Chalautre und die Quelle der Logik

Die Gedichte des Hilarius von Orléans über seinen Lehrer Peter Abaelard

© Dr. Werner Robl, Juli 2003

Im Laufe des Jahres 1126 verließ der Kanoniker und ehemalige Magister von Orléans namens Hilarius das Nonnenkloster Le Ronceray in Angers, nachdem er dort fast zwanzig Jahre lang seinen Dienst versehen hatte, und begab sich zu Peter Abaelard in die Einöde des Paraklet. Diese Studienphase fand Niederschlag in seinem dichterischen Schaffen. Es sind insgesamt drei Gedichte aus der Feder des Hilarius von Orléans erhalten, die in Zusammenhang mit seinem Lehrer Peter Abaelard diskutiert werden sollten:

An der vorliegenden Stelle ist nur ein kurze Vorstellung der Gedichttexte vorgesehen. Wer in die Hintergründe ihrer Entstehung und in den interessanten Lebenslauf des Hilarius von Orléans etwas tiefer einsteigen will, sei auf eine Arbeit verwiesen, die sich innerhalb dieser Seiten an anderer Stelle findet:

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Carmen VI: Ad Petrum Abaelardum

Nach MS BN Paris lat 11331, 12. Jhd., fol5r.-fol6v., entsprechend der Edition W. Bulst, M.L. Bulst-Thiele: Hilarii Aurelianensis Versus et Ludi, Epistolae, Leiden, New-York, Kopenhagen, Köln 1989, S. 30-31.

Die lateinische Version des Gedichts entspricht wie die folgenden der obenstehenden Edition Bulst/Bulst-Thiele.  Auf die Angabe von Varianten und den Eigenarten der Manuskriptschreibweise wurde verzichtet. Beigefügt ist eine freie deutsche Übersetzung, die wenigstens auf das Versmaß und das Reimschema einigermaßen Rücksicht nimmt.

Das Gedicht besteht aus insgesamt 10 fünfzeiligen lateinischen Strophen, mit je  Zehnsilblern und dreisilbig-endständigem Reim: aaaa 4'+6`+Refrain. Vor allem der Refrain in der Volkssprache, der sich in ähnlicher Form übrigens auch im letzten der folgenden Carmina findet, spricht dafür, dass das Lied von den Wanderscholaren, die sich am Paraklet versammelt hatten, gesungen wurde.

Das einleitende Lingua-perfida-Motiv entlehnte Hilarius bei Juvenal und Martial.

Lingua serui, lingua perfidie,
Rixe motus, semen discordie,
Quam sit praua, sentimus hodie,
Subiacendo graui sententie.
Tort a uers nos li mestres.

Lingua serui, nostrum discidium,
In nos Petri commouit odium.
Quam meretur ultorem gladium, // (fol. 6v)
Quia nostrum exstinxit studium.
Tort a uers nos li mestre.

Detestandus est ille rusticus,
Per quem cessat a scola clericus.
Grauis dolor, quod quidam publicus
Id effecit, ut cesset logicus.
Tort a uers nos li mestre.

Est dolendum, quod lingua seruuli,
Magni nobis causa periculi,
Susurrauit in aurem creduli,
Per quod eius cessant discipuli.
Tort a uers nos li mestre.

O quam durum magistrum sentio,
Si pro sui bubulci nuntio,
Qui uilis est et sine pretio,
Sua nobis negetur lectio.
Tort a uers nos li mestre.

Heu. quam crudelis est iste nuntius,
Dicens: fratres, exite citius:
Habitetur uobis Quinciacus1,
Alioquin non leget monacus.
Tort a uers nos li mestre.

Quid, Hilari, quid ergo dubitas?
Cur non abis et uillam habitas?
Sed te tenet diei breuitas,
Iter longum et tua grauitas.
Tort a uers nos li mestre.

Ex diuerso multi conuenimus,
Quo logices fons erat plurimus,
Sed discedat summus et minimus,
Nam negatur, quod hic quesiuimus.
Tort a uers nos li mestre.

Nos in unum passim et publice
Traxit aura torrentis logice
Desolatos, magister, respice
Spemque nostram, que languet, refice.
Tort a uers nos li mestre.

Per impostum, per deceptorium
Si negare uis adiutorium,
Huius loci non Oratorium
Nomen erit, sed Ploratorium.
Tort a uers nos li mestre.

Zunge des Knechts, Organ der Niedertracht,
Erweckst den Streit, sähst Samen der Zwietracht!
Bitt're Erfahrung haben wir nun gemacht:
Der Tag hat uns harten Schiedsspruch gebracht.
Der Meister hat uns Unrecht getan!

Das Wort des Knechts hat die Bande zerstört
Und Peters Hass über uns jetzt entleert.
Kappe die Zunge, du rächendes Schwert!
Die Lehre bleibt uns in Zukunft verwehrt!
Der Meister hat uns Unrecht getan!

Zum Teufel der Bauer, er geht verquer!
Die Schule hat keinen Kleriker mehr!
Wie schlimm ist der Schmerz, dass ein Höriger
Ihn aufgeben ließ, uns'ren Logiker.
Der Meister hat uns Unrecht getan!

Knechtische Arglist - es ist nur zu wahr -
Bringt uns in die allerhöchste Gefahr.
Feiges Gerücht hält der Meister für wahr,
Vergrault die Schüler zu guter Letzt gar.
Der Meister hat uns Unrecht getan!

Wie hart gegen uns der Meister entschied.
Glaubt allzu gern eines Ochsenknechts Lied.
Niemand an ihm Wert und Nutzen noch sieht.
Hartherzigkeit jede Vorlesung mied!
Der Meister hat uns Unrecht getan!

Wie grausam ist für uns alle die Mär:
Lauft, Brüder, fort, Peter will euch nicht mehr!
Zieht um nach Quincey, macht den Campus leer!
Sonst liest uns der Mönch überhaupt nicht mehr!
Der Meister hat uns Unrecht getan!

Hilarius, mach' kein trübes Gesicht!
Geh' in das Dorf, akzeptier' das Gericht!
Die Frist läuft ab, alsbald schwindet das Licht.
Bedenk' den Weg und Dein Übergewicht!
Der Meister hat uns Unrecht getan!

Wir haben uns zahlreich hier eingestellt,
Wo der Logik Born am reichlichsten quellt.
Ob groß, ob klein, nun den Abschied gewählt!
Kein Dürstender labenden Trunk erhält!
Der Meister hat uns Unrecht getan!

Nur eines hat uns hierher gezogen,
Wir sind im Sturm der Logik geflogen.
Nun treiben wir auf der Tränen Wogen.
Gib, Herr, die Hoffnung, um die wir betrogen!
Der Meister hat uns Unrecht getan!

Lug und Trug vor die Türe uns weisen,
Herbe Verbote den Beistand entreißen.
So kann der Ort nicht mehr Bethaus heißen.
Klaghaus wird sich als richtig erweisen!
Der Meister hat uns Unrecht getan!

 

 

Carmen VIII

Nach MS BN Paris lat 11331, 12. Jhd., fol6r.-fol7v., entsprechend der Edition W. Bulst, M.L. Bulst-Thiele: Hilarii Aurelianensis Versus et Ludi, Epistolae, Leiden, New-York, Kopenhagen, Köln 1989, S. 32-33.

In diesem Panegyrikus berichtet Hilarius über einen angenehmen Aufenthalt in Chalautre-la-Grande, einer Ansiedlung in der Nähe von Provins und dem Paraklet. Hilarius berichtet, dass er an diesem Ort der Musen vom einen Lehrer die Kunst der Logik vermittelt bekommen habe und so mit Wissen und Weisheit erfüllt worden sei. Dieser Lehrer entspricht, auch wenn er namentlich nicht genannt ist, ziemlich sicher Peter Abaelard. Der Paraklet-Konvent besaß übrigens unter Heloïsa in Chalautre-la-Grande einige Weinberge.

Zum Auftakt verwendet Hilarius das Fama-Mala-Motiv nach Vergil, Aenaeis Buch IV, Vers 174-177 in einer hübschen Variante. Die weiter unten vorkommende Anspielung auf Pegasus bezieht sich auf eine griechische Sage, nach welcher der Hufschlag des Pegasus die Quelle Hippokrene zum Sprudeln brachte, die zu Poesie und Gesang begeisterte.

Formal besteht Carmen 8 aus 9 vierzeiligen Strophen mit fortlaufenden Zehnsilblern, wobei die Strophe 1 in den beiden ersten Zeilen einen Binnenreim enthält. Ansonsten findet sich das bereits vom vorherigen Gedicht bekannte, dreisilbige Reimschema aaaa 4´+ 6`.

Fama mendax et Fama perfida,
Fama procax et satis inuida
................................
Parua promit et premit lucida.

Fama monstrum, quo nil deterius,
Fame numquam credam ulterius,
De qua iure dixit Virgilius,
Fama malum, nam // nil deterius (fol. 7v)

Caliastrum Fama predixerat
Nil ualere, sed fallax fuerat,
Que peruerse dissimulauerat
Bona, quibus locus exuberat.

Regum aulas atque palatia
Clericorum equant hospitia:
Sunt nimirum loca regalia,
Non eremi uaste mapalia.

Vinetumque multum et fertile
Vinum confert firmum et nobile,
Nec Falernum est comparabile
Nec gustauit Silenus simile.

Fontis quoque susurrans riuulus,
Per quem alte uidetur calculus,
Pegaseo nimirum emulus,
Voluptatis accedit cumulus.

Fons sincerus, fons indeficiens,
Fons per solem siccari nesciens,
Ad quem tendat doctrinam sitiens,
Inde bibat et erit sapiens.

Fuit olim fons ille Musicus,
Quem sacrauit chorus poeticus,
Nunc ad istum festinet clericus,
Potet inde: sic fiet logicus.

Ad hoc gentis accedit largitas,
Cuius nobis summa benignitas
Res quas poscit nostra necessitas
Gratis confert et quasi debitas.

Du treulos Gerücht, verlogener Wicht,
ein Lästermaul, voller neidischer Sicht!
.................................................
Bringst nichts zustande, verdunkelst das Licht!

Böses Gerücht, du schlimmstes Unwesen,
Glaub' dir nicht mehr, bist wertlos gewesen.
Mit Recht kann man das Dichterwort lesen:
Übel Gerücht, das schlimmste Unwesen!

Chalautre sei, so hast du erwogen,
wertloser Ort, doch dies ist gelogen!
Um ein Haar hättest du mich betrogen:
Gutes kommt hier entgegengeflogen!

Des Königs Hof, der Geistlichkeit Palast
Bieten nicht gleichen Raum für den Gast!
Mit Vorliebe hält der König hier Rast.
Kein Eremit stöhnt unter seiner Last.

Erblickst du die Weinberge, die reichen?
Süffiger Wein sucht hier Seinesgleichen:
Die Glut wird kein Falerner erreichen!
Silen würde hier vor Neid erbleichen!

Munter plätschert das Wasser der Quelle
Es blinkt am Grund das Steinchen so helle.
Der Dichtkunst begegnet auf der Stelle
als Konkurrent die Freude, die helle.

Nichts, reiner Quell, lässt dich je versiegen.
Sonnenglut bringt dich nicht zum Erliegen.
Wissensdurst hat sich zu dir verstiegen,
Dein Trank wird jede Torheit besiegen!

Die Quelle war einst jener Musiker,
der geweiht vom Reigen der Lyriker.
Nun eilt zu ihr hurtig der Kleriker
Und labt sich daran: Man wird Logiker!

Hinzukommt der Leute Großherzigkeit:
Welch' feiner Stil, Gipfel der Gütigkeit!
Man achtet auf meine Bedürftigkeit.
Gibt umsonst, vergibt alle Schuldigkeit!

 

 

Carmen XIV: De Papa Scolastico

Nach MS BN Paris lat 11331, 12. Jhd., fol.12r.-fol.12v., entsprechend der Edition W. Bulst, M.L. Bulst-Thiele: Hilarii Aurelianensis Versus et Ludi, Epistolae, Leiden, New-York, Kopenhagen, Köln 1989, S. 47-48.

Dieses Lied an den "Scholastikerpapst" war von Hilarius für die Studenten konzipiert worden; es wurde wohl bei passender Gelegenheit, d. h. in geselliger, weinseliger Runde vorgetragen. Eventuell kam es bei Studentenfesten zum Einsatz, die in Analogie zu den Bakelfesten der Weihnachtsoktav gefeiert wurden und häufig in der Verulkung eines Lehrers mündeten. Die  Zote war sicher nicht gegen Peter Abaelard persönlich gerichtet, dem man wohl kaum Bisexualität und sexuelle Ausschweifung vorwerfen konnte. Hilarius mag aber dennoch bei der Abfassung einige Attitüden seines Lehrer im Paraklet motivisch verarbeitet haben.

Selbst sich der Leser zu einer zurückhaltenden Beurteilung entschließen und jegliche Bezüge zu Peter Abaelard bezweifeln, so behält es dennoch in Zusammenhang mit diesem als Anschauungsmittel seinen Wert, belegt doch die derblustige Posse die Lebendigkeit der Studentenszene in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts.

Das Gedicht weist im Wesentlichen denselben formalen Aufbau wie die beiden vorangehenden auf: Es besteht aus insgesamt 6 fünfzeiligen Strophen, mit zehnsilbigen Versen und dreisilbigen Endreimen aaaa 4´ + 6`, gefolgt von einem altfranzösischen Refrain 7´.

Papa summus, paparum gloria,
papa iugi dignus memoria,
pape plaudit scolaris curia,
pape dari non est iniuria
tort a qui ne li dune.

Papam omnis cognoscit regio,
pape seruit scolaris legio,
papam amat affectu nimio,
papa quouis est dignus premio.
tort a qui ne li dune.

Papam nouit miles et clericus,
papam tremit Gallus et Anglicus,
papa tutor et custos publicus,
pape donet quisquis est logicus.
Tort a qui ne li dune.

Pape uox est dulcis et unica,
papa nouit iocunda cantica,
papam amat turba scolastica,
pape nummi dentur et reliqua.
tort a que ne li dune. // (fol.12v)

Pape captus hunc uel hanc decipit,
papa quid uult in lectum recipit,
papa nullum uel nullam excipit,
pape detur, nam papa precipit.
tort a que ne li dune.

Pape nichil excludit mentula,
pape puer atque puellula,
pape senex placet et uetula,
pape cibus detur et pocula.
tort a qui ne li dune.

Der höchste Papst, der Päpste Glorienschein,
Der Papst prägt sich so dem Gedächtnis ein.
Dem Papst Applaus! Die Schüler stimmen ein.
Dem Papst sich widmen, wird rechtens sein!
Weh dem, der ihm nicht frönt!

Des Papstes Ruhm ist weit und breit bekannt.
Dem Papste dient jeder Scholar im Land.
Den Papst zu lieben ist als gut erkannt.
Der Papst verdient sich jedes Unterpfand.
Weh dem, der ihm nicht frönt!

Den Papst erkennt jeder Pfaff' und Krieger.
Vorm Papst erbebt Brite und Gallier.
Der Papst hilft uns, Beschützer und Wächter.
Dem Papst zahlt Lohn ein jeder Logiker!
Weh dem, der ihm nicht frönt!

Des Papstes Wort ist voll von süßem Klang.
Der Papst erweckt die Schönheit im Gesang.
Den Papst liebt der Scholar im Überschwang.
Dem Papst verschafft er Geld und Brot ohn' Zwang!
Weh dem, der ihm nicht frönt!

Des Papstes List schlägt jeden übers Ohr.
Der Papst nimmt jeden sich in Bette vor.
Der Papst verschlingt sie allesamt im Chor.
Dem Papst gibt dich! Das schreibt der Papst Dir vor.
Weh dem, der ihm nicht frönt!

Des Papstes Schwanz lässt keine Chance aus.
Der Papst lädt Sohn und Tochter sich ins Haus.
Der Papst schließt Greis und Greisin niemals aus.
Der Papst verschmäht auch weder Trank noch Schmaus.
Weh dem, der ihm nicht frönt!

 


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