Menschen um Gottes willen zu lieben, so führt die Erlösung Menschen dazu, "Menschen um Gottes willen zu dienen". Dies aber setzt voraus, dass sich weltliche Gesetze, weltliche Herrschaft, von innen heraus verändern. Weltliche Gesetze unter der Ordnung der Erlösung sind nicht durch diese Ordnung "befohlen, sondern Christen gegenüber nur zugelassen, zugelassen, um der Barmherzigkeit einen Raum zu gewähren". Ordnungen in dieser Welt müssen eine Struktur haben, die der grundlegenden Lehre Christi entspricht, dass "niemand unschuldig ist, der nur aus Furcht vor der Strafandrohung der Gesetze von einer Übeltat ablässt, dass die Bosheit der Menschen im Geist und nicht im Körper liegt, denn Tugenden oder Sünden sind Eigenschaften des Geistes, nicht des Körpers". Modern ausgedrückt kann man Abaelards Gedanken so formulieren: Die Gesetze der Herrschaft vor der Erlösung zwangen Menschen in den Gehorsam, machten ihn unfrei, würdelos. Die Gesetze einer Gesellschaft der Erlösten lassen den Menschen Freiheit, da sie diesen zustimmen können, da sie ihnen die Würde der Kinder Gottes lassen, die Freiheit der Liebe. Die Lehre von der Erlösung bestimmt die Ethik. Oder hat Abaelard seine Lehre von der Erlösung von der Ethik her gedacht ?

Jede Gesellschaft hat ihre Ordnung des Verhaltens. Was Menschen einer bestimmten gesellschaftlichen Stellung, früher Status genannt, in jeweiligen Situationen zu tun haben, liegt um so genauer fest, je ursprünglicher die Gesellschaft ist. Die Gesellschaften Mitteleuropas im frühen Hochmittelalter hatten ihre Ursprünglichkeit seit langem verloren, aber grundlegende Verhaltensordnungen ändern sich nur langsam. So war zu Beginn des 12, Jahrhunderts eine Verwerfungslage eingetreten. Welche Änderungen die Völkerwanderung für die europäischen Völker in ihren moralischen Ordnungen brachte, wissen wir nicht. Der Verlust angestammter Heimat, die Erfahrungen jahrzehntelanger oder gar Generationen währender Wanderschaft durch immer neue Landschaften, Völker und Gefährdungen, die Sesshaftwerdung in einer neuen Umgebung, einer geographisch, klimatisch, ökonomisch neuen Umgebung inmitten eines unterworfenen fremden Volkes, all dies konnte nicht ohne Einfluss geblieben sein. Und in diesen Umbruch brach - moralische Katastrophe oder moralischer Neubeginn - das Christentum ein und damit die Begegnung mit der Überlieferung der Antike. Beides, Christentum und Antike werden Rahmen, Stoff, Herausforderung für alles, was seither in Mitteleuropa gedacht, gewollt, getan wird. Und beides lässt die Völker Mitteleuropas nicht zur Ruhe kommen, treibt die Entwicklung unaufhörlich weiter, denn Christentum und Antike waren zu einer Aufgabe der Verwirklichung geworden, die zu lösen unmöglich ist. Nur skizzenhaft kann die Verwerfungslage zu Beginn des 12. Jahrhunderts beschrieben werden. Die Bedürfnislage der Menschen in ihren Ordnungen und die Ansprüche der Ordnungen an die Menschen traten immer weiter auseinander. Die Kirche beanspruchte das Monopol, Ordnungen zu definieren, und begann systematisch, dieses Monopol durchzusetzen. Die Lage der Bauern war ökonomisch schlecht. Für sie hatte die Kirche nur die doppelte Forderung: Ergebung in Gottes und der Herren Willen durch unbedingte Leistung des Gehorsams und die Disziplinierung des Sexuallebens. Die erste Forderung wurde weitgehend durchgesetzt, denn Kirche und Herren hatten dasselbe Interesse am Gehorsam und dem Bündnis geistlicher und weltlicher Macht konnte nichts entgegengesetzt werden außer dem Ausbruch: Landstreicherei und Ketzertum erwuchsen derselben Wurzel. Die zweite Forderung dürfte nicht erfüllt worden sein. Nur aus den Bußbüchern der Kirche erfahren wir, was die Menschen so trieben und was die Kirche verbot. Gelang es der Kirche jedoch auch nicht, ihre Ordnung durchzusetzen, wirkungslos war die Forderung nicht. Schuldgefühle, Angst vor der Hölle waren die Wirkung, die die Aufrichtung einer Ordnung mit sich brachte, die von Menschen nicht gelebt werden konnte. Die Lage des Adels, des niederen der Ritter und des hohen der großen Herren, war uneinheitlich. Auch an den Adel hatte die Kirche eine doppelte Forderung, die des Friedens und die der neuen, christlichen Eheordnung. Der Adel war eine in sich abgestufte Kriegerkaste. Kampf, Unterwerfung, Tötung, Raub war sein Leben... Für die Kirche war diese Haltung unannehmbar. Zum einen war auch sie Opfer der ungebändigten Kampfeslust französischer Ritter, und zum ändern war ihr Lebensideal Jenseits, Friede, Demut. Das versuchte sie auch gegenüber dem Adel durchzusetzen. Die Waffe sollte er nur führen zur Verteidigung der Gerechtigkeit, im Kampf gegen die Heiden und zum Schutz der Kirche, der Frauen und der Waisen. Aber dieses Ideal, in den Liedern von König Arthus' Tafelrunde seit dem 12. Jahrhundert immer wieder dichterisch formuliert, war auch nicht im Ansatz durchzuhalten. Nicht nur individuelle Lust am Kampf, an Beute, an der Zerstörung hinderte dies, sondern in erster Linie die ökonomische Lage des Adels. Ritter und ihr Hilfsgefolge wurden durch Kriege finanziert, Kriege werden durch Beute finanziert. Krieger, wie die Kirche sie wollte, konnte es im Mittelalter nur als Ausnahme der Saturierten geben. Die Forderungen nach Einhaltung der kirchlichen Sexualverbote und der kirchlichen Eheordnung galt für die Bauern nur den Individuen, denn Verteilung des Besitzes wurde durch die Herren geregelt und nicht durch Beschlüsse der bäuerlichen Sippen. Ganz anders war es im Adel. Hier bestimmte die Abstammung die Stellung der Menschen in der Gesellschaft, und so wurden die biologischen Vorgänge von Zeugung und Geburt innerhalb des Adels zu den wichtigsten Rechtsakten der Zeit. Die Befriedigung der Lust der Individuen, ihr Bedürfnis nach menschlicher Ergänzung hatte keinen Einfluss auf die gesellschaftlich-rechtliche Ordnung von Ehe und Familie. Da ohnehin nur Männer Ordnungen stifteten, wurde die Befriedigung der Lust, wenn sie nicht zufällig mit der eigenen Frau gestillt werden konnte, aus der Ehe heraus verlagert auf Konkubine, Mägde und Beutefrauen. Der Befriedigung des zweiten Bedürfnisses galt die Freundschaft zwischen Männern. Als an den Höfen des 12. Jahrhunderts die Liebe zwischen Mann und Frau "entdeckt« wurde, war es nicht die Liebe zwischen Verheirateten. Der Satz des Andreas Capellanus aus seinen Büchern "Über die Liebe«, "dass die Liebe zwischen zwei Verheirateten ihre Kraft nicht entfalten könne«, entsprach der Überzeugung der Zeit. Für die Kirche war auch diese Ordnung unannehmbar. Ausleben der Sexualität war oder wurde die schwerste Sünde, und die Ordnung der Ehe - als kirchlich zu verwaltendes Sakrament noch nicht anerkannt - sollte sich an Paulus, Augustinus und Hieronymus ausrichten und nicht an den Bedürfnissen des Adels auf Regelung des Besitzübergangs. Die Kirche verlangte in der Tradition des römischen Rechts zur Gründung der Ehe allein den Konsens der Brautleute, und sie verlangte die weitgehende sexuelle Enthaltsamkeit auch in der Ehe. Dem Adel war die Ehe das Mittel zur Planung der politischen und ökonomischen Bedeutung der Familie, und Lust wollten sich die Herren holen, wo immer es ihnen beliebte. Ein dramatischer Kampf um Sexualität als Verhalten und Ehe als Institution begann im 11. Jahrhundert zwischen den Kirchenmännern und dem hohen Adel Europas. Das Ende dieses Kampfes, der durch das Mittelalter hindurch währte, war als Kompromiss die Institution der bürgerlichen Ehe, vom hohen Mittelalter bis in unser Jahrhundert die selbstverständliche, natürlich genannte Ordnung von Sexualität und Ehe, dabei historisch zufällig, wie Ordnungen als Lösungen zeitbedingter Probleme nur zufällig, philosophisch kontingent sein können. Auch für den Adel waren die Ordnungen der Kirche nicht lebbar, weder die Ordnung des Krieges, noch die Ordnung von Sexualität und Ehe, und wieder war die Wirkung Schuldgefühl und Angst. Nur noch angefügt sei, dass diese Diskrepanz von gelebter und kirchlich verlangter Ordnung sich bei den Städten und ihren Bürgern fortsetzte und hier in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zu ernsten Problemen führte. Auch im Bereich des Handels richtete die Kirche durch ihre Identifizierung von Zins und Wucher eine Ordnung auf, die ökonomisch weder betriebs- noch volkswirtschaftlich zu leben war. So forderte die Kirche auf allen Gebieten moralische Ordnungen, die nicht lebbar waren und auch von ihr selbst nicht gelebt wurden. "Die Kluft zwischen den herrschenden Prinzipien der christlichen Lehre und dem Alltagsleben ist das grundlegende Dilemma des Mittelalters" (B. W. Tuchmann). Ein so grundlegendes Problem wie die strukturell unaufhebbare Unversöhnlichkeit dessen, was ist, mit dem, was sein soll, und die daraus entspringende kollektive Angst einer Gesellschaft kann gesellschaftlich nicht unbearbeitet bleiben. Gleichgültig, ob treibende Kraft der Lösung theologische Lehre oder Bedürfnis der Menschen war, die gesellschaftliche Lösung wurde gefunden und hieß "Fürbitte". Wenn die Werke, wenn das äußerlich feststellbare Verhalten der Menschen über ihre ewige Seligkeit oder ewige Verdammnis entscheidet und wenn eigenes Verhalten, das die Seligkeit garantiert, strukturell unmöglich ist, dann wird Seligkeit erlangt durch die Fürbitte derer, die an Leistung für die Seligkeit mehr erbracht haben, als sie zur eigenen Seligkeit bedürfen. Fürbitte können leisten die Verstorbenen, die Bürger des Himmels sind, also die Heiligen, und die Lebenden, die im Kloster den Himmel auf Erden vorwegnehmen. Fürbitte kann geleistet werden für die Lebenden, aber auch noch für die Verstorbenen. Das allerdings setzte die Vorstellung des Fegefeuers voraus, der Höllenstrafe auf Zeit, die durch Fürbitte abgekürzt werden kann. Die Wirkung Clunys hatte darauf beruht, dass es das Bedürfnis des französischen Adels befriedigte, dass seine Mönche in den prunkvollen Totenliturgien für ihre Verwandten, also praktisch den ganzen französischen Adel, die Verdienste der Mönche in den Klöstern den Menschen in der Welt zukommen ließen. Mönche wurden Spezialisten für den Himmel, Klöster Produktionsstätten des ewigen Heils. Das Ergebnis dieser Diskrepanz zwischen tatsächlicher und gesollter Ordnung und ihrer Kanalisierung durch die Fürbitte war die kollektive Überzeugung des frühen Hochmittelalters, dass Heil nicht durch eigene, individuelle Leistung erreicht werden kann, sondern nur durch Vermittlung, Stellvertretung, Fürbitte. Heil durch die Priester- und Mönchskirche. Aber nicht nur psychische Entlastung brachte diese Struktur, als solche Gegenstand der Religionsgeschichte und der Geschichte kollektiver Neurosen. Diese Struktur bestimmte auch das ökonomische und das künstlerische Leben der damaligen Zeit. Der durch die kollektiven und individuellen Ängste bewirkte Drang, von der Schuld bei Gott befreit zu werden, war die wichtigste Einnahmequelle der Kirche. Denn die Kirche war die Repräsentantin Gottes in der Welt. "Was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, wird auch im Himmel gelöst sein" (Matth.18,18). Der unablässige Strom der Spenden und Stiftungen überstieg zusammen mit dem Zehnten als Kirchensteuer sicher den heutigen Anteil der Sozialversicherung am Bruttosozialprodukt weit, finanzierte den Bau von Kirchen und Klöstern, war über gestiftete Pfründen ein wichtiger Anteil am Lebensunterhalt von Geistlichen und die Grundlage fast der gesamten Kunst- und Kulturproduktion des frühen Hochmittelalters. Im Abstand der Jahrhunderte ist die aufgerichtete Ordnung der Kirche imposant, ihre kulturelle Leistung bewundernswert. Wie aber diese Struktur täglich sich verwirklichte, in der Ausbeutung der Bauern und Unterlegenen durch den Adel und die Sieger und der Erpressung des Adels und der Räuber durch den Klerus, das zeigt die Kritik Abaelards. Weil die Habsucht der Geistlichen meist nicht geringer ist als die des Volkes und nach dem Wort des Propheten die Priester sein werden wie das Volk (Hos. 4,9), so verrührt viele Sterbende die Geldgier der Geistlichen durch das Versprechen trügerischer Sicherheit, sobald sie ihre Habe opfern und Messen kaufen würden, die nicht kostenlos zu haben sind. für diese Ware (mercimonium) haben sie einen Preis (precium) festgesetzt: für eine Messe einen Pfennig, für die Totenmesse mit dem ganzen Totenoffizium am dreissigsten Tage fünf Schillinge und für ein Jahresgedächtnis sechzig Schillinge. Nicht jedoch sorgen die Geistlichen dafür, dass die Sterbenden das Geraubte zurückerstatten, vielmehr lassen sie es sich als Opfer übereignen. Diese Struktur, die den Menschen seelische Entlastung und der Kirche Einnahmen brachte, bricht Abaelard durch seine Ethik auf. Mit seinen beiden Grundüberzeugungen, dass jeder Christ leben soll wie ein Mönch, ausgenommen das Verbot der Heirat, oder umgekehrt, dass ein Mönch lebt wie ein Christ, der nicht verheiratet ist, und dass nur die persönliche Leistung in der rechten Gesinnung vor Gott Heil gewährt, entzog er der gesamten mittelalterlichen Kirchenauffassung und Frömmigkeitspraxis den Boden. Abaelard hätte zahlreichen Ketzerbewegungen um ihn und nach ihm die theologische Begründung geliefert, hätten sie seine Lehre gekannt. Nicht in der Dogmatik lag vom unvoreingenommenen Standpunkt der Kirche aus der Häresie-Verdacht gegen ihn, sondern in der Ethik, in dem, was man später Moraltheologie nannte. Abaelard und Heloïsa haben die neue Ethik gemeinsam begründet, die Gewissensethik, deren Bedeutung sich für den einzelnen in seinen jeweiligen Entscheidungssituationen enthüllt. Kern der Lehre ist, dass Sünde Verachtung Gottes ist und der Mensch Gott verachten kann nur durch seine innere Einstellung zu ihm. Positiv hat diese Einstellung den Namen "Liebe". Und somit ist alles, was oben über die reine Liebe gesagt wurde, Bestandteil der neuen Ethik. Negativ hat diese Einstellung den Namen "Sünde". Die Sünde ist die Zurückweisung der Liebe Gottes zu uns und die in dieser Zurückweisung zum Ausdruck kommende Verachtung des Schöpfers (contemptum creatoris). Könnten diese Sätze noch in jeder anderen traditionellen oder zeitgenössischen theologischen Abhandlung stehen, so zieht Abaelard aus diesen Sätzen zwei Folgerungen, die neu, die unerhört waren. Erstens kann die moralische Schwäche des Menschen selbst keine Sünde sein, obwohl sie Folge der Erbsünde ist, und zweitens kann die Sündhaftigkeit eines Verhaltens nicht in der Art des Verhaltens, der Handlungen, der Werke bestehen. Mit beiden Auffassungen stellte sich Abaelard gegen die gesamte Tradition. Die Unheimlichkeit der Sexualität lag für Augustinus und die Späteren gerade darin, dass Bilder, Wünsche, Verlangen, Begierden im Menschen aufstiegen, ohne dass er dieses verhindern konnte. Und gerade für ehelos und gemäß ihrem Stand enthaltsam lebende Geistliche musste der Anblick einer Frau, einer Brust, einer Entblößung Gefühle und Empfindungen wecken, die sie nur der Sünde, dem Teufel zuschreiben konnten. Und so fasste Augustinus die Erbsünde als Konkupiszenz, als Rebellion der niederen Kräfte des Menschen gegen die Vernunft. Dagegen setzt Abaelard seine Überzeugung— "Ich meine (arbitror), dass nur die Zustimmung zum Verkehrten Sünde sein kann". Und so unterscheidet er: Dass im Menschen Triebe erwachen, Begierden, "das Verlangen nach einer Frau, die er irgendwo gesehen, oder nach Früchten und Ernten, die einem anderen gehören", das ist noch keine Sünde. Menschen können dem nicht entgehen, der Unverheiratete nicht - und das war die große Mehrzahl der damaligen Menschen - und die Armen und Hungrigen nicht - und das war ebenfalls die große Mehrzahl. Sünde wird erst die Zustimmung zu diesem Verlangen, die innere Anerkennung des Verbotenen. Und nicht die Ausführung des Gewollten ist neue Sünde, Sünde der Tat, sondern nur eine etwa in der Ausführung liegende zusätzliche Verachtung Gottes, die Handlung des Zynikers, des Verächters aller Ordnungen, die sich in seinen Handlungen zeigt. "Nicht eines anderen Frau zu begehren oder mit ihr zu schlafen, ist Sünde, sondern diesem Begehren und diesem Tun zuzustimmen." Die Erbsünde kann also keine Schuld sein - kein realus und keine culpa —, wie Augustinus gelehrt hatte, sie ist vielmehr die kollektive Strafe Gottes über das Menschengeschlecht für den Ungehorsam Adams, die Strafe, die in der Notwendigkeit des leiblichen Todes besteht und in der Unfähigkeit, ohne die erlösende Gnade Gottes das ewige Heil zu erlangen. Aber nicht nur die angeborene Schwäche der Menschen ist keine Sünde und nicht das, was ihr notwendigerweise entspringt. Auch die äußere Tat, das Werk ist keine Sünde, aber auch kein Verdienst. Die Ausführung keines äußeren Werkes trägt zur Vermehrung der Sünde bei, und nichts befleckt die Seele außer Seelischem, und so ist allein die Zustimmung die Sünde... Und überhaupt kann nichts, was mit Verdienst (oder Verdammnis) zu tun hat, unter ein Gebot gestellt werden, und um so weniger sind Gebote sinnvoll, je weniger das Verhalten in unserer Macht steht. Damit hebt Abaelard die gesamte immer kasuistischer, immer zufälliger, immer belastender werdende Praxis der Kirchengesetze aus den Angeln. Moralische Ordnungen, dekretiert durch die Kirche im Namen Gottes, die von den Menschen nicht gelebt werden können und nur die Herrschaft der Kirche stärken, sind gegen die Liebe und haben daher keine Verbindlichkeit. So drückt Abaelard das nicht aus. Der Methodiker geht vorsichtiger vor. Er scheint als erster den dreigliedrigen Aufbau eines Delikts geahnt zu haben. Menschliches Handeln kann als Typus beschrieben werden: Nahrung zu sich nehmen, einen Acker bestellen, ein Kind zeugen, ein Haus anzünden, ein Urteil sprechen. Diese Handlungstypen nennt Abaelard opera, "Werke, äußeres Verhalten". Kein solches Werk, kein solcher Tatbestand, in der Sprache der Rechtswissenschaft von heute formuliert, ist als solcher in sich verboten oder erlaubt. Die lex naturalis, das natürliche Gesetz, besteht allein im Liebesgebot, im Gebot, Gott zu lieben über alles und den Nächsten wie uns selbst (5.Mos.6,5; 3.Mos.19,18; Matth. 22,39). Dieses Gebot ist aber keines über Verhalten, sondern eines über Gesinnung, keines über Werke, sondern eines über die Seele. In sich sind die durch Tatbestände beschriebenen äußeren Verhalten indifferent, weder gut noch böse. Erst eine Anordnung des Gesetzgebers, die lex Dei, ein ausdrückliches göttliches Gesetz, oder ein jus positivum des menschlichen Gesetzgebers, wie Abaelard ein menschliches Gesetz erstmals nennt und so den Sprachgebrauch europäischer Juristen einleitet, erst eine solche positive, das heißt gesetzte Anordnung als Gebot (praeceptum) oder Verbot (prohibitio) macht aus den in sich selbst indifferenten Handlungen eine gebotene oder eine verbotene Handlung. Zum Tatbestand, der ein Verhalten beschreibt, muss also die Feststellung der Rechtswidrigkeit, des Verbotenseins einer Handlung, und damit das Gebotensein seines Gegenteils hinzutreten. Verdienst oder Verurteilung verlangt aber ein Drittes, die Feststellung der Schuld, des inneren Verhältnisses zum rechtswidrigen Tun oder Unterlassen. Nur wer einsehen konnte, dass das Tun geboten oder verboten ist, nur wer frei ist, das Gebotene zu tun oder das Verbotene zu unterlassen, nur wer sich innerlich mit der Rechtswidrigkeit identifiziert, ihr zustimmt und damit Gott verachtet, nur der begeht eine Sünde. Töten ist indifferent. Aus Gier, Rache oder im Zorn zu töten ist unerlaubt, in Vollstreckung eines Urteils zu töten ist erlaubt. Hat aber der Richter den Delinquenten zwar gerecht verurteilt, ihn aber aus Hass vor seinen Richterstuhl gezogen, so handelt er äußerlich rechtmäßig, ethisch aber schuldhaft. Eine Mutter, die versucht ihr Kind zu kleiden und zu ernähren, darüber verzweifelt, weil es ihr nicht gelingt, und es in Liebe tötet, weil sie seine Qual nicht erträgt, handelt verboten, aber schuldlos. Dieses Beispiel beendet Abaelard mit dem berühmten Satz des Augustinus: "Habe die Liebe und tu, was immer Du willst!” Der Bischof als Richter, meint Abaelard, wird die arme Frau aber schwer bestrafen. Gericht des Bischofs, Gericht der Kirche ist nicht Gericht Gottes. Abaelards Ethik ist eine Ethik der Humanität. Gott sieht auf die Schwachheit der Menschen und die Gesinnung. Dass der Schwache nicht so viel leisten kann wie der Starke, ist selbstverständlich, aber unerheblich. Gesinnung, nicht Leistung rechtfertigt, und der guten Gesinnung, der Liebe zu Gott, ist jeder Mensch fähig, denn die Gnade hierzu gewährt Gott jedem Menschen. Nicht die Unterdrückung unserer Natur verlangt Gott von uns, sondern die Bewährung in unserer Schwachheit: So ermahnt uns die Wahrheit: "Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter und selbst seine Seele hasst, der ist meiner nicht würdig" (Luk. 14,26). ... Wie uns also befohlen ist, den Vater zu hassen und nicht, ihn zu töten, so gilt auch für unseren Willen, dass wir ihm nicht folgen, und nicht, dass wir ihn völlig zerstören. Abaelards Ethik ist eine Ethik der Menschen, nicht eine Ethik der Rollen, der Stände, der Institutionen. Darin unterscheidet er sich von allen Theologen seiner Zeit und noch lange nach ihm. Nicht eine Ethik für Bauern, Bürger, Adelige schreibt er, für Männer oder Frauen, für Laien oder Geistliche, für Weltleute oder Mönche. Für alle Menschen gilt es, Gott zu lieben und den Nächsten. Für uns heute - falls uns überhaupt solche ethischen Probleme und gar in ihrer theologischen Einkleidung interessieren -, für uns heute klingt das alles selbstverständlich. Aber wie sehr Abaelards Ansicht ein Angriff auf die Verhaltensordnung seiner Zeit war, zeigen die Konsequenzen. Da die kirchliche Ordnung den Menschen ein Verhalten abverlangte, das sie in der Mehrzahl nicht leisten konnten, niemand aber leben konnte mit der sicheren Aussicht ewiger Verdammung, kauften sich die Menschen los. Wer ahnt die Not der armen Menschen, die sündigen mussten, um leben zu können, aber nichts hatten, um sich loszukaufen ? Die Devise lautete: Da Du sündigen musst, sündige, aber stifte der Kirche, und ihr Gebet wird Dir den Himmel erschließen! Gewiss, die Theologen nach Abaelard, die kirchlichen Theologen werden das alles subtiler fassen, genauer unterscheiden, aber bis in den Ablassstreit der Reformation hinein reicht das Auseinanderklaffen der Hoffnung der Menschen und der sie nährenden Predigt der Leutepriester und die Subtilität gelehrter Theologen. Nicht zugegeben wurde aber im ganzen Mittelalter, dass die Ursache des Problems die nicht lebbare Ordnung der Kirche war. Und so klaffte ein neuer Zwiespalt, der Zwiespalt zwischen denen, die sich die Leistungen der Kirche durch Stiftungen kaufen konnten, und denen, die arm waren und in der Angst sterben mussten. Und wie Abaelard den ersten Zwiespalt auflöste durch seine Gewissensund Situationsethik, so weist er die ethische Unmoralität des zweiten Zwiespalts nach: Zwei Menschen haben denselben Vorsatz, je ein Armenhaus zu bauen. Der eine kann den Gegenstand des Gelübdes erfüllen, dem anderen aber ist es nicht vergönnt, den Vorsatz auszurühren, weil ihm das Geld, das er dafür gespart hatte, gewaltsam geraubt wurde. Konnte nun das, was rein äußerlich geschah, seinen Verdienst vor Gott schmälern ?.. . Das hieße ja, eine Menge Geld könnte jeden besser und verdienter machen, wenn sie so ohne weiteres zu Verdienst oder Vergrößerung des Verdienstes beizutragen vermöchte, und die Menschen könnten je reicher desto besser werden, weil sie mit Hilfe ihres großen Reichtums ihrer Gesinnung durch allerlei Werke stärkeren Ausdruck verleihen können. Dies zu glauben, dass Reichtum zur wahren Seligkeit oder Würde der Seele etwas beitragen oder die Verdienste der Armen schmälern könne, ist größte Torheit. Wenn also der Besitz irdischer Güter die Seele nicht bessern kann, so kann er sie auch weder Gott gefälliger machen, noch irgendein Verdienst zur Seligkeit bedeuten. Abaelard spricht das endgültige Urteil über 400 Jahre kirchlicher Praxis germanischen Ursprungs. Reichtum ist Zeichen des Heils, Heil verpflichtet zur Freigebigkeit, Freigebigkeit bewirkt Treue der Gefährten und Ruhm bei Gott. Reichtum des Adels oder des Königs aber stammt aus der Beute, wie es Widukind nach dem Sieg König Heinrichs I. über die Ungarn an der Unstrut (933) berichtet: Und da es ihm (König Heinrich) darum zu tun war, sein Volk zu erhöhen, so gab es kaum einen oder gar niemand unter den namhaften Männern in ganz Sachsen, den er nicht durch ein herrliches Geschenk oder Amt oder irgendein Lehen geehrt hätte. Diese Freigebigkeit, Zeichen der Größe eines Herrn, ist für Abaelard Beraubung der Armen. Und mit dieser Beute, Beraubung der Armen, wird versucht, Ruhm bei Gott zu erwerben, Ruhm durch Stiftungen an die Kirche und Beschenkung der Armen: Nach seiner Heimkehr als Sieger stattete der König auf alte Weise der Ehre Gottes, wie es sich gehörte. Dank ab für den Sieg, den ihm Gott über seine Feinde verliehen hatte: Er gab den Tribut, den er den Feinden zu geben gewohnt war, dem göttlichen Dienste zu eigen und bestimmte ihn zu Schenkungen an die Armen. Torheit ist es für Abaelard, durch solches Handeln bei Gott Verzeihung der Sünden oder Vermehrung des Heils zu erwarten. Am Ende seines Lebens wird Abaelard seinem Sohn Astralabius über seinen Gönner, Graf Theobald den Großen, schreiben: "Theobald schenkt den Mönchen viel; aber da er immer noch raubt, sind die Gaben Raubgut. Besser wäre es, wenn er nicht raubte und nichts schenkte, statt dass er den Lohn und seine Gaben zugleich verliert." Die Ordnung des Adels war sündhaft, das Verhalten der Adeligen töricht, beides aber hatte die Kirche gesegnet.

Kritik an der herrschenden Ordnung

Johannes von Salisbury, auf der Flucht vor dem Tyrannen, erlebte weltliche Herrschart mächtig und böse. Anhänger des von Kaiser Friedrich Barbarossa bekämpften und verfolgten Papstes Alexander III., auf die Gastfreundschaft von Äbten und Bischöfen angewiesen, erlebte er Kirche schwach, bedroht und deswegen gut. Das Bild, das er von der Kirche zeichnet, ist gleich dem von Abaelard und Heloïsa das einer Kirche des Wortes, der Armut, des Friedens, aber es ist nicht das Bild der Kirche seiner Zeit. Abaelard und Heloïsa sehen schärfer, scheiden Herrscher der Welt und Herrscher der Kirche nicht in böse und gut. Die Botschaft Jesu sehen sie wirkungslos in der Welt, unterdrückt in der Kirche. Sie rufen nicht zum Kampf auf, zum Widerstand gegen die Tyrannen, wie Johannes von Salisbury in der Flut seiner Briefe, hierin Bernhard von Clairvaux vergleichbar. Abaelards und Heloïsas Ziel ist es, die Ordnung der erlösten Menschen wieder deutlich zu machen und im Parakleten dieser Ordnung einen Raum zu geben. Politisch wirken wollen sie nicht. Ihre Ethik ist eine Ethik für die Menschen, für alle Menschen. Sie ist eine Ausformung des Gebotes Jesu: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit allen deinen Gedanken und all deiner Kraft, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (Mark.12.30f.). Diese Liebe ist innere Kraft (virtus), Gesinnung (animus). Hat ein Mensch diese Gesinnung, so sagt sein Gewissen in der Situation der Handlung, welches Tun das Gute und welches das Böse ist. In diesen Sätzen besteht die ganze Ethik des Paares, und alles Weitere, was Abaelard geschrieben hat, ist Ablehnung, Widerlegung dessen, was die Kirchenmänner in einem Jahrtausend aus der Lehre Jesu gemacht hatten, den Beginn der Moraltheologie zur Unterdrückung der Natur des Menschen und zur Beherrschung des Willens der Menschen. Gegen fünf Ordnungen ihrer Zeit richtete sich die Ethik Abaelards und Heloïsas, gegen Ordnungen und ihre Institutionen. Herrschaft, ein regimen, kirchlich oder weltlich, wurde zur Zeit der beiden ausgeübt durch Männer, die hierfür gesalbt waren, geweiht worden sind. Gegen die Weiheordnung richtete sich der Protest der beiden. Die Kirche war zu einer Institution geworden, die tägliches Leben im kleinen und im großen durch immer neue Gesetze zu ordnen beanspruchte. Gegen diesen Anspruch, durch kirchliches Gesetz Gutes oder Böses zu definieren, richtete sich der Protest der beiden. Grundlage aller weltlichen Ordnung war die Ehe, die Familie, von Männern zur Aufrechterhaltung einer Männerordnung geschaffen. Gegen diese Ausformung des Verhältnisses von Mann und Frau richtete sich der Protest der beiden. Aller Ordnungen in dieser Welt höchste und alle anderen bestimmend war die Ordnung der Kirche. Kein Mensch konnte zu Gott kommen, es sei denn durch sie, keinen konnte seine Gnade erreichen, es sei denn durch sie. Gegen diese Trennung des Menschen von Gott durch die Kirche richtete sich der Protest der beiden. Und alle Ordnungen, kirchliche wie weltliche, durchzog die Ordnung und die Verteilung von Eigentum, bestimmend, wer reich und befähigt war zu leben, wie er wollte, und wer arm und bestimmt war, zu dienen oder Hungers zu sterben. Gegen diese Eigentumsordnung ihrer Zeit richtete sich der Protest der beiden. Die Inhaber der geistlichen Gewalt, die Bischöfe, und die Inhaber weltlicher Gewalt, die Könige, wurden geweiht und gesalbt und so zu unmittelbaren Trägern göttlicher Legitimation. Die Kirchenreform seit Papst Gregor VII. hatte zwar langsam begonnen, den weltlichen Bereich zu entsakralisieren, dem König die Salbung mit dem Chrisam vorzuenthalten, dem heiligen Öl, mit dem die Bischofs- und Kirchenweihe erfolgte und die Firmung der Gläubigen. Den Zeitgenossen des Paares aber war Weihe, Salbung ein religiös-sakramental-mystischer Vorgang, Einbruch des Numinosen in diese Welt, Legitimation durch Gott. Salbung und Weihung waren die Feste der Männerwelt. Bischöfe rühmen sich, wenn sie in ihren glänzenden, goldstrotzenden Gewändern unter dem Jubel des Volkes irdischen Königen die Salbung geben, wenn sie irdische Menschen zu Priestern weihen, wenn sie oftmals da segnen, wo der Herr verflucht hat. Die Weiheordnung seiner Zeit bricht Abaelard auf, indem er der Salbung der Männerwelt die Salbung Marias Magdalenas an Jesus gegenüberstellt, Marias aus Magdala, unter deren Namen das Mittelalter drei biblische Frauengestalten zusammen sah, Maria von Bethanien, die Schwester der Martha und des Lazarus (Luk. 10,39 f.), Maria aus Magdala, die zu den Frauen im Gefolge Jesu gehörte (Mark. 15,40), und die Sünderin Maria (Luk. 7,36-50), den Zeitgenossen Abaelards eine Dirne. Diese Dirne, die geringste aller Frauen, hatte Jesus Christus, den Gottes-Sohn, gesalbt. Jesus ging in das Haus eines Pharisäers, der ihn zum Essen eingeladen hatte, und legte sich zu Tisch. Als nun eine Sünderin, die in der Stadt lebte, erfuhr, dass er im Haus des Pharisäers bei Tisch war, kam sie mit einem Alabastergefäß voll wohlriechendem Öl und trat von hinten an ihn heran. Dabei weinte sie, und ihre Tränen fielen auf seine Füße. Sie trocknete seine Füße mit ihrem Haar, küsste sie und salbte ihn mit dem Öl... Und Jesus sagte zu den Pharisäern: "Ihr sind viele Sünden vergeben, weil sie mir so viel Liebe gezeigt hat" (Luk.7,36-38,47). Diesen Text der Schrift benützt Abaelard, um die Weiheordnung seiner Zeit aufzubrechen, Männerwelt gegen Frauendienst, Pomp gegen Armut, Amt gegen Liebe zu stellen. Bischöfe rühmen sich... Und hier die demütige Frau: Sie wechselt nicht das Kleid, sie braucht keinen großen Pomp, wenn sie unter dem Murren der Apostel an dem himmlischen König die Weihehandlung vollzieht: Mit dem Recht der demutsvollen Liebe vollzieht sie die Weihung, nicht mit dem Anspruch des hohen Amtes. Noch ein anderes Beispiel bringt Abaelard. Kirchengebäude sind der Zeit Haus und Wohnung Gottes, der Bau, der - wie Honorius Augustodunensis (+ nach 1150) formuliert – "den im himmlischen Jerusalem aus lebendigen Steinen errichteten Tempel der Herrlichkeit vorwegnimmt, in dem die Kirche in ewigem Frieden jubelt". Wie die Gläubigen in der Firmung wird der Kirchenbau vom Bischof mit dem Chrisam gesalbt. Und von einer solchen Kirche bildet Abaelard sein Beispiel: "Nehmen wir einmal den Fall an: Ein Mann hat in einer Kirche eine Frau vergewaltigt." Sicher kein seltener Vorgang in jenen gewalttätigen Zeiten. Das Kirchenrecht verlangt, dass die hierdurch geschändete Kirche - wie bei einem Mord in ihr - vom Bischof neu geweiht werden muss, und Abaelard vermutet mit Recht, die Entrüstung des Volkes richte sich mehr gegen die Schändung der Kirche als gegen die Schändung der Frau. Die Frau aber ist - schreibt Abaelard – "Gottes heiliger Tempel", Wohnung des Heiligen Geistes (1. Kor.3,16), "das Kirchengebäude sind nur vier Wände". Nicht die Schändung der Kirche ist der Skandal, sondern die Schändung der Frau. Die Kirche aber denkt anders. Ihre Weiheordnung entspricht nicht der Ordnung Gottes. Die Kirche hatte sich zu einer Institution entwickelt, die verbindlich zu entscheiden beanspruchte, was gut und was schlecht ist. Dagegen stellt Abaelard die Lehre des Evangeliums. Gott hat der Welt eine Ordnung gegeben, "natürliche Gesetze" - leges naturales, auch "moralische Gesetze genannt, wie Gott lieben und den Nächsten, keinen Ehebruch begehen, nicht stehlen, nicht zum Mörder werden". Außer den Regeln, die diese Ordnung bestimmen, gibt es ausdrücklich angeordnetes, gesetzes Recht, jus positivum, wie Abaelard, die europäische Rechtssprache bestimmend, zum ersten Mal sagt. Solches positives Recht, erlassen für Zeiten, Räume und Menschengruppen, kann göttlichen Ursprungs sein wie das Gebot an die Juden, sich beschneiden, und an die Christen, sich taufen zu lassen. Es kann aber auch menschlichen Ursprungs sein. Gesetztes Recht heißt jenes Recht, das von Menschen festgesetzt wurde, um den Nutzen oder die Tugend zu sichern oder zu vergrößern, und das beruht entweder allein auf der Gewohnheit oder auf der schriftlichen Anordnung einer Autorität. Als wichtigste Beispiele für solches positives Recht führt Abaelard solche aus dem Recht der Verfahren vor Gericht an. Positives Recht soll dienend, verdeutlichend, nützlich sein. Religiöse Autoritäten in dieser Welt aber neigen dazu, mit seiner Hilfe zu herrschen, die Lehre Gottes zu überlagern. So hatte schon Jesus von den Pharisäern und Schriftgelehrten gesagt: "Sie schnüren schwere Lasten zusammen und legen sie den Menschen auf die Schultern" (Matth. 23,4). Gleiches tut die christliche Kirche: Die Päpste und die Synoden erlassen täglich neue Erlasse mit Gesetzeskraft (decreta) oder erteilen von ihnen wieder Dispens, wodurch früher Erlaubtes verboten und Verbotenes erlaubt genannt wird und sie sich gleichsam die Macht Gottes aneignen, durch die Gebote oder Erlaubnisse etwas zu Gutem oder Bösem zu machen, das solches vorher nicht war. Die erste Klage in Europa über die wachsende Gesetzesflut, die seither stetig anschwillt, und ein Protest gegen den Anspruch der Kirche zu definieren, was gut und was schlecht ist. Formuliert wird diese Klage und dieser Protest von dem Philosophen gegen den Christen in Abaelards letztem Werk, dem "Dialog zwischen dem Philosophen, dem Juden und dem Christen". Die Kirche hat die Menschen Europas daran gewöhnt, in Gehorsam einer Autorität die unsinnigsten Entscheidungen über angeblich Gutes oder Schlechtes abzunehmen, die Könige dieser Welt haben dieses Werk fortgesetzt, und heute heißen die Instanzen Bundestag oder Ministerrat der Gemeinschaft. Wo bleibt unser Protest ? Jede Gesellschaft muss sich in der Zeit reproduzieren. Der gesellschaftliche Ort der biologischen Reproduktion ist in den meisten Kulturen die Ehe, der Verband, der in Zeiten, da nicht der Staat die Daseinsvorsorge leistet, die Ehe schützend umgibt, die Familie. In einer Gesellschaft, die wie die mittelalterliche Klassen und Stände kennt und in der die Unterschiede zwischen ganz unten und ganz oben so krass, so existenziell, für die Unteren so lebensbedrohend sind, dass wir sie uns kaum mehr vorstellen können, in einer solchen Gesellschaft definiert die Geburt eines Menschen in einer oder in eine Familie ihn selbst ganz und gar, in einer solchen Gesellschaft steuert das Eingehen einer Ehe den Fluß der Vermögen und die politische Bedeutung der Familien. Über den Abschluss einer Ehe zum Zweck der Reproduktion der Familie des Mannes verhandeln und entscheiden die beiden Familien, die Männer dieser Familien, und häufig muss noch die Einwilligung des Lehnsherren der Familie des Bräutigams eingeholt werden. Mit Liebe als seelischer Beziehung zweier Menschen und Sexualität als der Erfüllung körperlicher Bedürfnisse des Mannes - nach den Bedürfnissen einer Frau fragte ohnehin kein Mann - hatte dieser Vorgang der Eheschließung nichts zu tun. Für die Berechtigung des Mannes, aus der ihm angetrauten Frau seine Familie fortzupflanzen, musste zu Zeiten Abaelards der Bräutigam der Frau einen Teil seines Vermögens, seines Grund und Bodens überschreiben. Lateinisch dos und deutsch "Brautgabe, Morgengabe" genannt, wurde ihre Höhe in den Eheverträgen genau festgelegt und in der Regel durch die Mitgift der Braut ergänzt. Diese Vermögenstransaktion adeliger Familien ging sogar in das kirchliche Recht über, da die Morgengabe die in kirchlichen Augen allein rechtmäßige Ehe (nuptia, matrimonium, conjugium) von dem verpönten Konkubinat unterschied. So nimmt Ivo von Chartres den Kanon in seine Kirchenrechtssammlung "Panormia" auf: Keine rechtmäßige Ehe darf ohne Überschreibung der Brautgabe stattfinden, ihre Größe richtet sich nach den Möglichkeiten. Diese Ordnung der feudalen Welt, die die Frauen zu Objekten der Vermögensplanung der von Männern geführten Familien macht - Es steht fest, dass die Frau der Herrschaft des Mannes unterworfen ist, keine Bürgschaft leisten, vor Gericht nicht vortragen, kein Zeugnis ablegen kann und nicht den Frieden beschwören und nicht richten; um so weniger kann sie befehlen. - und zu Schachfiguren auf dem Felde politischer Auseinandersetzungen, diese Ordnung bricht Heloïsa auf mit ihrem Bekenntnis, dass allein die Liebe Grundlage ihrer Beziehung zu Abaelard ist. Mag dieses Bekenntnis, dass sie keinen Ehevertrag und keine Morgengabe je erstrebte, eine individuelle Äußerung sein, nur für sie und Abaelard geltend, so zeigt die Anklage gegen die Frauen, die sich der von Männern gestifteten Ordnung fügen, ihren grundsätzlichen Protest: Jene Frau, die lieber einen Reichen heiratet als einen Armen, darf nicht meinen, sie sei keine zum Kauf ausgestellte Ware. Ihr Begehren richtet sich nicht auf den Mann, sondern auf sein Vermögen, und die Frau, die solches Begehren zur Ehe führt, sie verdient Hurenlohn (merces), nicht dankerfüllte Liebe (gratia). Eine solche sucht Besitz, nicht den Menschen, und wenn einer kommt, der reicher ist (oder den höheren Stand hat), dem gibt sie sich hin (se velle prostituere). So wurde Bertrada von Montfort aus der Gräfin von Anjou zur Königin von Frankreich. Heloïsa sieht eine neue Ordnung zwischen Mann und Frau. Nicht das Recht des Mannes auf den Körper der Frau, das Recht, aus ihr Kinder zu zeugen, stiftet die Ehe, sondern die Liebe zweier Menschen. Was diese Beziehung "unverletzlich macht, ist die Treue von Seele und Geist (mind), nicht die Treue des Körpers." (P. Archambault). Moral ist eine Sache des Bewusstseins, der Einstellung des Willens, keine Sache des Körpers. Heloïsa hat nicht gefordert, dass Frauen Männern gleichberechtigt sind, immer hat sie sich Abaelard untergeordnet. Ihre neue Ordnung zwischen Mann und Frau aber ist die Voraussetzung dafür, dass beide herrschaftsfrei ein Paar bilden können, die Hoffnung unserer Zeit. Heloïsa nimmt 800 Jahre Entwicklung vorweg. Die Frauen ihrer Zeit sind ihr nicht gefolgt, und den Männern unter ihren Bewunderern war sie immer nur die Geliebte, die Treue, die Gehorsame. Ehe und Familie sind seit der Zeit Heloïsas bis in die heutige Generation Institutionen gewesen, die stets der Zerreißprobe eines dreifachen Kraftfeldes ausgesetzt waren, dem Anspruch der Kirche und der Kirchen, später übernommen vom Staat, dem Wollen der Familien oder wenigstens der Eltern und den Bedürfnissen der Partner. Erst in unserer Generation können Menschen so leben, wie Heloïsa meinte, dass sie leben sollen, frei nach dem gemeinsamen Willen in Liebe. Heil der Menschen ist gebunden an den Glauben und die Taufe; Verkündigung des Glaubens in der Predigt und der Spendung der Taufe ist Auftrag des Auferstandenen an seine Jünger, an seine Kirche: "Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen. Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden" (Mark.16.15). Abaelard greift diesen Auftrag des Herrn in der Auslegung der vierten "Vaterunser"-Bitte auf: "Unser tägliches Brot gib uns heute" (Matth.6,n). Da der Mensch Körper und Seele ist, benötigt er doppeltes Brot, das körperliche Brot, unsere Nahrung, und das geistige Brot, das Wort Gottes. Rasch kommt Abaelard auf dieses geistige Brot zu sprechen: Das geistige Brot erbitten wir von Gott, denn wir erhalten es nur, wenn er es uns gibt. Die Priester haben es uns auszuteilen. Von Verwaltern wird erwartet, dass sie treu erfunden werden. Wo aber ist in unseren Zeiten der treue und weise Knecht, den der Herr über seine Familie setzt, dass er ihr Speise gebe, treu und weise ? Und dann setzt Abaelard an zur Klage über die Kirche seiner Zeit, zur zornigen Anklage. Dass hier nicht der Enttäuschte spricht, der von der Kirche Verfolgte, der seelisch Verletzte, sondern ein klarsichtiger Beobachter, zeigen dieselben Anklagen, die Bernhard von Clairvaux nicht müde wird, in Briefen, Denkschriften und Büchern zu formulieren, die als hämische Verse die Runde unter Geistlichen und Mönchen machen, Unterhaltung durch Spaß am eigenen Versagen. "Die Welt ist voller Geistlicher", schreibt Abaelard an die Nonnen des Parakleten, und es klingt wie ein böses Echo auf den stolzen Ausruf Bernhards von Clairvaux : "Die Welt ist voller Mönche." Brauchen die Menschen sie jedoch, sind keine Priester zur Stelle. "Zeitgenössische Geistliche" - moderni sacerdotes - nennt er die, die den ordo des Priestertums empfangen haben, ihre Leben aber in Unordnung verbringen. Mit dem gemeinen Volk prassen sie zwar, liegen sie bei Trinkgelagen, erzählen sie sich Geschichten, ausgedachte Geschichten und wahre Geschichten, über Helden im Kampf und Helden über Frauen, das Wort Gottes aber verkünden sie nicht. Nicht dass sie Gott nicht dienten, nein, die feierliche Liturgie Clunys vor Augen und im Ohr wirft ihnen Abaelard vor: Sie wähnen Gott gehorsam zu sein im täglichen Dienst, die Worte des Gotteslobes jubilieren sie, vielmehr zischen sie (jubilant, immo sibilant), und die Zuhörer, die den Klang der Worte in sich aufnehmen, werden durch die Gebärden ihrer Körper verführt, nicht aufgebaut... Es vergehen die kirchlichen Feiertage, es vergeht ein ganzes Jahr, und kein Wort hört das Volk von ihnen, das zu bilden ihnen aufgetragen ist, kein Wort vom Bösen abzuhalten, zum Guten zurückzurufen und im Guten zu bestärken... Ja es gibt Prediger, wie Unkraut vom Teufel im Garten des Herrn gesät, die bekleidet mit den Zeichen des Priestertums durch die Welt wandern und die dumm gelassene Menge von Sünden niedergedrückt noch lügend loben und glücklich preisen und "Frieden, Frieden", im Munde führen, obwohl kein Frieden ist. Und dann schlägt der Stil Abaelards plötzlich um. Aus der Philippika, aus der beißenden Strafrede - einer unter den ungezählten seiner Zeit -, wird plötzlich ein Hilferuf zu Gott, herausgepresst aus der Angst um die Menschen, die wegen des Versagens der Kirche ihr Ziel auf Erden, ihre Bestimmung, ihr Heil nicht erreichen, die ewige Seligkeit, und statt dessen verstoßen werden in die Qualen der Hölle: Unser tägliches Brot gib uns heute, Vater, weide Herr, Du selbst weide Deine Herde! Deine Salbung lehre sie alle, damit Dein Geist durch den inneren Hauch (per internam aspirationen) ihnen die Lehre eingebe, die der stumme Mund solcher Priester nicht verbreitet. Unser tägliches Brot gib uns heute, das leibliche Brot und das geistige Brot: Das leibliche Brot, indem Du die Erde sprießen lässt, auf dass sie die Frucht zurückgebe; das geistige Brot, indem Du die Würdenträger der Kirche und ihre Lehrer innerlich bewegst, Deine ihnen anvertraute Lehre zu verstehen und zu verbreiten. Aber wenn jene nicht Sorge tragen, dieses Brot zu brechen, dann weide Du uns selbst durch den verborgenen Hauch Deines Geistes, damit wir innerlich durch Dich das Brot empfangen, um das wir äußerlich durch deren Schweigen betrogen worden sind. Unser tägliches Brot gib uns heute! Abaelard ist überzeugt, dass Gott keinen Menschen verloren gehen lassen will. Abaelard ist überzeugt, dass nicht äußere Werke Menschen gerecht machen, und sei es der Empfang eines Sakraments, sondern nur die Liebe zu Gott. Und Abaelard weiß, dass man Gott kennen muss, von seiner Liebe zu uns gehört haben muss, um ihn so zu lieben, dass er in diese Liebe der Menschen sich selbst, sein Heil gibt. Und da die Kirche seiner Zeit, die modernen Geistlichen, nicht tun, was Menschen zum Heile führt, da dies so ist, so kann Gott das Heil der Menschen nicht an das Werk, an das Wirken der sichtbaren Kirche gebunden haben. Gewiss, Prälaten und Geistliche sind nützlich, wenn sie predigen und Sakramente spenden. Tun sie es aber nicht, dann wirkt der Heilige Geist in den Menschen das Heil. Kirche Jesu Christi ist nicht die sichtbare Hierarchie vom Papst hinunter zu Erzbischöfen, Bischöfen, Pfarrern und Hilfsgeistlichen. Kirche ist das Wirken des Heiligen Geistes im Verborgenen, im Herzen jedes Menschen, der sich nach Gott sehnt, der bereit ist, ihn zu lieben. Eine Generation vor Joachim von Fiore überwindet Abaelard die sichtbare Priesterkirche des Zweiten Reiches, lehrt er die Geistkirche des Dritten Reiches. Kein Satz der wissenschaftlichen Werke Abaelards begründet den Ketzervorwurf. Diese Lehre aber von der prinzipiellen Überflüssigkeit der zeitgenössischen Kirche war der Kern aller Ketzerlehren um Abaelard herum und nach ihm bis zur Reformation. Sie hat er aber nicht der wissenschaftlichen Welt anvertraut, sondern nur den Nonnen des Parakleten. Der letzte Protest des Paares richtet sich gegen die Eigentumsordnung der feudalen Umwelt. Sie abzulehnen fällt uns heute leicht, gilt es doch als Leistung des Bürgertums, die Feudalordnung überwunden zu haben. Deshalb sei kurz angemerkt, dass unter Abaelards Verdikt auch die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft fällt, die heutige Verteilung von Wohlstand zwischen der Ersten und der Dritten Welt. "Abaelard entwickelt ... das Ideal eines mönchisch-kommunistischen, auf asketisch-spiritualistischer Grundlage errichteten Volksstaates" (F. Heer), hierin einer Ansicht mit Bernhard von Clairvaux. Dass Abaelard den Besitz und die Nutzung des Eigentums, die über die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse hinausgehen, als Diebstahl an den Armen ansieht, wurde oben schon belegt. Ein Distichon aus dem Lehrgedicht für seinen Sohn Astralabius sei dafür noch angeführt: Wer mehr für sich behält, als was zum Leben nötig ist, greift dem Armen mit der Faust an die Kehle. Und dabei muss man immer mitdenken, dass in Mitteleuropa bis an die Wende unseres Jahrhunderts und in der Dritten und Vierten Welt bis heute das Bruttosozialprodukt nie ausreichte, bei gleicher Verteilung allen Menschen ein menschenwürdiges Leben zu sichern. Leben im Überfluss einiger war immer ein Todesurteil für andere, Eigentum in der Hand der Besitzenden war immer Diebstahl an den Darbenden, Verhungernden. Um Abaelards Ablehnung der konservativ-feudalen wie der zu seiner Zeit entstehenden modernen bürgerlich-städtischen Eigentumsordnung zu verstehen, muss man wissen, dass die Theologen aus der Heiligen Schrift geschlossen hatten, dass es nach dem Naturrecht keinen rechtmäßigen persönlichen Besitz gäbe. Jure naturali omnia sunt communia omnibus. "Nach dem Naturrecht ist alles allen gemeinsam", wie Gratian knapp und präzise in seinem "Decret" formuliert. Deutlich wird das aus einem Brief Ivos von Chartres an den Päpstlichen Legaten Erzbischof Hugo von Lyon aus dem Jahre 1097, wobei der Hinweis auf das Recht des Kaisers zeigt, dass das römische Recht, das "Corpus Juris Civilis" des Kaisers Justinian das Denken der Menschen zu bestimmen begann. Das göttliche Recht finden wir in der Schrift, das weltliche in den Gesetzen der Könige. Wer kann etwas besitzen, wenn nicht kraft menschlichen Rechts ? Nach göttlichem Recht heißt es: "Dem Herrn gehört die Erde und ihre Fülle" (PS. 24,1). Nach menschlichem Recht heißt es: "Dieses Landhaus gehört mir, dieses Haus gehört mir, dieser Knecht gehört mir." Nimm das Recht des Kaisers hinweg, wer wagt dann zu sagen, "dieses Landhaus gehört mir, das ist mein Knecht, dieses Haus ist mein Besitz"? Und ebenso kann man dann nicht mehr sagen "was gehört mir und was dem König?" Was gehört Dir dann als Eigentum? Nur kraft der Gesetze der Könige wird Eigentum besessen (per jura regum possidentur posses) Dieser Verteilung der Güter der Welt nach der Willkür der Herrschenden und der dadurch bedingten Ungleichheit ihrer Nutzung setzt Abaelard das Ideal eines Gemeinwesens entgegen, dessen Bürger gleich sind und einfach leben. Die moralischen Gebote des Evangeliums sind die Wiederherstellung des Naturrechts, nach dem allen alles gemeinsam ist. "Gemeinwesen (res publica) heißt eine Gesellschaft, deren Verwaltung auf den allgemeinen Nutzen gerichtet ist." Ein Gemeinwesen liegt somit nur vor, wenn seine Leiter - die Könige - das ihnen anvertraute Gut nicht zu eigenem Nutzen nützen, sondern zum allgemeinen. Abaelard führt dann für seine Ansicht die Stoiker an, die Kirchenväter und besonders die Apostelgeschichte: "Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam" (Ap.4,32). Eine besondere Herausforderung für Abaelard war die Ansicht Platons, dass auch die Frauen gemeinsam seien, wie Sokrates im "Timaios" sagte, "dass alles, was Ehen und Kinder anlangt, allen insgesamt gemeinschaftlich sei" (Tim. 130), eine Ansicht, die Frauen und Kinder zu Herrschaftsobjekten der Männer macht. Abaelard benutzt die Stelle, um darzulegen, dass Platon nicht die Promiskuität gelehrt habe, sondern die Vergesellschaftung der Kinder. Damit sprengt Abaelard nicht nur feudale und frühbürgerliche Eigentumsordnungen seiner Zeit, sondern auch die Familienordnung. Nicht die Geburt aus einer und in eine Familie - den Status eines Menschen bestimmend. Unfreier, Bauer, Bürger, Ritter, Hochadeliger, König -, sondern die gemeinsame Erziehung der Kinder soll sie zu gleichen Menschen machen. Indem wir "Vater unser" sagen, bekennen wir den Hochmut ablegend ihn, den Vater, "nicht anmaßend als unser eigen oder uns auszeichnend vor anderen, sondern ihn uns gemeinsam". Wird der Gedanke Heloïsas wieder aufgenommen, dass die Weltleute leben sollen wie die Mönche, die heiraten dürfen - und Abaelard erinnert daran, dass nach der Schilderung der Alten die Leiter des Gemeinwesens der Tugend nach leben sollen wie heute die Mönche und Kleriker -, dann wird die Ordnung des Parakleten übertragen auf die Siedlungen der Welt, in der Menschen ein einfaches Leben führen, "mehr in Liebe geeint als in Herrschaft", verheiratet in Paaren, die Kinder aber erzogen von allen, ohne Standesunterschiede, ohne das angeborene Recht, Herren anderer Menschen zu sein. Und es ist kein Zufall, dass in der "Theologia Christiana" dem Traktat vom Gemeinwesen unmittelbar der Traktat vom Mönchtum folgt. Abaelards und Heloïsas Paraklet ist das erste Utopia Europas, humaner als Campanellas "Sonnenstaat", verwandt den Gedanken des Thomas Morus und wie seine Lehre entwickelt an den antiken Autoren. Gemessen an den Maßstäben Platons, der Stoa und der Heiligen Schrift ist Abaelards Weltentwurf eine Ordnung im Chaos.

In Visu Noctis

"Die Schweigehaft von Cluny" (R. Thomas), die im Glauben geteilte Welt, die Bereitschaft, Überzeugungen mit Gewalt statt mit Worten durchzusetzen - Abaelard musste seine Bedrängnis umsetzen in ein Werk, so wie er es in Maisoncelles getan hatte, im Parakleten, in Saint-Gildas. Eines Nachts muss es gewesen sein, während des schweigenden Umgangs durch die hohen dunklen Hallen der Basilika Peter und Paul oder während der langen meditierenden Nachtgottesdienste, eines Nachts hatte er eine Schau, öffneten sich ihm Raum und Zeit:

Aspiciebam in visu noctis... Ich sah in der Schau der Nacht... beginnt sein letztes Werk. Dieser Beginn sagt zweierlei. Das erste Wort verknüpft den Text mit der Person Abaelards zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort. Was folgt, ist kein Traum, keine literarische Fiktion. Abaelard sah. Er sah in visu noctis, in der Schau der Nacht. Abaelard, aller Mystik fern, öffnet sich ein neuer Raum, ein Raum, für den es noch kein Wort gibt, nicht der räumlich-zeitliche Raum, in dem es Schulräume und Lehrer und Schüler gibt, nicht ein ausgedachter Raum, den man subjektiv gestalten kann, wie es die großen Epiker gegen Ende des Jahrhunderts tun werden, wenn sie von König Arthus' Tafelrunde, dem ersten runden Tisch der europäischen Geschichte, ausbrechen in die Welt der Zauberer, Feen und Frauen. In der Schau der Nacht öffnet sich Abaelard die Welt, die man später Gelehrtenrepublik nennen wird, die Welt, in der die Großen des Geistes miteinander verkehren, über die wirkliche Zeit und den wirklichen Raum hinweg. Ich sah in einer Schau der Nacht, und siehe da, drei Männer aus verschiedenen Richtungen kommend standen vor mir. Sie fragte ich sogleich in der Weise der Schau, was ihr Bekenntnis sei und ihr Begehren. Wir sind Menschen, sagten sie, die verschiedenen Glaubensgemeinschaften (secti diversi fidei) angehören. Wir bekennen uns aber gleicherweise als Verehrer des einen Gottes, verschieden jedoch in den Glaubenslehren und in den Glaubensleben... Lange haben wir miteinander über unsere verschiedenen Glaubensgemeinschaften gesprochen und gestritten. Doch nun erbitten wir von Dir die Entscheidung. Die drei Männer stellen sich dann vor als Anhänger dreier Glaubensgemeinschaften. Zwei haben ein Gesetz, der Jude das Gesetz Mose oder das Alte Testament, der Christ das Gesetz Christi oder das Neue Testament. Sie vertreten Schriftreligionen. Der dritte, der Philosoph genannt wird, ist dem Naturgesetz verpflichtet, der Maxime, "die Wahrheit durch Vernunftgründe zu suchen". Er spricht die Heillosigkeit der Welt aus, "die zur Zeit in verschiedene Glaubensgemeinschaften geteilt ist (mundus divisus)”, und er will nach Prüfung aller Glaubensgemeinschaften derjenigen zustimmen, "die mit der Vernunft am meisten übereinstimmt". Dieser Philosoph ist im jetzt anhebenden Dialog nicht einfach der Vertreter der antiken griechisch-römischen Philosophie. Er ist natürlich auch nicht einfach der Vertreter des Islam. Als solchen hätte Abaelard ihn in seinen Dialog nicht einführen können, denn Abaelard standen keine Argumente aus dem Koran zur Verfügung. So muss er als Vertreter der in Nordspanien nach der Eroberung von Toledo (1085) und Saragossa (1118) den Christen bekannt werdenden arabisch beeinflussten Philosophie gelten, eines Überlieferungsstromes, der gerade zu Abaelards Lebzeiten anzuschwellen begann, Europa erst die Antike voll erschloss und zur Leistung der Hochscholastik führen sollte. Will man sich einen konkreten Menschen darunter vorstellen, mag man an den Zeitgenossen Avampace denken, arabisch Ibn-Bagga, der im Jahre 1138 gestorben war und der offensichtlich alles aus der Lehre des Koran abgelehnt hatte, was dem Maßstab der Vernunft widersprach. Diese drei Männer legen Abaelard im kontroversen Dialog die Frage vor nach dem höchsten Gut. Um Abaelard zur Übernahme der Entscheidung zu gewinnen, führt der Philosoph im Namen aller drei die Gründe an, warum sie sich Abaelard als Richter gewählt haben. Zuerst formuliert er das Kriterium: Sie konnten sich untereinander nicht einigen, ihre Kontroverse führte nicht zum Ziel. "So waren wir gezwungen, uns einen Richter zu wählen." Soll dieser von allen drei anerkannt sein, muss er gleicherweise das Alte Testament, das Neue Testament und die Gründe (rationes) der Philosophie kennen. Und so fiel die Wahl auf Abaelard: Von Dir wissen wir, dass Du die Fähigkeiten der philosophischen Vernunftgründe (vires philosophicarum rationum) wie die Schutzgründe beider Gesetze (munimenta utriusque legis) beherrschst... Je mehr durch die Schärfe Deiner Geisteskraft (acumine ingenii) die Kenntnis aller Wissenschaften Dein Ruhm (fama) überragt, um so mehr und um so stärker steht bei uns fest, dass wir Dein Urteil erbitten und annehmen, um so mehr und um so stärker können wir unsere Entscheidung gegen jedermanns Angriffe verteidigen. Wie groß die Schärfe Deiner Geisteskraft ist, wie Dein Gedächtnis die Fülle philosophischer und geistlicher Lehren birgt, davon zeugt nicht nur Dein gewöhnlicher Eifer in den Schulen, durch den Du, wie allgemein feststeht, in beiden Fächern sowohl Deine Lehrer wie die anderen Verfasser wissenschaftlicher Werke überrundet hast. Als sichersten Beweis hierfür bietet sich uns jenes bewundernswerte Werk der Theologie dar, das der Neid (invidia) nicht ertragen konnte, das der Neid auch nicht vernichten konnte, das durch die Verfolgung nur berühmter wird. Diese Sätze sind der Schlüssel zum Verständnis der Situation Abaelards in Cluny. So wie er sich in Saint-Gildas aus der unerträglich gewordenen Spannung durch die "Planctus" befreite und die Befreiung in der Leidensgeschichte dokumentierte, so befreit er sich jetzt von der Verurteilung und dem erzwungenen Schweigen durch sein letztes Werk, den "Dialog zwischen einem Philosophen, einem Juden und einem Christen" und dokumentiert er die Befreiung in den zitierten Sätzen. Abaelard ist nicht gebrochen, hat nicht geschwächt durch die Krankheit gehandelt, hat nicht resigniert. Gott hat ihn zum Magister bestimmt, der Kirche unverfügbar, und wenn sie ihm auch Schulräume aus Stein und Schüler aus Fleisch und Blut nehmen kann, nicht nehmen kann sie ihm die Zugehörigkeit zur universitas scientiarum, der Welt des Wissens, die entstehen wird durch Abaelards Leistung. Die alten Ausdrücke verwendet der Philosoph, mit denen Abaelard vor zehn Jahren schon seine jetzt 30 Jahre zurückliegenden Kämpfe der Jugend beschrieben hatte, sein Genie (ingenium), das er der Routine der anderen entgegensetzte, sein Ruhm (fama), der alle überragt, und der durch beides bewirkte Neid (invidia), der ihn Zeit seines Lebens verfolgte. Abaelard nimmt die alte Selbstinterpretation wieder auf, distanziert sich aber durch eine leichte Ironie, wenn er die Ausführung des Philosophen eine "Anpreisung mit dem Öl der Schmeichelei" nennt, und überträgt sie in den neu erschlossenen Raum europäischer Wissenschaft. Dass er die Wissenschaft seiner Zeit vorangebracht hat, eine neue, nicht mehr zu verlierende Grundlage für jeden weiteren Fortschritt geleistet hat, davon ist Abaelard auch nach der Verurteilung überzeugt, und in dieser Überzeugung hat er sich nicht geirrt. Dass er sein Werk "Theologia", in welcher Fassung auch immer, angefangen von der ersten, auf dem Konzil von Soissons verbrannten, bis zur letzten, bereinigten, die er jetzt gerade in Cluny in Erfüllung seiner Zusage an Bernhard von Clairvaux fertig gestellt hatte, dass er dieses Werk durch den Philosophen im Dialog loben lässt, hat zwei Gründe. Zum einen stellt Abaelard vor der Wissenschaft der Zukunft klar, dass er zu seinem wissenschaftlichen Lebenswerk steht. Der Undurchsichtigkeit des Anklageverfahrens, den Verurteilungen durch Konzil und Papst und der teilweisen Aufhebung dieser Urteile tritt er entgegen durch die klare Aussage, dass er zu allem steht, was er in diesem Werk in seiner letzten Fassung geschrieben hat, und das ist ungekürzt alles, was für Abaelard wichtig war und für uns neu. Innerhalb des Dialogs werden durch die Berufung auf dieses Werk die Kriterien angegeben, die für die Gesprächspartner die Voraussetzungen sind, ihm das Urteil zu übertragen, die Determination der Frage nach dem höchsten Gut, denn er allein im damaligen Europa hatte eine Lehre vertreten, die Gesprächsgrundlage über alle Glaubensgemeinschaften hinweg hätte sein können. Es gibt nur einen Gott, der alle Menschen über alle Zeiten, Räume und Völker zum Heil berufen hat, der allen Menschen die Möglichkeit dieses Heils anbietet und der als Voraussetzung des Heils nur eines verlangt, dass sie ihn als Gott und Herrn lieben über alles und ihren Nächsten wie sich selbst. Alles andere war für Abaelard verhandlungsfähig, und genau auf diese Verhandlungsgrundlage ließen sich die drei Dialogführenden ein. Abaelard nimmt die alte Selbstinterpretation - Genie, Ruhm, Neid - wieder auf und überträgt sie in den neuen Raum. Neid ist die Gegenbewegung zum Genie, der den verfolgt, dem Gott Genie geschenkt hat, Anruf Gottes, das Genie nicht im Stolz zu verspielen. Genie, das ist die Fähigkeit, Neues zu entdecken und zu formulieren, Gegensatz zur Routine als der Wiederholung von Gefundenem. Ruhm, das ist das Bild, das die Lebenden von einem Zeitgenossen haben, in dem sie ihn groß und bedeutend sehen. Ruhm erwirbt ein Lehrer durch seinen Vortrag vor seinen Schülern. Abaelard hat selbst bezeugt, und alle Berichte über ihn bestätigen es, dass seine Wirkung auf dem mündlichen Vortrag beruhte. Jetzt hat er "in der Nacht von Cluny" (R. Thomas) keine Schüler mehr, ist er nach dem Sprachgebrauch der Zeit kein Lehrer mehr. In visu noctis, in der Schau der Nacht, tritt der Magister Petrus Abaelard heraus aus den engen Schulstuben seiner Zeit und tritt ein in die Gelehrtenrepublik über Zeiten und Räume. Das Vorrecht des Magisters ist es, eine aufgeworfene Streitfrage, eine quaestio, lege artis, nach den Regeln der Wissenschaft, zu entscheiden, zu determinieren. Die Schüler kann die Kirche ihm nehmen, aber da sie ihm sie nimmt, treten die Vertreter der Glaubensgemeinschaften vor ihn hin, nicht etwa Kirchenfürsten oder Rabbiner, sondern Menschen, die gelernt haben mit Texten und Autoritäten umzugehen, Vertreter der Wissenschaft, und sie verlangen die Entscheidung der obersten Streitfrage von ihm als Magister, die Streitfrage "nach der moralischen Philosophie, die die Vollendung aller Wissenschaften ist", die Frage "nach dem höchsten Gut und dem schlimmsten Übel und nach dem, was einen Menschen glücklich oder elend macht". Da es über diese und solche Fragen Streit geben kann, ist es Aufgabe der Wissenschaft, sie zu beantworten. Abaelard ist überzeugt, dass nur die Vernunft im Streit Frieden erhalten oder bringen kann. Die Frage nach dem höchsten Gut, es ist das Ausgangsthema Abaelards, denn schon das erste, in Soissons verbrannte Werk begann mit den Worten: "Des höchsten Gutes Vollendung, die Gott ist...” Der Bogen ist gerundet. Zurückhaltend nimmt Abaelard das Ersuchen an: Ich habe das Geschenk der Ehre, das Ihr mir anbietet, nicht erbeten, und durch das Ihr alle anderen Weisen übergehend einen Toren zum Richter gemacht habt. Aber auch ich bin gleich Euch von den erfolglosen Streitgesprächen dieser Welt geprägt, und so ziehe ich es vor zuzuhören... Keine Lehre ist nämlich so falsch, wie einer der Unsrigen bemerkte (Augustinus), dass ihr nicht ein Anteil Wahrheit innewohnt, und ich halte kein Streitgespräch für so inhaltsleer (frivolus) (eine Spitze gegen Bernhard von Clairvaux), dass es nicht irgendeine Belehrung birgt... Hörend wird der Weise weiser, einsehend wird er die Entscheidungsgewalt (gubernaculum) besitzen (Sprichw. 1,5). Nur noch einmal macht er als Richter in dem Dialog eine Bemerkung, nachdem der erste Teildialog zwischen dem Juden und dem Philosophen beendet ist und der Philosoph den Richter auffordert, ein Zwischenurteil abzugeben: Deine Dialogpartner stimmen beide zu, den Spruch meines Urteils jetzt schon entgegenzunehmen. Für mich ist es aber wichtiger, mehr zu lernen, als jetzt zu urteilen. Erst will ich die Gründe aller hören, damit ich um so treffender (discretior) im Urteil bin, je aufnehmender ich im Hören war. "Erst will ich die Gründe aller hören." Ist das eine Spitze gegen die Bischöfe der Nachtversammlung in Sens, gegen Papst Innozenz II. in Rom, die alle geurteilt hatten, ohne zu lernen, ohne zu hören ? Der Gang des Dialoges kann hier nicht nachgezeichnet werden. Nur das biographisch Wichtige sei hervorgehoben. Zu Beginn seiner Auseinandersetzung mit dem Juden macht der Philosoph noch einmal darauf aufmerksam, dass die Überlieferung, die Tradition einer Gesellschaft zur eigenen Sicherheit und zur Verurteilung fremden Denkens führt. Die Erziehung führt zur Einstellung der Menschen und die Mischehe zur Bedrohung. Sie wird in der Gesellschaft daher abgelehnt. Für den Juden ist dies die Wahrung der Identität, für den Philosophen ein Verfehlen der menschlichen Möglichkeiten. Ablehnend zitiert er die Bibel: "Der Sohn kann nichts tun, was er nicht den Vater tun sieht" (Joh. 5,19). Dem stellt er die Vernunft gegenüber. Wahrheit darf keine Frage der Gewohnheit sein. Der erwachsene Mensch darf nicht Eltern oder Lehrern folgen, sondern nur dem eigenen Urteil: das pädagogische Konzept des autonomen Individuums um die Mitte des 12. Jahrhunderts! Erstaunlich ist Abaelards Wortführung des Juden. Seine Argumentation gegenüber dem Angriff des Philosophen auf die religiöse und einende Mitte dieses Volkes, "den Glauben an die unaufhebbare Erwählung, der sich in der Bewährung des Leidens als Läuterung verstand" (R. Thomas), weist ihn als den orthodoxen Juden des europäischen Mittelalters der Kreuzzüge aus. Abaelard lässt ihn sagen: Mit Dir (dem Philosophen) teile ich den Glauben an den einen wahren Gott. Vielleicht liebe ich ihn gleich Dir, und ich zeige dies darüber hinaus durch Werke, über die Du nicht verfügst... Entweder klage etwas in diesem Gesetz an oder unterlasse die Frage nach dem Sinn unserer Gesetzesbefolgung. Als sehr grausam stellt jeder Gott hin, der meint, unser hartnäckiges Bemühen, das so viel Leid ertrage, bleibe ohne Lohn; denn von keinem Volk weiß man oder nimmt man an, dass es so viel für Gott gelitten hat, wie wir ununterbrochen für ihn ertragen. Es kann ja keinen Sündenmakel geben, den der Feuerofen dieser Not nicht tilgt. Dies muss wohl zugegeben werden. Sind wir nicht unter alle Völker zerstreut und die einzigen, die, ohne König oder weltliche Regenten, durch so große Steuerforderungen bedrückt werden, dass wir fast Tag für Tag ein unerträglich hohes Lösegeld zahlen, um unser elendes Leben freizukaufen ? Ja wir werden von allen für derart verachtens- und hassenswert gehalten, dass jeder, der uns etwas zuleide tut, dies für überaus gerecht hält und glaubt, Gott damit ein ganz großartiges Opfer darzubringen. Eine derart leidvolle Gefangenschaft könne uns, so meinen sie, nur widerfahren sein, weil Gott uns aus tiefstem Herzen hasse. Als gerechte Vergeltung bewerten sie es, wenn Heiden und Christen ihren Grimm an uns auslassen. Die Christen aber, weil wir, wie sie sagen, ihren Herrn getötet haben, scheinen einigermaßen Grund zu haben, uns zu verfolgen. Sieh nur, unter welchen Menschen wir heimatlos in der Fremde leben und auf welche Schutzherren wir uns verlassen müssen. Unserem schlimmsten Feind müssen wir Leib und Leben anheim stellen, und wir sind genötigt, uns der Redlichkeit von Ungläubigen anzuvertrauen... Nirgendwohin, außer zum Himmel, können wir gefahrlos gehen, und selbst da, wo wir wohnen, sind wir nicht sicher. Wenn wir zu irgendeinem gar nicht weiten Ort gehen, zahlen wir für einen wenig Vertrauen erweckenden Wegschutz einen hohen Preis. Ausgerechnet die weltlichen Herren, die über uns gesetzt sind und deren Schutz wir mit drückenden Abgaben bezahlen, können desto weniger auf unseren Tod warten, je zügelloser sie sich über unseren Besitz hermachen. Für uns, die wir durch diese Dinge derart eingeschnürt und zu Boden gedrückt sind, als ob sich gegen uns allein die ganze Welt verschworen hätte, ist bereits das ein Wunder, wenn man uns noch leben lässt. Weder Äcker noch Weinberge, noch irgendwelchen Landbesitz dürfen wir haben, weil niemand uns solchen Besitz vor offenen oder versteckten Angriffen schützen kann. Daher bleibt uns als Erwerbsquelle, um unser elendes Leben zu fristen, fast nur, dass wir gegen Zinse an Nichtjuden Geld verleihen. Dies macht uns freilich jenen ganz besonders verhasst, die glauben, diesbezüglich sehr hart bedrückt zu sein... Aus meinen Worten erhellt gewiss, wie problematisch wir Gottes wegen im Exil unter Euch leben... Aus diesen und zahllosen anderen Beobachtungen erhellt in der Tat, dass jeder von uns, wenn er dem Gesetz gehorcht, Gott gegenüber jenen Satz des Psalmisten ausspricht : "Um der Worte Deiner Lippen willen bin ich nicht abgewichen von den schwer zu gehenden Wegen" (PS.16,4). Es gibt keine frühmittelalterliche Darstellung des Judentums, die so ohne Aggressivität ist, so von dem Ziel bestimmt, aus der Mitte heraus den jüdischen Glauben zu verstehen, wie diese Darstellung Abaelards. Er zitiert zwar nicht, wie wenige Jahre später Petrus Venerabilis, den Talmud, einige Passagen der Dialogführung lassen aber darauf schließen, dass Abaelard über jüdische Gewährsmänner Kenntnis zeitgenössischer jüdischer Lehrer hatte. Wir wissen nicht, ob die beiden Äbte über ihre literarischen Pläne zum Judentum gesprochen haben. Wenn sie es taten, so ist es Abaelard "nicht gelungen, den anderen auf den verhaltenen, friedlichen Ton einzustimmen, den er selbst angenommen hat" (J.-P. Torrel, D. Bouthillier). Die innere Dynamik des Dialogs entfaltet sich voll im zweiten Teil, dem Gespräch zwischen dem Philosophen und dem Christen. Formal ist es dadurch gekennzeichnet, dass der Philosoph und der Christ von Diskussionskontrahenten zu Gesprächspartnern werden, ihre Argumente immer feiner (discretior) aufeinander eingehen. Als der Christ ungeduldig wird wegen der steten Einwände des Philosophen, antwortet dieser: Sei nicht bedrückt, ich bitte Dich, wenn ich so viele Thesen und Meinungen in unser Gespräch einführe, denn nur so kann ich aus allen die Wahrheit der Gründe herausfinden. Wer einen Ort sucht, den er bisher nicht kennt, ist gezwungen, viele Wege zu erforschen, damit er den richtigen auswählen kann. Umschreibt man "Möglichkeiten suchen" mit "zweifeln", dann ist diese Textstelle die abgeklärte Fassung der provokativen These Abaelards aus der Einleitung zu "Sie et Non", 20 Jahre zuvor:

"Zweifelnd gelangen wir zur Prüfung, prüfend erfassen wir die Wahrheit."

Hatte der Philosoph zu Beginn des Dialogs die Herkunft der Glaubensüberzeugungen angegeben: Geburt in ein Volk, Erziehung in diesem Volk; ihre gewöhnliche Fassung: ungeprüfte Meinung (opinio); und das Mittel, aus den widersprechenden Meinungen die Wahrheit auszuwählen: die Vernunft (ratio), so führt der Dialog jetzt zur alten Problematik Abaelards und seiner Zeit zurück: Vernunft gegen Glaube, Gründe gegen Autorität. Ohne Vernunft kann ein Dialog zwischen Anhängern verschiedener Glaubenslehren nicht geführt werden, ist Wahrheitsfindung durch Worte anstatt durch Gewalt nicht möglich. Antidialektik ist nicht nur unwissenschaftlich, sondern auch unmenschlich. Europa stand diese Erfahrung damals erst bevor. Das Ziel des Christen ist es, den Philosophen zu der Einsicht zu führen, dass demgegenüber die Kategorien menschlichen Denkens und Sprechens nicht die Kategorien sind, die Gott und sein Heil für die Menschen - wir würden heute sagen - konstituieren. Zum letzten Mal nach dem Angriff Bernhards und der monastischen Theologie versucht Abaelard jetzt dialogisch zu verdeutlichen, worin die Methode der Dialektik besteht, Hyperdialektik abweisend, Logik fordernd: Jede menschliche Rede muss ihren Regeln unterliegen, soll sie Argumente transportieren können. Wieder, wie in seinem ersten theologischen Werk, ist Augustinus sein Zeuge. Wird der Bereich menschlicher, natürlicher Erfahrung überschritten, darf man aber nicht annehmen, dass sie Gott und sein Heil verfügbar machen könnte. Mit Immanuel Kant könnte Abaelard sagen, ihre Kategorien sind Erkenntnis- und Sprachkategorien, nicht Wesenskategorien des Dinges an sich, nicht konstituierende Kategorien Gottes. Der Christ legt dies im Dialog so dar, dass ihm der Philosoph zustimmt. So über die Methode einig, führt der Christ zum höchsten Gut, nachweisend, dass Menschen aus Natur es nicht erreichen können, Vernunft allein nicht hinüberträgt, da es "jede Wissenschaft übersteigt (disciplinam transcendit)”, da es Gott selbst ist. So entwirft Abaelard durch den Christen im Dialog das Bild christlicher Verheißung, der Dialektiker, dem Logik Spaß gemacht hatte, der sie aber methodisch in Glaubensdingen immer nur verwendet haben wollte "zur Stütze und Verteidigung des Glaubens (rationibus fides astruenda et defendenda)”, der Dialektiker als Christ an der Schwelle des Todes: Ganz anders ergeht es allen, die sich der Schau Gottes (visio Dei) erfreuen. Von ihr sagt der Psalmist: "Ich werde gesättigt sein, wenn Dein Glanz (gloria) erschienen ist" (PS. 17,15). Das bedeutet: Nachdem Du mir durch Dich selbst die Hoheit (majestas) Deiner Göttlichkeit enthüllt hast, fehlt nichts, und ich möchte nichts mehr verlangen; und dann werden sie in dem Maße unverletzbarer hervorgehen, als sie ihn mehr lieben, den sie wahrhaftig an sich schauen, so dass nämlich die höchste Liebe im Genuss des höchsten Gutes, das unsere wahre Glückseligkeit ist, das höchste Gut des Menschen zu nennen ist. Doch so groß ist dieser Glanz der göttlichen Hoheit, dass keiner ihn ansehen kann, der nicht augenblicklich, in seiner Erscheinung selbst, glückselig werde... Wenn also seine Getreuen oder Gläubigen (fideles), die ihn über alles geliebt haben, die so große Glückseligkeit erblicken, wie sie es im Glauben keineswegs ermessen konnten, wird die höchste Wonne, ihre Glückseligkeit, eine immerwährende sein. Der Dialog ist unvollendet geblieben. Die Entscheidung des judex über die richtige Ansicht des höchsten Gutes und den Weg, auf dem Menschen es erlangen, die determinatio, fehlt. Nach einer langen Ausführung des Christen bricht der Text ab. Hat die weisende Hinführung des Philosophen durch die in den Argumenten des Christen wirkende Hand Gottes zum rechten Weg geführt ? Der Philosoph hat es im Text nicht erkennen lassen, so wie uns die Texte nicht erkennen lassen, ob die weisende Hinführung Heloïsas durch die in den Argumenten und Handlungen Abaelards wirkende Hand Gottes Heloïsa den rechten Weg hat finden lassen. Im Dialog drückt der Philosoph die Voraussetzung dafür selbst aus und beschreibt so indirekt den in dieser Welt nur als Hoffnung möglichen Besitz des rechten Glaubens und des rechten Weges: Gott wahrlich, Gott, den wir besorgt um unser Heil suchen, so weit wir es vermögen, er ergänzt in Gnade (gratia), was unseren Werken (opera) fehlt. Er hilft den Wollenden, damit sie können, und belebt sie (inspirat), damit sie wollen. Ist der Weg zu diesem Ziel durchschritten, dann wäre dieses Ziel selbst die determinatio gewesen, wäre Abaelard nicht der über den Parteien stehende Richter, der für sie, innerlich fremd und autoritativ, ein Urteil verkündet, sanktioniert mit der Androhung ewiger Höllenstrafe, gleich den Urteilen, die die Amtskirche verkündet, wäre Abaelard vielmehr der im Hören wirkende Katalysator, der den Weg, nicht das Ziel vermittelt. Denn eines war im Schlusswort wieder aufzunehmen, die Selbstinterpretation Abaelards in der "Nacht Clunys". Ging der Beginn des Dialogs, im ersten Wort in der ersten Person Einzahl "Ich sah" auf Abaelard in Raum und Zeit bezogen, nicht von der luziferischen Anmaßung aus, an Fähigkeiten, Einsicht und Einstellung über allen Menschen zu stehen, über Magistern, Bischöfen und Papst, Rabbinern und Philosophen, Gott gleich die Wahrheit zu wissen ? Hatte nicht genau dies ihm Bernhard von Clairvaux vorgeworfen: Hybris, die Ursünde des Menschen ? Dieser Mensch gleicht nicht sich selbst, er überschreitet sein Maß, in der Klugheit der Worte entleert er die Kraft des Kreuzes Christi. Alles kennt er, was im Himmel und auf Erden ist, alles außer sich selbst... Was verschlossen und versiegelt ist, er öffnet es nicht, er bricht es entzwei." Was Bernhard im Vorwurf als Tatsache beschreibt, wusste Abaelard in der Gewissenserforschung als Gefahr. So weist er sogleich die Anpreisung des Philosophen zurück. Konnte jedoch die Selbstbezeichnung als Tor noch durch die mittelalterliche Rhetorik erzwungen sein, so zeigt die Aufnahme und Auffassung des Richteramtes als Hören, Hinhören, Lernen und Überzeugen den Weg, der Hybris zu entgehen. Und im Dialog lässt Abaelard Luzifer auftreten, den Engel, der zum Satan wurde, von Gott geschaffen, "das Wesen aller Dinge am tiefsten zu erfassen". Er entging der Hybris nicht: Und so hoch er sich im Stolz erhob, so tief stürzte er in die Schuld. Das letzte Vermächtnis Abaelards, dem Tode abgerungen und unvollendet, hat die Gelehrtenwelt der Magister des Mittelalters nicht mehr erreicht. Zwei Generationen nach seiner Abfassung, um das Jahr 1200, wurde es abgeschrieben, ohne seinen Namen zu nennen, und mit der "Exhortatio" eines Unbekannten versehen, der einen neugierigen Schüler die rechte Weise der Lektüre dieses Werkes lehrt, in Holz und Pergamentüberzug gebunden und mit Buckel und Lederschließen versehen. So ist das Werk in der Österreichischen Nationalbibliothek auf uns gekommen. Zwei weitere mittelalterliche Handschriften gibt es, eine in der Bibliothek des Britischen Museums aus dem 13. Jahrhundert und eine in Oxford, dem Baliol College, aus dem 14. Jahrhundert. Drei spätere Handschriften aus Oxford und Cambridge sind erst in der Neuzeit abgeschrieben worden. Im Jahre 1881 wurde der Text erstmals ediert. Keine bisher gefundene Textstelle anderer Schriften zeigt, dass das Werk, das die begonnene Erstarrung des Christentums in Europa zur Kirchenlehre am konsequentesten aufgebrochen und gleichzeitig die Grundlehre des Christentums gegen jede Auflösung verteidigt hat, von irgendeinem Menschen aufgenommen wurde und in ihm Widerhall gefunden hätte. Die "Nacht von Cluny" währte länger als die geistige Wirksamkeit des Christentums.

Das Bleibende

Wenige Jahre nach Abaelards Tod wird sein Name aus den wissenschaftlichen Kontroversen der Zeit verschwunden sein. Als sich Menschen wieder für ihn, für ihn und Heloïsa interessieren, ist es nicht sein, nicht ihr beider gemeinsames Werk, sondern die romantisch verklärte Tragik ihrer Liebesbeziehung, die sie bewegt. Wären nicht die vier persönlichen Briefe überliefert, wäre Heloïsa unbekannt und Abaelard ohne Aufmerksamkeit geblieben. Nur zögernd beginnt im 19. Jahrhundert die Beschäftigung mit dem theologischen Werk, und erst, als um die Mitte unseres Jahrhunderts langsam die kritischen Editionen erscheinen und die verschiedenen mediävistischen Disziplinen, die Geschichte der Theologie, der Philosophie, der Literatur und Musik, des Ordenslebens und der Kanonistik eingehender das Werk der beiden untersuchen, erst seitdem wird ihr Lebensbild deutlich. Dennoch, von Heloïsa hat außer ihren beiden persönlichen Briefen nichts und von Abaelard nur weniges geschichtlich unter seinem Namen gewirkt. Abaelard war Autodidakt. Vergleicht man seine Bildung mit der anderer Großer seiner Zeit, etwa mit der Hugos von Saint-Victor (+1141), oder den Lehren der Magister der Schule von Chartres, dann wird die Begrenztheit des Wissens und des Interesses von Abaelard deutlich. Ihm fehlt jedes Interesse an der spekulativen Theologie, das Anselm von Canterbury (+1109) geleitet hat, und der versuchte, durch die Texte der Offenbarung hindurch und die Überlieferung der Kirche Gottes Pläne mit den Menschen zu verstehen, die ratio fidei, den Glaubensgrund, wie die Theologen der Scholastik dies später nennen. Abaelard fehlt jedes Verständnis für die zeitgenössische Mystik, wie sie in den Werken Bernhards von Clairvaux (+1153) und Wilhelms von Saint-Thierry (+1148) blüht. Mathematik und Physik, wie sie von Bernhard (+1124 oder 1130) und Theoderich von Chartres (+ nach 1149) gelehrt wurden, blieben ihm innerlich fremd. Und nichts deutet darauf hin, dass der Mitbegründer der Scholastik Fragestellungen der Metaphysik entwickelt hätte, der systematischen Mitte der philosophischen Scholastik, sie erst die großen Weltdeutungen des Mittelalters ermöglichend. Nein, universal gebildet war Abaelard nicht. Nacheinander richtet sich sein Interesse fokussiert auf die Logik, die Trinitätslehre und die Ethik. Alles andere blieb ihm unwichtig. Interessieren so die Inhalte seines Denkens mit Ausnahme der Ethik heute kaum mehr, so liegt seine Bedeutung auf der - wie wir heute sagen - Metaebene. Nicht was er lehrte - wieder mit Ausnahme seiner Ethik -, war und ist aufregend, sondern wie er es sagte. Abaelard ist der erste methodische Wissenschaftler Europas. Drei Merkmale seiner Arbeit zeichnen ihn aus. Seine Begabung zur Sprachanalyse und Sprachlogik lässt ihn die Bedeutung der Worte genau fassen, mit deren Hilfe er seine Ansichten formuliert. Diese Begabung, von ihm zu seiner Zeit fast allein geübt und erst von Gilbert von Poitiers (+1154) fortentwickelt, machte ihn zum gefürchteten Gegner in Diskussionen. Zu rasch hatte Abaelard einem Gegner mehrdeutige Wortverwendung nachgewiesen und damit dessen Argumentation aufgehoben. Die in ihrer Bedeutung geklärten Worte werden in Sätzen geordnet, und die korrekte Abfolge der Sätze, die Schlüsse, werden von der Logik geregelt. Abaelard versucht, strenger als seine Zeitgenossen, die Abfolge der Sätze in seinen Texten nicht von freien Assoziationen oder der Topik der Tradition bestimmen zu lassen, sondern von der Logik. Ganz gelang ihm das nicht. Erst Thomas von Aquin (+1274) wird diese Kunst unübertroffen beherrschen. Korrekter als seine Zeitgenossen war Abaelard aber allemal. Und drittens versuchte Abaelard jede Fragestellung an einer Stelle seines Werkes in einen übergeordneten, alle seine Lehren zusammenfassenden systematischen Zusammenhang zu stellen. Auch diese Systematik, die ihre Vollendung in den Summen des Albertus Magnus (+1280) und Thomas von Aquin fand, gelang ihm noch nicht. In immer neuen Anläufen hat er sich an ihr versucht, sie aber nicht erreicht, sei es, dass widrige Zeitumstände seines unruhigen Lebens ihn hinderten, sei es, dass seine systematische Kraft, ohne die unterstützende Hilfe seiner Kollegen auf sich allein gestellt, für das selbst entworfene Ziel nicht ausreichte. Vielleicht auch hinderte der bleibende Zweifel an der Richtigkeit seiner Aussagen, die ihn zu immer neuen Formulierungen trieb, sein System ruhig zum Abschluss zu bringen. Wissenschaft als System aber war gedacht und wurde die innere Antriebskraft europäischer Wissenschaft bis heute. Seine Werke haben nicht gewirkt, seine Schüler traten zurück in das Dunkel der Anonymität. Nach außen war Bernhard von Clairvaux der unangefochtene Sieger. Dieses äußere Bild aber trügt. Haben Kirchenleute Bernhard auch immer wieder überschwänglich gelobt, sein jedes Mittel rechtfertigendes Vorgehen gegen Abaelard verteidigt, wissenschaftsgeschichtlich gewirkt hat der Mystiker und Prediger über seine Zeit hinaus kaum. Abaelard aber hat die Struktur europäischen Denkens verändert. Wurde auch sein Name in der Sentenzenliteratur der entstehenden Scholastik nicht mehr genannt, seine Art des Fragens, seine Methodik der Behandlung der Probleme lag ihr zugrunde, und so lernten die Schüler der Magister an Abaelard, ohne ihn zu kennen. Petrus Lombardus besonders, einer seiner Nachfolger als Leiter der Domschule von Paris, hatte Abaelards Lehren und Methodik seinen "Sentenzen" zugrunde gelegt, seinen Namen aber verschwiegen. So vermutlich nur konnte dieses Werk zum Textbuch der gesamten Theologie bis in die Zeit der Reformation werden, und so wurde jeder Student der Theologie, ohne dass er es wusste, methodisch zum Schüler Abaelards. Längst aber war um diese Zeit der wissenschaftliche Anspruch Abaelards, alles außer der Heiligen Schrift in Frage zu stellen, bezweifeln zu dürfen, Streitfragen durch Vernunft zu klären und das gedanklich Geklärte in korrekter Sprache zu formulieren, aus dem Kreis der Theologie herausgetreten, hatte die Philosophie und die aus ihr entspringenden Disziplinen ergriffen und war zur wissenschaftlichen Denkstruktur Europas geworden. Der Mann, den die Kirche geächtet hatte, dessen Werk verschollen war, hat in der Anonymität Geschichte gemacht.

Ausblick

Abaelard und Heloïsa sind keine modernen Menschen. Abaelard ist kein Zweifler, kein Zerstörer, kein Aufklärer. Heloïsa ist keine emanzipierte Frau, keine Vorkämpferin für die freie Liebe. Beide sind Menschen des Mittelalters, der Zeit, da es sich anschickt, seine Höhe erst zu erreichen. Sie sind Menschen, denen Gott eine Wirklichkeit ist von einer Kraft und Allgegenwart in Natur, Leben und Geschichte, die uns vorzustellen schwer, wenn nicht unmöglich ist. Dennoch haben sie mit ihrem Leben in die Zukunft gewiesen, und erkennen wir in ihnen ein Stück von uns selbst. Menschliches in historischer Gestalt. Abaelard und Heloïsa haben über sich berichtet. Nur so wissen wir durch Quellen nicht nur über sie, wie über viele andere auch, sondern wissen durch sie, haben wir Zugang zu ihnen, können wir versuchen, ihre Worte selbst zu verstehen. Sie haben über sich berichtet mit einer Offenheit, die Späteren fremd, anstößig, ja unmöglich erschien. Sie zeigen uns, dass Scham zwar immer verhüllen mag, dass aber das, was Scham zu verbergen trachtet, sich mit den Menschen und den Zeiten ändert. Abaelard und Heloïsa zeigen sich uns als Individuen, und sie sind bereit, sich so sehen zu lassen, ihren Zeitgenossen gegenüber und auch uns. Es gilt als Errungenschaft des Christentums, Menschen als Individuen erkannt zu haben, jeden einzelnen als unverwechselbar. Gewiss, mag in der Lehre der Theologen Gott jeden einzelnen mit Namen gerufen haben, in der Gesellschaft ihrer Zeit interpretierten sich die Menschen über ihre Rollen, die weitgehend festlagen, vom einzelnen unveränderbar, eine Selbstinterpretation von den Kirchenleuten noch verfestigt. Abaelard hat sich auf keine Rolle festlegen lassen, nicht aus seinem jeweiligen Status heraus gehandelt. In jeder neuen Situation hat er sich nicht festgelegt durch Herkommen verhalten, sondern aufgrund eines freien Entwurfs, gebunden in der Erfahrung seines Gewissens, natürlich aber auch mit der Möglichkeit, sich zu verfehlen. Und Heloïsa hat als Frau in der entscheidenden Krisis ihres Lebens, als uneheliche Mutter um ihre Hand zum ehelichen Bund gebeten, alle Anforderungen, die ihre Familie, die Kirche, die sie umgebende Gesellschaft an sie stellten, zurückgewiesen, nur noch Frau, Heloïsa, für den Mann, Abaelard. Die Individualität zeigt sich für Abaelard als das ingenium, als die ihn vor anderen auszeichnende Fähigkeit, Neues zu erkennen und auszudrücken. Abaelards ingenium ist nicht das Genie der Renaissance oder der Sturm-und-Drang-Zeit. Aber jeder Mensch, dem der Ausdruck "Genie" in unserem Sinne zu Recht zukommt, muss etwas von dem ingenium Abaelards haben, der Fähigkeit zu Neuem und der Kraft, in den Katastrophen nicht zu zerbrechen, die Menschen denen zu bereiten trachten, die Neues bringen. Die Individualität zeigt sich für Heloïsa in der Unbedingtheit ihrer Liebe gegen die Anforderungen ihrer Umwelt. Sie hat geliebt, und nie war sie bereit, ihr Ja zu verneinen. Abaelard und Heloïsa besaßen beide das Ingenium, jeder und jede für sich. Aber das Leben, das das Neue brachte, war nicht das Leben eines jeden der beiden, sondern es war ihrer beider Leben, das Leben des Paares. Abaelard und Heloïsa waren ein Paar, wie es vor ihnen keines und nach ihnen und sichtbar nur wenige gegeben hat. Sie waren ein Paar als Träger eines gemeinsamen Geschicks, in dem vom ersten Augenblick, da sie wussten, dass sie einander lieben würden, es immer weniger in ihrem Leben gab, das auch so gewesen wäre, wenn es den anderen nicht gegeben hätte. Irgendwann war jeder, war jede das, was er war, was sie war, nur so, weil es die andere, den anderen gab, unverwechselbare Individualität in der Bindung des Paares. Und auch diese Bindung darf von uns nicht vorschnell nur als das angesehen werden, was Mann und Frau, die sich lieben, nun einmal bindet. Sicher, sie haben sich so geliebt, kurz und heiß würden wir sagen. Aber dann kam die Katastrophe, kam nach dem Leben der Tod dieser Liebe, kamen zehn Jahre, in denen sie einander fern waren, für die wir nicht wissen, was Heloïsa Abaelard bedeutete, wir nur ahnen können, wie Heloïsa Abaelard erfuhr. Dann kamen sie sich wieder nahe; der Mann und die Frau, nahe in der Liebe und zugleich in Distanz gehalten durch Abaelards Versehrung. Sie kamen sich nahe in der rücksichtslosen Offenheit Heloïsas, die uns noch heute ergreift, in der Antwort Abaelards, die uns unverständlich bleibt, wenn wir nicht einzusehen vermögen, was für beide ewige Verdammnis bedeutete. Sie kamen sich nahe in dem Entwurf der Utopie eines Lebens, das für alle Menschen lebbar sein sollte, nicht nur für die Privilegierten, das menschlich sein sollte, nicht lebensverachtend, das Männern und Frauen ihre Würde als Männer und Frauen lassen und geben sollte, das christlich sein sollte im Sinne der Botschaft Jesu, das dem Geist Raum geben sollte, dem Geist als Wissenschaft und dem Geist als Göttlichem. Sie kamen sich nahe im Bau des Parakleten. Das Unverwechselbare dieses Paares, neu für das Mittelalter und für uns fern und fremd, kann wohl nur verstanden werden, wenn der Bogen seines Lebens als Einheit gesehen wird, wie ihn Petrus Venerabilis in seinem Kondolenzbrief an Heloïsa beschrieb mit Worten, die in unseren Ohren gleicherweise unfein wie überstiegen, hingegen im Mittelalter aber möglich waren: der Bogen des gemeinsamen Lebens, der aufsteigt aus der fleischlichen Vereinigung der Körper in Lust, hinaufführt zur Liebe des Geliebten und der Geliebten, des Ehemanns und der Ehefrau, des Mönchs und der Nonne, des Abtes und der Äbtissin, bis er einmündet in die Hoffnung der dereinstigen wonnevollen Vereinigung, in der die Liebe zueinander unvorstellbar schön und unvorstellbar fest und unvorstellbar ewig sein wird in der gemeinsamen Schau Gottes, "denn Gott ist die Liebe" (1. Joh.4,8).

 


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