Goswin von Anchin - ein Widersacher Peter Abaelards

© Dr. Werner Robl, Neustadt/WN, Fassung April 2003

 

Die Abbatiale von Anchin, von Somain aus gesehen, Auschnitt aus einem Albumblatt des Duc Charles De Croy von 1603.Im 19. Jahrhundert machte Dom Brial im Sammelwerk Recueil des Historiens des Gaules et de la France die lateinische Vita des Abtes Goswin von Anchin erstmals einem breiteren Publikum zugänglich. Die Auszüge stammten aus der Edition des Jesuiten R. Gibbon, die bereits im Jahr 1620 in Douai erschienen war, aber lediglich lokale Beachtung gefunden hatte. R. Gibbon hatte Manuskripte aus dem späten 12. und 15. Jahrhundert verwendet, die sich heute im Besitz der Stadtbibliothek von Douai befinden. [1]

Das erste Buch der Biographie über die frühen Jahre Goswins trägt in der Manuskriptvorlage die anonyme und eigenartig einsam stehende Einleitungsformel Suo suus seipsum, d. h. "Der Seine dem Seinen sich selbst." Ob der Passus vom Schreiber der Vita stammt, ist ungewiss. Die in mittel-alterlichen Briefen häufig anzutreffende Grußformel Suo suus seipsum suggeriert, dass sie ur-sprünglich ein persönliches Schreiben an einen Vertrauten oder Freund einleitete. Für die Hypothe-se, dass Goswin selbst der Autor eines derart autobiographischen Briefes gewesen sein könnte, spräche neben dem seipsum der Umstand, dass der Bericht mit einem markanten und relativ frühen Zeitpunkt seiner Karriere endete, dem Amtsantritt als Abt von Anchin. Nach dem Tod Goswins, sicher noch vor 1173, könnte dieser in vivo entstandene Archetypus von fremder Hand zur Vita umgearbeitet worden sein: Jedenfalls wird Goswin ausschließlich in der dritten Person erwähnt.

Dagegen repräsentiert das zweite Buch mit der Schilderung einer Engelsvision, telepathischer Fähigkeiten und der Todesahnung Goswins sowie seiner Todesumstände eindeutig eine Hagiogra-phie, die posthum aus Goswins unmittelbarem Umfeld heraus angefertigt wurde und deshalb kei-nesfalls aus seiner eigenen Hand stammen kann. Das dritte Buch enthält wiederum einen Kurzab-riss von Goswins Leben und stammt ganz unübersehbar von einem weiteren Autor.[2]

Somit repräsentiert die Vita reichlich inkonsistentes Material. Wahrscheinlich hatte Alexander, der Prior des Klosters Anchin unter Goswin gewesen war und ihm nach dem Tod ins Abbaziat (1166-1174) nachfolgte, einen Teil der Biographie zusammengestellt. Alternativ kommen auch andere Mönche dieses Konvents als Autoren und Kompilatoren in Frage. [3]

Das erste Buch dieser insgesamt fragmentarischen und inhomogenen Vita schildert u. a. zwei Episoden, die Goswin in Gegnerschaft zu Peter Abaelard brachten. Anlass und Verlauf der Begegnungen waren jeweils für beide Seiten äußerst unangenehm. Die Anekdoten betreffen Abaelards Lehrtätigkeit auf dem Montagne Saint-Geneviève bei Paris vor 1113 und die Zeit nach seiner Verurteilung auf dem Konzil von Soissons im Jahr 1121.

Der literarische und historische Wert der Lebensbeschreibung Goswins ist relativ bescheiden. Sie neigt zu ermüdender Breite, weist zahlreiche stilistische Mängel auf und ist, was Abaelard betrifft, von einem prätentiösen, stellenweise gehässigen Tonfall getragen. Häufig ist an der objektiven Darstellung zu zweifeln. Der anonyme Verfasser des ersten Buches ließ zum Beispiel an Peter Abaelard kein gutes Haar und bezeichnete den Philosophen im Mönchsgewand u. a. als Rhinozeros und als „Kläffer“ oder verglich ihn mit einer Schlange und einem tollwütigen Hund.

Trotzdem sind die betreffenden Textstellen für die Abaelard-Forschung von erheblichem Interesse, handelt es sich doch hierbei um die einzige externe Quelle zu zwei Lebensabschnitten, von denen man ansonsten nur durch Peter Abaelard selbst in seinem nicht minder subjektiven Bericht der Historia Calamitatum [4] erfährt.

So besitzen ungeachtet der Voreingenommenheit des Autors einige Aussagen durchaus einen Realitätsbezug. Unter anderem finden sich relativ glaubwürdige Angaben zum äußeren Aussehen des Philosophen, von dem Heloisa und er selbst einst gesagt hatten, er breche die Herzen aller Frauen.[5]

Auch die Schilderung von Abaelards Verhalten während seiner Klosterhaft in Saint-Médard bei Soissons wirkt plausibel, gibt sie doch Wesenszüge wider, die auch von anderen Autoren referiert wurden.

Welche Aussagen der Vita die Leser jedoch für realistisch oder für übertrieben halten möchten und welche nicht, bleibt letztendlich ihnen selbst überlassen. Es ist keine weitere Quelle bekannt, welche diesbezüglich die Entscheidung erleichtern könnte.

 

Ex vita Beati Gosvini Aquicinctensis abbatis - aus dem Leben des hl. Goswin, Abt von Anchin

Goswin, der sich kurz vor seinem Tod auch Warinus nannte, [6] war um 1082 im Schloss Douai in Flandern als Spross der dortigen Adelsfamilie geboren worden. [7] Er war somit nur wenige Jahre jünger als Peter Abaelard. Wie viele andere Zeitgenossen begann er zunächst nach Erreichen des legitimen Alters, d.h. mit ca. 15 Jahren, mit dem Studium der Philosophie und begab sich nach Paris, um dort seine Kenntnisse in der Dialektik zu vollenden. Sein erster Lehrer, ein gewisser Meister Hamerich in Douai, hatte ihm aufgrund seiner Begabung zu diesem Studium geraten. [8]

Ex libro primo

Capitulum I: Gosvini patria

Magni futurus apud homines nominis, et meriti majoris apud deum, in castro quod Duacus nominatur ortus est Gosvinus, parentes honestos merito transcensurus honestatis, et quampluribus honestatis semitas ostensurus...

Capitulum II : Parisiis operam dat dialecticae

Adhaerentibus itaque sibi nonnullis scholaribus, tum quia nulli gravis erat, sed amabilis universis, tum quia de puteis ejus cum aqua sapientiae morum quoque elegentiam hauriebant; Parisius est profectus, ubi tunc a quampluribus eruditissimis certatim dialectica docebatur. Studuerat quidem prius, et sudaverat in hac arte capienda, et frequenter cum suis contubernalibus tabernis eorum assederat, qui eam venditabant; sed non alicubi plenitudine tanta vendebatur...

Aus dem ersten Buch

Kapitel 1: Goswins Heimat

Goswin, der künftig bei den Menschen einen großen Namen, bei Gott aber ein noch größeres Verdienst erringen sollte, wurde in dem Schloss, das den Namen Douai trägt, geboren. Er schickte sich an, seine achtbaren Eltern verdientermaßen um Einiges an Ehre übertreffen und möglichst vielen Menschen die Pfade der Ehre aufzuzeigen...

Kapitel 2: Studium der Dialektik in Paris

Er hatte einige Studenten als Anhänger. Keinem fiel er damals zur Last, sondern er war ihnen allen ein liebenswürdiger Kollege, zumal sie mit dem Wasser der Weisheit auch eine gepflegte Lebensart aus ihm schöpften. Schließlich brach er nach Paris auf, wo die Dialektik damals im Wettbewerb höchst versierter Geister gelehrt wurde. Er hatte sie zwar schon früher in heißem Bemühen studiert. So hatte er sich schon häufig mit seinen Gefährten in den Verkaufshallen derer niedergelassen, die diese Kunst vertrieben. Aber an keinem anderen Ort wurde sie in solcher Fülle feilgeboten...

Die nun folgende Episode aus dem Leben Goswins muss sich einige Jahre später, etwa um 1111, zugetragen haben, also kurz bevor Peter Abaelard zur Regelung des Klostereintritts seiner Mutter Lucia aus Paris in die Bretagne zurückreisen musste. Er lehrte damals unter dem Protektorat Stephans von Garlande auf dem Genovefaberg, in direkter Konkurrenz zum Dialektiklehrstuhl Wilhelms von Champeaux in der Cité. [9]

Die Vita berichtet von einem Disputationssieg Goswins über Peter Abaelard, dem einzigen, der bekannt geworden ist:

Capitulum II: Novitates Petri Abaelardi debellaturus

Abaelard beim Disput, Szene aus dem Film Stealing Heaven.Tunc temporis magister Petrus Abailardus, multis sibi scholaribus aggregatis, in claustro S. Genovefae schola publica utebatur: qui probatae quidem scientiae, sublimis eloquentiae, sed inauditarum erat inventor et assertor novitatum; et suas quaerens statuere sententias, erat aliarum probatarum improbator. Unde in odium venerat eorum qui sanius sapiebant; et sicut manus ejus contra omnes, sic omnium contra eum armabantur. Dicebat quod nullus antea praesumpserat, ut omnes illum mirarentur. Cum igitur inadventionum ejus absurditas in notitiam pervenisset eorum qui Parisius doctrinae causa morabantur, primo stupore, deinde zelo quodam ducti confutandae falsitatis, coeperunt inter se quaerere quis esset ex eis adversus eum disputandi negotium subiturus; indignum esse dumtaxat apud tot sapientes hujusmodi naeniarum dictorem non habere contradictorem, taliter oblatrantem baculo non arceri veritatis; plura adinventurum, et liberius declamaturum, si infaustis coeptis redargutor defuisset.

Quia igitur venerabilis adolescens Gosvinus efficacis erat facundiae, sicut ingenii perspicacis, ut eum super nugis talibus conveniret suaserunt: quod difficile non fuit impetrare; fervebat enim vehementer ad hoc et anhelabat, et volentem labor esset inhibere, nisi praesumptionis notam incurrere formidaret.

Magister autem Joslenus, qui postea Suessionensem rexit cathedram, cum nimis eum diligeret, id fieri prohibebat, et congressum hujusmodi dissuadebat, magistrum Petrum dicens disputatorem non esse, sed cavillatorem; et plus vices agere joculatoris quam doctoris, et quod instar Herculis clavam non leviter abjiceret apprehensam, videlicet quod pertinax esset in errore; et quod secundum se non esset, nunquam acquiesceret veritati; eum injuriam sibi facere, qui tentasset erudire derisorem: satis esse versutias ejus intellegisse, et in ejus non abduci vanitates. Haec et similia dehortationi subserventia verba doctus et doctor ille depromebat, quippe cui suppeditabat facundia et uber vena sapientiae, quocumque voluisset eloquium derivare.

Sed Gosvinus monitiones et rationes illius non attendens, licet alias eum multum revereretur, nec considerans se tironem adhuc vix juvenescentem, magistrum autem illum virum esse bellicosissimus et victoriis assuetum; assumptis sociorum aliquantis, ascendit in montem S. Genovefae, quasi David cum Goliath duello conflicturus, qui illic auditoribus suis miras et inauditas sententias, quasi phalanges sane sapientium subsanande, detonabat.

Cum venisset igitur ad locum certaminis, id est scholam ejus introisset, reperit eum legentem, et scholaribus suis suas inculcantem novitates. Statim autem ut loqui orsus est qui advenerat, ille torvos in eum deflexit obtutus; et cum se sciret virum ab adolescentiam bellatorem, illum autem videret pubescere incipientem, despexit eum in corde suo, forte non multo minus quam David sanctum spurius Philistaeus. Erat enim albus quidem et decorus aspectu, sed exilis corpulentiae et staturae non sublimis. Cumque superbus ille ad respondendum cogeretur, et impugnans eum vehementer immineret: "Vide, inquit, ut sileas, et cave ne perturbes meae series lectionis." Ille qui non ad silendum venerat, acriter insistebat. Cum adversarius e contra eum habens despectui, non attenderet ad sermones oris ejus, indignum judicans a doctore tanto tantillo juveni responderi. Judicabat secundum faciem, quae pro aetate sibi contemptibilis apparebat; sed cor perspicaciter intellegens non attendebat.

Cum autem ei diceretur a scholasticis suis, qui juvenculum satis noverant, ut non ommitteret respondere, esse illum disputatorem acutum et multum ei scientiae suffragari, non esse indecens cum ejusmodi subire negotium disputandi, indecentissimum esse talem ulterius aspernari: " Dicat, inquit, si quid habet ad dicendum." Ille, dicendi nacta facultate, ex his unde movebatur propositionem facit adeo competentem, ut nullatenus levem et garrulam redoleret verbositatem, sed audientiam omnium sua mercaretur gravitate. Assumente illo, et affirmante isto, et affirmationibus ejus illo penitus non valente refragari; cum divertendi ei penitus suffragia clauderentur, ab isto qui non ignorabat ejus astutias, tandem convictus est asseruisse se quod non esset consentaneum rationi.

Alligato isto forti ab eo qui intraverat domum ejus, et descendente eo de monte, qui indissolubili mutantem Prothea vultus astrinxerat nodo veritatis; cum ventum esset ad eos qui in tabernaculis scholaribus fuerant remorati, in voces exsultationis et laetitiae proruerunt, eo quod humiliata esset turris superbie, murus pertinaciae corruisset, defecisset subsannans Israelem, contrita esset malleatoris incus et malleus mendacia fabricantis, destructa denique esset machina falsitatis: et hoc non in multitudine gravi, non auxiliis forumsecus mendicatis, non sophismatum praemeditata versutia, non extraordinarie comprimente auctoritate personali; sed ab humili, constanti, erudito et valido veritatis assertore. Haec idcirco narrationi visa sunt inserenda, ut palam cunctis innotescat quanta fuerint ejus fervoris et zeli contra vanitatem et falsitatem praeludia, quandoquidem qui tales herbas incultus adhuc germinabat, perspicuum dedit indicium quod, accedente cultura, segetes innumeras procrearet...

Kapitel 2: Sein Vernichtungsschlag gegen die neuen Lehren des Peter Abaelard

Zur damaligen Zeit führte Meister Peter Abaelard, der viele Studenten um sich versammelt hatte, im Kloster der Heiligen Genovefa eine öffentliche Schule. Dieser verfügte zwar über ein fundiertes Wissen und war ein beschlagener Redner, aber er erfand aber auch unerhörte Dinge und verlegte sich auf neue Lehren. Im Bestreben, seine eigenen Lehrsätze aufzustellen, brachte er andere, längst bewährte Lehren in Misskredit. Deshalb war er denjenigen, die über ein vernünftigeres Wissen verfügten, verhasst geworden. Und so rüsteten sich in dem Maße, wie er selbst gegen alle vorging, auch diese gegen ihn. Er behauptete, was sich keiner vor ihm getraut hatte, damit alle ihn bewunderten. Als nun die Absurdität seiner Erfindungen denen zu Kenntnis gekommen war, die sich damals um der Lehre willen in Paris aufhielten, begannen diese sich zu fragen - zuerst mit Verwunderung, dann jedoch mit gewissem Eifer, die Falschheit zu widerlegen -, wer denn von ihnen sich der Aufgabe stellen wolle, gegen Abaelard im wissenschaftlichen Disput anzutreten. Man hielt es mittlerweile für unwürdig, dass sich bei so vielen weisen Leuten nicht einer einziger fände, der dem Verkünder derartiger Grabgesänge widersprechen und einen solchen Kläffer mit dem Stab der Wahrheit züchtigen wollte. Er, Abaelard, werde nur noch mehr erfinden und noch freizügiger sprechen, wenn man dem untragbaren Unterfangen keinen Widerpart entgegengesetzt hätte.

Weil der trotz seines jugendlichen Alters bereits respektierte Goswin nicht auf den Mund gefallen und obendrein ein kluger Kopf war, riet man ihm, in Bezug auf diese Tollheiten gegen ihn anzutreten. Man stieß diesbezüglich auf offene Ohren: Goswin brannte geradezu heftig auf eine solche Auseinandersetzung. Nur mit Mühe hätte man ihn von seinem Entschluss abgebracht; es sei denn, er möchte das Argument der Anmaßung fürchten.

Doch Meister Joscelin, welcher später Bischof von Soissons wurde, [10] wollte dies, da er Goswin überaus schätzte, verhindern und riet ihm deshalb von einem derartigen Aufeinandertreffen ab: Meister Peter sei, so sagte er, kein ernsthafter Diskussionspartner, sondern vielmehr ein Haarspalter und Sophist. Es gehe ihm mehr darum, zu belustigen als zu lehren. Und weil er sich als Herkules aufspiele, werfe er einen einmal ergriffenen Knüppel nicht leicht weg, sondern beharre hartnäckig auf seinem Irrtum. Und wenn ihm etwas nicht entspräche, so ließe er es niemals um der Wahrheit willen auf sich beruhen. Er werde ihm, Goswin, Unrecht zufügen, wenn er sich darauf verlegt hätte, diesen Spötter zu belehren: Es sei genug, seine Fallstricke durchschaut zu haben und sich nicht zu seinen Nichtigkeiten verführen zu lassen. Diese und ähnliche Warnungen brachte jener gelehrte Mann und Lehrer hervor, denn er verfügte selbst über genügend Rednergabe und einen reichen Fundus an Weisheit, um ein Gespräch dahin zu lenken, wohin er es wollte.

Indes, Goswin hörte nicht auf seine Mahnungen und Argumente, obwohl er ihn ansonsten sehr verehrte. Auch ließ er außer Betracht, dass er noch ein Neuling war, und kaum ein junger Mann geworden, jener Professor jedoch ein äußerst angriffslustiger und siegesgewisser Mann. So scharte Goswin einige Gefährten um sich und stieg auf den Genovefaberg hinauf, so wie einst David zum Kampf mit Goliath. Abaelard hielt dort mit merkwürdigen und unerhörten Lehrsätzen, vergleichbar mit einer Streitmacht zur Bekehrung wirklich Weiser, seine Zuhörer in Bann.

Als Goswin also am Ort der Auseinandersetzung angelangt war, d. h., dessen Schule betreten hatte, fand er ihn bei der Vorlesung; er war gerade damit beschäftigt, seinen Studenten die neuen Lehren einzubläuen. Sofort aber, als der Ankömmling zu sprechen begann, senkte Abaelard seinen grimmigen Blick auf ihn. Und weil er sich selbst als einen von Jugend an streitlustigen Mann kannte, jenen aber für einen pubertierenden Anfänger hielt, strafte er ihn insgeheim mit Verachtung, kaum geringer als einst der gemeine Philister den heiligen David. Er war zwar blass und von gefälligem Aussehen, aber auch schmächtig und kleinwüchsig. Als der überhebliche Mann sich zur Antwort gezwungen sah, setzte er Goswin unter Druck und drohte ihm heftig: „Sieh zu, dass du den Mund hältst, und hüte dich, den Ablauf meiner Vorlesung zu stören!“ Doch jener war nicht gekommen, um klein beizugeben; so bestand er mit Nachdruck auf seinem Vorhaben. Da sein Gegner ihn seinerseits mit Verachtung strafte, achtete er nicht auf seine Worte und hielt es für unter seiner Würde, als großer Gelehrter einem so blutjungen Mann Rede und Antwort zu stehen. Dabei urteilte er nach der äußeren Erscheinung, welche ihm aus Altersgründen verachtenswert schien, während ihm der erstaunliche Durchblick des jungen Mannes entging.

Da wiesen seine Studenten, die den jungen Burschen schon genügend kannten, Abaelard daraufhin, er solle sich einer Antwort nicht entziehen. Jener sei ein scharfsinniger Diskussionspartner, der bereits auf ein großes Wissen zurückgreife. Es sei nicht ungeziemend, sich auf eine derartige Diskussion einzulassen; am ungeziemendsten jedoch sei es, ihn weiterhin derart zu verachten.

Schließlich gab der Meister nach: „Wenn er etwas zu sagen hat, so soll er es sagen!“ Von ihnen angespornt, ergriff Goswin die ihm zuteil gewordene Gelegenheit und formulierte einen so kompetenten Einwand, dass seine Wortwahl keineswegs oberflächlich und geschwätzig wirkte, sondern wegen ihrer Stichhaltigkeit die Aufmerksamkeit aller auf sich zog. Abaelard bezog dazu Stellung, und Goswin bekräftigte seine Thesen. Doch es gelang dem Lehrer nicht, Goswins Argumente zu widerlegen. Während die Erörterung unter Beifall abgeschlossen wurde, zwang ihn Goswin, der sehr wohl seine Schliche kannte, endlich zum Eingeständnis, dass seine Argumentation vernunftwidrig gewesen sei.

Nachdem Abaelard von diesem tapferen jungen Mann, der sein Haus betreten hatte, so zu einer verbindlichen Stellungnahme veranlasst worden war, stieg dieser vom Genovefaberg hinab, als einer, der den wechselgesichtigen Protheus mit dem unauflösbaren Knoten der Wahrheit geschnürt hatte. Als er zu den Kommilitonen kam, die in den Studentenquartieren geblieben waren, brachen diese in Jubelrufe und Begeisterung aus. Denn der Turm der Überheblichkeit war nun gedemütigt, die Mauer der Sturheit eingestürzt, der Verhöhner Israels geschwächt, der Amboss des „Einbläuers“ und der Hammer des Lügenschmieds zerrieben und das Werkzeug der Falschheit vernichtet. Dabei war Abaelard nicht von einer massiven Übermacht, nicht mit erbettelter fremder Hilfe, nicht mit der ausgeklügelten Verschlagenheit der Sophismen, nicht von einer Person mit Rang und Namen in Schach gehalten worden, sondern von einem demütigen, standhaften, gebildeten und tatkräftigen Vertreter der Wahrheit.

Wir glaubten, dies deshalb in unsere Erzählung einfließen lassen zu müssen, damit es allen öffentlich bekannt werde, wie stark der Auftakt von Goswins glühendem Eifer gegen Eitelkeit und Falschheit war. Damit gab er ein anschauliches Beispiel dafür ab, dass ein schlichter Mann, der solche Blüten trieb, reiche Frucht trägt, wenn er nur entsprechend weitergebildet wird...

Dieser längere Abschnitt aus Goswins Vita liefert einige wertvolle Aussagen zur Beurteilung der Situation Peter Abaelards während seiner Zeit in Paris:

Hier ist zum Beispiel die Rede von einer kleinwüchsigen und insgesamt sehr schmächtigen Person. Auch wenn das Subjekt des betreffenden Satzes nicht ausformuliert ist, scheint sich der Autor mit dieser Angabe auf Peter Abaelard selbst und nicht auf Goswin bezogen zu haben. [11] Die Beschreibung klingt insofern objektiv, weil sie ausnahmsweise in anerkennendem Kontext steht: Abaelard sei von vornehmer Blässe gewesen und habe alles in allem nicht schlecht ausgesehen. Die besondere Heraushebung der Kleinwüchsigkeit muss insofern verwundern, als die körperliche Durchschnittsgröße zur damaligen Zeit sowieso gering war. Damit hätte eher die Hochwüchsigkeit wegen ihrer Seltenheit ein betonenswertes Phänomen dargestellt. Die kleine Statur Abaelards gibt vielleicht aus individualpsychologischer Sicht eine mögliche Erklärung für seinen in den Quellen referierten Geltungsdrang ab. Die Aussage, dass er obendrein auch mager oder gar dürr gewesen sein soll, spricht nicht gegen seine Attraktivität gegenüber Frauen. Diese hatten Heloisa und Abaelards Bekannter aus der alten Heimat, Prior Fulko von Deuil, [12] ja sogar Abaelard selbst,[13] in ihren Schriften erwähnt. Dem Schönheitsideal seines Zeitalters entsprach Abaelard damit jedoch nicht. Abaelards Attraktivität mag weitaus mehr auf sein gewandtes und Frauen gegenüber charmantes Auftreten zurückzuführen gewesen sein. Für Heloisa scheint Abaelard in der Tat der attraktivste Mann der Welt gewesen zu sein.

Wertvoll ist der Hinweis, dass Abaelard in einem beim Klosterbezirk von Saint-Geneviève gelegenen Schulhaus seinen Unterricht hielt. Die Formulierung in claustro ist hier etwas missverständlich; sie bedeutet nicht, dass die philosophischen Vorlesungen und Disputationen im Kreuzgang des Genovefa-Stiftes selbst abgehalten wurden. Aus alten Quellen ist ersichtlich, dass ähnlich wie im Falle des Dialektiklehrstuhls Wilhelms von Champeaux das Unterrichtsgebäude als so genannte Atriumsinstitution vor dem inneren Klosterbezirk und den Toren der Stiftskirche lag. [14]

Recht typisch werden in der Vita Gosvini die Attitüden des erfolgreichen, aber etwas blasierten Hochschullehrers beschrieben, der sich kaum von seinem Katheder aus dazu herabließ, einen Neuankömmling zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn, ihn anzuhören. Die Aussagen der Vita sind in diesem Zusammenhang insofern glaubhaft, als die Vorgänge in entsprechender Ausführlichkeit dargestellt sind. Außerdem wurde Abaelards Überheblichkeit nicht nur von ihm selbst, sondern auch von anderen Zeitgenossen, z. B. von Otto von Freising, bestätigt. [15]

Im Übrigen nennt der Biograph Abaelard einen vir bellicosissimus et victoriis assuetus, d. h. einen sehr kriegslustigen und sieggewohnten Mann; wenig später bezeichnet er ihn als vir ab adolescentia bellator. Letztere Formulierung legt nahe, dass der Autor bei der Abfassung seiner Biographie mit den Briefen Bernhards von Clairvaux vertraut war. Dieser hatte Abaelard identisch charakterisiert: ille vir bellator ab adolescentia. [16] Aus demselben Schreiben Bernhards stammt auch das in der Vita verwendete Bild vom Kampf Davids gegen Goliath. Dass Goswin und sein Biograph aus Anchin den monastischen Reformern um Bernhard von Clairvaux nahe standen, ergibt sich auch aus der sonstigen Biographie. Aus demselben Skriptorium und derselben Zeit stammt übrigens auch die besonders wertvolle Kopie der Vita Bernardi Gottfrieds von Auxerre, die für die Kanonisierung Bernhards durch Papst Alexander III. vorgesehen war. [17]

Der Biograph hielt sich auffallend damit zurück, die Methode und den Inhalt von Goswins Argumentation und Abaelards Gegenargumentation zu schildern. Somit bleibt dahin gestellt, ob Goswin Abaelard wirklich so sehr hatte in Widersprüche verwickeln können, dass dieser die Segel streichen musste. Immerhin soll der Disputationssieg in ganz Paris die Runde gemacht und Goswins künftigen Ruf als Lehrer mitbegründet haben. Gerade die Schilderung, dass Goswins Sieg als ein außerordentlicher Erfolg gefeiert wurde, belegt letztendlich nur, dass er die Ausnahme einer Regel darstellte. Insofern ist dadurch Abaelards herausragende Position als Wissenschaftler und Lehrer eher bestätigt als widerlegt. Er wird üblicherweise im wissenschaftlichen Disput nicht zu schlagen gewesen sein. Genauso hatte es ja Meister Joscelin, der spätere Bischof von Soissons, prognostiziert.

Goswins Erfolg gegen den berühmt-berüchtigten Dialektiker aus Le Pallet begründete nun seine eigene Karriere als Lehrer der Philosophie und Theologie.

Capitulum V: Scholas regit Duaci

Exinde multi ad eum confluxerunt, ejus magisterio se subdentes. Audiebant siquidem in eo sapientiae fontem esse, qui sitientibus merito foret expetendus; suavitatem quoque morum, quae susciperet omnes et mulceret, et neminem abstereret. Quo geminato bono ditaverat eum bonorum distributor, et idcirco magna fiebat venientium multitudo, quia nihil in eo formidabile videbatur. Praeerat eis et magistrabatur in sollicitudine, et quid quibus apponeret, singulorum consideratis intellectibus, discernebat; et quid sine fictione didicerat, sine invidia communicabat. Magis eorum profectibus quam lucris suis intendebat, contra quorundam consuetudinem, quibus non multum cordi est utilitas subditorum, dummodo sua cupiditas impleatur...

Kapitel 5: Er wird Schulleiter in Douai

Nach diesem Ereignis strömten die Menschen in großer Zahl bei ihm zusammen und erwählten ihn als Lehrer. Sie hörten, dass er in der Tat eine Quelle der Weisheit darstelle, welche den Dürstenden mit Recht ein erstrebenswertes Ziel darstelle. Außerdem sei er von sanftem Charakter, nehme alle bei sich auf, verwöhne sie und weise keinen zurück. Mit diesem doppelten Gut hatte ihn der Verteiler allen Guten bedacht, und die Schar der Ankömmlinge wurde auch deshalb so groß, weil nichts an ihm Furcht einflößend erschien. Er leitete seine Anhänger, war ihnen ein besorgter Lehrer und verstand sehr wohl zu unterscheiden, was er ihnen vorlegte, wobei er eines jeden Einsichtsfähigkeit beachtete. Und was er frei von Hirngespinsten gelernt hatte, das brachte er ihnen ohne Missgunst bei. Er kümmerte sich mehr um den Fortschritt seiner Schüler als um den eigenen Gewinn, ganz entgegen der Gepflogenheit gewisser Kollegen, denen der Nutzen für ihre Untergebenen wenig am Herzen lag, wenn nur ihre Raffgier befriedigt wurde...

Douai, Auschnitt aus einem Albumblatt des Duc Charles De Croy von 1603.Nach einer vorübergehenden Lehrtätigkeit als Magister in Paris und später in Douai - er bekleidete ein gut dotiertes Kanonat am Kapitel von Saint- Amé in Douai - trat Goswin im Jahr 1113 als Mönch in das Kloster Anchin bei Lille ein, um von dort aus eine beispiellose Kirchenkarriere zu starten. [18] Die Benediktinerabtei von Anchin war von den Adeligen Walter und Siger von Douai erst ein Menschenleben zuvor, im Jahr 1079, auf einer großen Insel am Zusammenfluss von Scarpe und Bouchart in der Diözese Arras gegründet worden. Überreste des einst so bedeutsamen Klosters haben sich heute nicht mehr erhalten; es wurde während der französischen Revolution unwiederbringlich zerstört.

Kapitel 13 des ersten Buches schildert im Detail das Bekehrungserlebnis Goswins. [19]

Capitulum XIII: Et monachum induit

Eodem temporis grammaticus quidam famosissimus commenta quaedam exaraverat super opera Prisciani, quae passim ab omnibus raptabantur, tam pro altitudine sensuum quam pro eloquii venustate, maxime quod plerique nova plus acceptant, novis supervenientibus vetera projiciunt, novis insudant, praedicant novitatem. Haec commenta magister Azo peritissimus et opinatissimus illius temporis physicorum, unice dilecto commodaverat Gosvino, non ex integro, sed per partes, ut cum remitteret partem transcriptam, aliam acciperet transcribendam. Quod opus ut celeriter expleretur, fratri suo injunxerat, eo quod in opere suo velox esset, et ita promptus ad imperium ejus suscipiendum. Die vero quadam, cum quaternionem unum perscripsisset et ei porrexisset, ait ille: ...

"Quid proficit ad aeternitatem promerendam recte loquendi regulas scire, et recte vivendi regulam non tenere? Numquid qui perite loquitur et perdite vivit, haberi non debet pro perito, sed pro perituro. Si Priscianus clavem tenet scientiae saecularis, non ideo sequitur ut sit claviger paradisi; et sermone diserto non absolvet Domini desertores, nec a judice summo requiretur utrum legerimus Priscianum, sed si morem tenuerimus Christianum..."

Deposita igitur rerum sarcina mundanarum, suscepit jugum Domini suave et onus leve, et una cum germano suo Bernardo ad aratrum Domini obedientiae loris adstrictus, paratus fuit deinceps subsequi quocumque se voluntas rectoris inclinasset, habens obsequendi quidem scientiam, sed ignorantiam calcitrandi...

Kapitel 13: Goswin wird Mönch.

Zur selben Zeit hatte ein hochberühmter Grammatiker einige Kommentare über die Werke des Priscian ausgearbeitet. Sie erfreuten sich einer breiten und stürmischen Nachfrage, gleichermaßen wegen der Tiefe der Gedanken wie wegen der Schönheit der Formulierungen, vor allem aber deshalb, weil die allermeisten Leute mit Vorliebe auf Neuigkeiten aus sind. Sie werfen das Althergebrachte von sich, wenn nur Neues greifbar wird, ja sie lechzen geradezu nach Neuem und posaunen jede Neuigkeit hinaus. Die besagten Kommentare hatte Meister Azo, der Naturwissenschaftler mit der höchsten Erfahrung und dem besten Ruf zu jener Zeit, dem von ihm hochgeschätzten Goswin überlassen, zwar nicht vollständig, aber in Teilen - derart, dass er Goswin, wenn dieser ihm einen transkribierten Teil zurücksandte, einen weiteren zum Abschreiben überließ. Um diese Auftragsarbeit möglichst flink zu erledigen, hatte Goswin seinen Bruder zugezogen. Dadurch kam er schnell voran und war allzeit bereit, auf Geheiß neue Aufträge anzunehmen.

Doch eines Tages, als er gerade einen Quaternio [20] zu Ende geschrieben und ihm angeboten hatte, sagte jener:

„Was nützt es für den Lohn der Ewigkeit, die Regeln der Sprachkunst zu kennen, aber die Regel der rechten Lebensart nicht einzuhalten? Als ob nicht einer, der beschlagen formuliert, aber verdorben lebt, nicht als erfahrener, sondern als ein dem Verderben anheim fallender Mann gelten müsste. Wenn Priscian den Schlüssel der weltlichen Wissenschaft in Händen hält, so folgt daraus nicht zwangsläufig, dass er den Schlüssel zum Paradies trägt. Weder spricht der Herr die Abtrünnigen wegen ihrer beschlagenen Worte los, noch fragt der höchste Richter danach, ob wir Priscian gelesen, sondern vielmehr, ob wir eine christliche Haltung eingenommen haben...“

Daraufhin legte Goswin die Bürde des weltlichen Lebens ab und nahm das süße Joch und die leichte Last des Herrn auf sich. Er legte zusammen mit seinem leiblichen Bruder Bernhard das Zaumzeug des Gehorsams an und spannte sich vor die Pflugschar des Herrn. Von nun an war er bereit, dorthin zu folgen, wohin ihn der Wille des Lenkers richtete. Er wusste wohl, sich zu fügen, sah sich jedoch außerstande, mit den Hufen auszuschlagen...

An der vorliegenden Stelle der Vita Gosvini findet sich nicht nur Priscian als "Modeautor" des frühen 12. Jahrhunderts bestätigt, sondern auch eine interessante Analogie zu Abaelards Historia Calamitatum: Auch Peter Abaelard hatte in seiner Autobiographie auf die Beliebtheit Priscians im Grammatikunterricht Bezug genommen, und zwar nahezu für denselben Zeitraum, vor 1114:

Zu zwei Zeitpunkten hatte Wilhelm von Champeaux, der berühmte Dialektiker, Abaelard an der Übernahme seines renommierten Lehrstuhls in der Pariser Innenstadt verhindern können - zu einem Zeitpunkt, als er selbst bereits ein zu Besitzlosigkeit verpflichteter Regularkanoniker von Saint-Victor war (zwischen 1108 und 1113). [21] Die Eigenmächtigkeit Wilhelms rührte daher, dass seine alten Rechte am Lehrstuhl von Saint- Christophe, die er als Archidiakon von Paris inne gehabt hatte, durch seinen neuen Status als Regularkanoniker in diesem Punkt nicht berührt waren. Zunächst hatte Abaelard die Venia legendi durch den Nachfolger Wilhelms freiwillig übertragen bekommen. Diese Abtretung wurde jedoch schon nach wenigen Tagen hinfällig, weil Wilhelm seinen Nachfolger im Amt kurzerhand abberufen ließ. [22] Stattdessen setzte er nun als Lehrstuhlinhaber den in der Vita Gosvini erwähnten Grammatiker und Priscian-Kommentator ein, dessen Name uns leider weder durch Abaelard noch durch die Vita überliefert ist. [23] Die 18 Bücher der Institutiones grammaticae des spätrömischen Sprachlehrers Priscian (um 500 n. Chr.), die bis zum Ausgang des Mittelalters das Referenzwerk der lateinischen Grammatik schlechthin darstellten, waren kurz zuvor neu entdeckt worden. Für die Sprachlogiker des 12. Jahrhunderts war Priscians Werk verständlicherweise eine schier unerschöpfliche Fundgrube. [24] Kein Wunder also, wenn der Erstkommentator eines Priscian-Manuskripts Aufsehen erregte und deshalb zu höchsten wissenschaftlichen Ehren prädestiniert war. Dass er infolgedessen von seinen Konkurrenten zwangsläufig beneidet wurde, war unvermeidlich. Für den genannten Nebenbuhler Abaelards wirkte sich jedoch in der Folge das parteiische Eingreifen Wilhelms von Champeaux mehr als ungünstig aus. Weil die Manipulationen Wilhelms offenkundig waren, verlor er seine Glaubwürdigkeit und alsbald seine Hörer; er musste sich resigniert in ein Kloster zurückziehen. [25] Abaelard machte sich nun ein zweites Mal bereit, in einer „feindlichen Übernahme“ den begehrten Lehrstuhl zu akquirieren. Er schlug auf dem Genovefaberg seine Belagerungsstellung auf - in monte Sancte Genovefe... castra posui - und lauerte nur auf den günstigsten Augenblick. Da rief ihn ein unvorhergesehenes Ereignis für längere Zeit in die Bretagne zurück. Es handelte sich um den plötzlichen Klostereintritt seiner Mutter Lucia. Nach seiner Rückkehr hatte sich die Situation gründlich geändert: Der Dialektik-Lehrstuhl bei Saint- Christophe war zwischenzeitlich verwaist. Sein früherer Inhaber, Wilhelm von Champeaux, war im Jahr 1113 Bischof von Châlons-sur-Marne geworden. Durch die Übernahme des Bischofsamtes hatte er alle Rechte am Pariser Lehrstuhl verloren, womit der Weg für Abaelard nun endlich frei war. Nach einem vermutlich politisch inszenierten Intermezzo bei Meister Anselm in Laon [26] konnte Peter Abaelard schließlich das so lange ersehnte Magisterium übernehmen. [27]

Die besagte Textstelle der Vita Gosvini ist auch aus anderen Gründen wichtig, findet sich hier doch der selten anzutreffende Beleg, dass bereits zu Beginn des 12. Jahrhunderts das Kopieren von Manuskripten erwerbsmäßig, d. h. auch unabhängig von einer monastischen Einrichtung oder einem Domkapitel, vollzogen wurde. Im vorliegenden Fall geschah dies unter Vermittlung des fachfremden, aber wohl hochberühmten und betuchten Naturwissenschaftlers und Arztes Azo, der ebenfalls in der Lehre tätig war, entweder in Douai oder - was aufgrund einiger Formulierungen der Vita wahrscheinlicher erscheint - in Paris. [29]

Darüber hinaus ist auch der besondere materielle Wert des Priscian-Kommentars angedeutet, z. B. in dem Hinweis, dass er aus Vorsichtsgründen nur in Teilen den angestellten Kopisten, nämlich Goswin, erreichte. Goswin erhielt jeweils dann einen neuen Vierlager, wenn er den vorherigen termingerecht transkribiert und abgeliefert hatte. Es handelte sich insgesamt, wie der Biograph schildert, um eine schweißtreibende, aber wohl gut dotierte Kopistentätigkeit. [30]

Der beschriebene Termindruck mag zusammen mit den Fragen seines Bruders nach dem grundsätz-lichen Sinn eines christlichen Lebens Goswin schließlich dazu bewogen haben, seine wissenschaft-liche Tätigkeit aufzugeben, der Welt zu entsagen und am 19. Juni 1114 oder 1115 in das Kloster Anchin einzutreten. Mit dessen Leiter Alvisius, Abt von Anchin zwischen 1111 und 1131, hatte er sich bereits zuvor angefreundet. Nach dem Noviziatsjahr legte Goswin die Priesterweihe ab und avancierte binnen kurzer Zeit vom Prior quartus zum Prior tertius. [32]

Kapitel 16 des ersten Buches der Vita widmet sich nun der innerkirchlichen Entwicklung in Nordfrankreich. Wegen des Sittenverfalls in den gallischen Klöstern und des beunruhigenden Aufkeimens neuer Lehren hatte zwischenzeitlich die Kirchenführung beschlossen, klösterliche Erziehungs- und Verbesserungsanstalten einzurichten, in welchen abtrünnige Kleriker zur Vernunft gebracht werden konnten. [33] Wie der folgende Text belegt, gehörten zu den vorgesehenen Disziplinierungsmaßnahmen u. a. auch Kerkerhaft, reclusio in ergastulo, und Auspeitschungen, flagellationes. Strafen dieser Art waren damals nichts Ungewöhnliches; sie konnten z. T. direkt aus der Benediktsregel abgeleitet werden. [34] Selbst der berühmte Bernhard von Clairvaux scheint sie zu verhängt zu haben, wenn er anders die Renitenz seiner Mönche nicht brechen konnte. Auf diese Weise verlor er u. a. seinen Vetter Robert von Châtillon für längere Zeit an den Kluniazenserorden. [35]

Was die Klöster, in denen nun Goswin seine weitere Karriere als Klaustralprior beschritt, von anderen Konventen seiner Zeit unterschied, war die schwerpunktmäßige Disziplinartätigkeit im Rahmen der Reform, der sie sich verschrieben hatten. Es handelte sich quasi um „Zuchthäuser“ zur Hebung der Klerikersitten. Der Prior claustralis hatte dabei im wahrsten Sinne des Wortes Schlüsselgewalt; er übte die Funktion eines Anstaltsleiters aus und verfügte über einen Stab von Leuten, die die Gefangenen bewachten, die so genannten Claustrales oder Officiales. In einen modernen Jargon übersetzt, hießen diese Begriffe, abgesehen von ihrer geistlichen Grundbedeutung, „Wärter oder Vollzugsbeamte.“ [36]

Goswins erster Auftrag führte ihn nach Soissons: Abt Odo von Saint-Crépin in Soissons richtete einen dringenden Appell an Alvisius von Anchin, ihm einen energischen Helfer und Sittenwächter zu schicken. Die Wahl fiel auf Goswin. Als dieser von seinem offensichtlich zeitlich limitierten Einsatz in Soissons nach Anchin zurückkehrte, trug er wegen seines Erfolgs bereits ein Empfehlungsschreiben Odos in der Tasche. Er hatte sich in seinem Eifer für die Sache Gottes, aber auch in seinem Hass auf alles, was der Abtrünnigkeit verdächtig war, ausgezeichnet: „In glühender Eifersucht hütete er das schmucke Haus Gottes, setzte sich eifrig für die Braut seines Herrn ein, und belegte einen jeden mit Hass, der das Vermächtnis des Kruzifixes vergeudete...“ [37] Goswin hatte sich demnach bereits in jungen Jahren als „Hardliner“, als knallharter Reformer profiliert. In seinen Aufgaben ließ er sich weiterhin von seinem leiblichen Bruder Bernhard unterstützen.

Saint-Médard im Spätmittelalter, Ausschnitt aus einem Kupferstich.Wenig später, um 1120, erreichte Goswin ein erneuter Ruf nach Soissons. Gottfried Hirschhals, der neue Abt von Saint-Médard, [38] rief ihn in sein Kloster in der Hoffnung, Goswin könnte dort erneut erreichen, was durch ihn selbst nicht sichergestellt war. Sein Vorgänger im Amt, der Reformkanoniker Oger, hatte in den vier Jahren seines Abbaziats zwischen 1126 und 1130 mit wenig glücklicher Hand regiert und sich zuletzt freiwillig in sein Mutterkloster Mont- Saint-Eloi bei Arras zurückgezogen.

Capitulum XVII: Necnon coenobii S. Medardi

Post haec, cum non multum temporis effluxisset, abbas S. Medardi Gaufridus, qui postea Catalaunensem ornavit cathedram, ad erectionem sui monasterii colligebat idoneos adjutores, pro eo quod ipsum quoque multae confusionis horror invasisset, deperisset ordo, subsidia defluxissent, et tanto plures opinio turpitudinis ejus offendebat, quanto major erat intuentium multitudo... Innotuerat aliquatenus illic habitantibus sanctitas et industria Gosvini, dum in vicino S. Crispino monasterio moraretur, et suaveolentia nominis ejus, quae remotosquosque contigerat, amplius illos pro loci proximitate perfuderat. Quaesitus est a rectore loci illius et impetratus; quia nihil erat abnuendum personae quae non minus erat pro morum jucunditate diligenda, quam reverenda pro titulo sanctitatis. Huic igitur ex consulto claustralem commisit prioratum, sciens quod ei Dominus scientiam contulisset dissipata colligendi, corrigendi depravata, deformia reformandi...

Kapitel 17: Ebenfalls über das Kloster Saint-Médard bei Soissons

Als nach dem Erzählten nur wenig Zeit verstrichen war, versammelte Gottfried, der Abt von Saint-Médard und spätere Bischof von Châlons-sur-Marne, zur Reformierung seines Klosters geeignete Helfer um sich. Denn sein Kloster hatte eine schreckliche Konfusion befallen. Der Regelvollzug lag danieder, die Mittel flossen nicht mehr. Kurzum: Je mehr Leuten diese offensichtliche Schande zusetzte, desto mehr schauten untätig zu... Die Heiligkeit und die Rührigkeit Goswins waren den dortigen Insassen schon von der Zeit her bekannt, als sich dieser im benachbarten Kloster des Heiligen Crispin aufhielt. Sein wohlklingender Name, der selbst zu weit entfernt wohnenden Menschen vorgedrungen war, hatte umso mehr jene Mönche wegen der unmittelbaren Nachbarschaft beeindruckt. Deshalb ersuchte ihn der Klostervorstand nun, nach Saint- Médard zu wechseln, und zwar mit Erfolg. Denn es gehörte zu seiner Persönlichkeit, nichts abzuschlagen; er wurde nicht weniger wegen seines angenehmen Charakters als wegen des Rufs seiner Heiligkeit geschätzt und verehrt. Durch Kapitelbeschluss wurde ihm also das Amt des Klaustralpriors übertragen, im Bewusstsein, dass der Herr ihm die Fähigkeit verliehen hatte, verstreute Schäflein zu sammeln, Schandtaten zum Guten zu wenden und die Ordnung wiederherzustellen...

Erneut muss Goswins Tätigkeit von Erfolg gekrönt gewesen sein, denn wenig später wurde zu ihm in Saint-Médard ein besonders prominenter Gefangener, ein durch Konzilbeschluss verurteilter Ketzer, zur Verwahrung eingewiesen, nämlich Peter Abaelard. Dieser war im Jahr 1121 durch die Synodalen von Soissons [39] unter der Leitung des päpstlichen Legaten Cono von Praeneste zu Schweigen und Klosterhaft verurteilt worden; anschließend hatte man sein Buch über die Trinität den Flammen preisgegeben und den Autor zur Verwahrung in Saint-Médard eingewiesen. [40] So kam es zu einem überraschenden Wiedersehen zwischen den einstigen Disputanten, nunmehr in vertauschten Rollen:

Capitulum XVIII: Petrum Abaelardum suae disciplinae traditum

Mittebantur illuc indocti ut erudirentur, dissoluti ut corrigerentur, cervicosi ut domarentur; et exinde sicut pauperes subsidium, sic consilium reportabant locupletes. Unde contigit ut, quia haec mutatio dextrae Excelsi circumquaque vulgabatur, summum quoque praesulem Innocentium non lateret, et magistrum Petrum, cujus antea meminimus, de doctrinae convictum falsitate, et censura silentii cauteriatum, illuc transmitteret recludendum, et instar rhinocerotis indomiti disciplinae coercendum ligamento.

Susceptus est in claustro a claustrali priore Gosvino, sicut ejusmodi decebat, in spiritu videlicet lenitatis. Sperabat namque quod facilius mansuesceret pietatis sinu quam loro disciplinae, et didicerat amplius in pagina mentis mansuetae quam scholae consuetae, ne virus in anguem mittendum, nec canem rabidum instigandum, nec flammis crepitantibus copiosiores materias immittendas. Proponebat ei, pro mulcendis ejus auribus et animo deflectendo, profunditatem scientiae, immo multarum diversitatem scientiarum, torrentem eloquentiae ad quicquid vellet abundantem, numerositatem victoriarum quas conflictu literario conquisisset, et, quod dignius esset et sublimius, professionem monasticae sanctitatis, contemptum mundi, Domini servitudinem: cuperet quodcumque necesse esset, et necessitatem cogeret virtuti militare; ad id quod honestum sciret, applicaret cor, asuesceret os, actus adaptaret; non dubitaret infortunio nec adscriberet dispendio, quod eo transmissus esset, ubi non reclusum ergastulo se experiretur, sed tantum exculsum a turbine saeculari, non compeditum, sed expeditum: honeste tantum se haberet, et omnibus esset magister et exemplar honestatis.

Haec honeste perorabat vir honestatis amator et honestissimus honestorum: sed ille se consilium honestum et utile non acceptare, responso manifestavit inhonesto:

„Quid,“ inquiens, „tam multipliciter honestatem praedicas, honestatem suades, laudas honestatem. Multi sunt qui disputant de speciebus honestatis qui nesciunt quid sit honestas.“

Qua temeraria responsione Gosvinus inhonoratum se non doluit, sed illum dehonestatum; et tunc demum persensit quod dissimilibus ei verbis esset utendum, quae mordacia licet essent, tamen metas non transirent honestatis. Et conversus est ad eum:

„Verum est, inquit, quod dixisti: multi sunt qui disputant de speciebus honestatis, qui nesciunt quid sit honestas. Sed si quid deinceps vel dixeris vel attentaveris inhonestum, nos incedere senties ex adverso,“ et per insectationem contrarii sui:

„Non experieris, quid sit honestas, non nescire.“

Qua respondendi constantia pavefactus rhinoceros ille, quietius dies illos transigebat, patientior disciplinae, timidior flagellorum; et tandem cerebri factus sanioris et animo non adeo delirantis, compulsus est animadvertere quod qui calcitrat contra stimulum, saevit in seipsum...

Kapitel 18: Die Überführung Peter Abaelards in seine Aufsicht

So wurden in dieses reformierte Kloster Ungebildete geschickt, um erzogen zu werden, außer Rand und Band Geratene, um gemaßregelt zu werden, Widerspenstige, um gezähmt zu werden. Wenn die Armen daraus Hilfe erfuhren, so trugen die Reichen daraus Rat davon. Und so kam es, dass dieser Gesinnungswechsel auch Papst Innozenz [41] nicht verborgen blieb; denn diese Verwandlung zur Rechten des Erhabenen wurde weit und breit bekannt. So schickte der Papst auch Meister Peter, den wir bereits oben erwähnten, zur Klosterhaft dorthin, weil er falscher Lehren überführt und mit dem Schweigegebot gebrandmarkt worden war. Dort sollte dieser wie ein ungezähmtes Nashorn mit dem Band der Klosterzucht geknebelt werden.

Peter Abaelard wurde im Kloster vom dortigen Prior Goswin empfangen, so wie es sich gehörte, nämlich im Geist der Milde. Goswin hoffte nämlich, dass er ihn leichter im Schoß der Frömmigkeit als durch die Zuchtrute zur Räson brächte. Denn er hatte mehr aufgrund seiner milden Gesinnung als aus schulischer Gewohnheit begriffen, dass man eine Schlange nicht mit Gift bespritzen, einen tollwütigen Hund nicht reizen, in knisternde Flammen nicht zuviel Holz werfen dürfe. Um Abaelards Ohren zu besänftigen und seinen Sinn zu beugen, führte er ihm die Tiefe seines Wissens, das reiche Spektrum seiner wissenschaftlichen Kompetenz und die hinreißende Rednergabe vor Augen, die in jeder Richtung floss, wohin er nur wollte, außerdem die Unzahl seiner Siege, die er im wissenschaftlichen Streit errungen habe. Aber er verwies ihn auch auf das Bekenntnis zur klösterlichen Heiligkeit, auf die Verachtung der Welt und auf den Dienst am Herrn, weil dies im Vergleich zum Vorherigen viel würdiger und erhabener sei. Er, Goswin, wünsche nur all das, worauf es ankomme. Abaelard werde nur zum Unabdingbaren gezwungen, nämlich dazu, für die Tugend zu streiten: Er müsse sein Herz hinwenden zu dem, was er als moralisch einwandfrei erkenne. Er solle seinen Mund daran gewöhnen und seine Handlungen darauf abstimmen. An seinem Missgeschick dürfe er jedoch nicht verzweifeln und die Tatsache, dass er zu ihm geschickt worden sei, nicht nur als Schaden auffassen. Schließlich fände er sich nicht in einem Zuchthaus eingesperrt wieder, sondern nur abgesondert vom Weltlärm. Damit sei er nicht eingeschränkt, sondern entlastet. Er solle sich moralisch einwandfrei verhalten, dann sei er für alle ein Lehrer und ein moralisches Vorbild.

Dies erbat dieser Mann, der den Anstand liebte und selbst der Anständigste aller Anständigen war, in anständiger Art und Weise. Doch jener offenbarte mit seiner unanständigen Antwort nur, dass er den ehrenvollen und nützlichen Rat nicht annehme:

Abaelard rechtfertigt sich, Ausschnitt aus dem Film Stealing Heaven.„Was predigst du mir so vielfältig den Anstand, rätst zum Anstand, lobst den Anstand? Viele diskutieren über die Gesichter des Anstands und sie wissen doch nicht, was Anstand ist.“

Goswin litt aufgrund dieser gewagten Antwort nicht daran, selbst nicht geehrt worden zu sein, sondern eher daran, dass es jener an Anstand fehlen ließ. Da endlich begriff Goswin, dass er zu ganz anderen Worten und zu einem bissigeren Tonfall greifen müsse, ohne allerdings selbst die Grenzen des Anstands zu überschreiten. Und so gab er ihm zur Antwort:

„Es ist wahr, was du gesagt hast: Viele streiten über die Formen des Anstands, ohne zu wissen, was er ist. Aber wenn du weiterhin etwas Unanständiges behaupten oder anstreben willst, wirst du spüren, dass wir auch anders mit dir umspringen können.“

Als Abaelard ihn weiter beleidigte, setzte er noch hinzu:

„Du wirst schon noch ganz genau erfahren, was Anstand eigentlich ist.“

Auf diese feste Antwort hin bekam jenes Rhinozeros Angst. Er verhielt sich in den folgenden Tagen ziemlich ruhig und ließ die Erziehungsmaßnahmen geduldig über sich ergehen. Denn er hatte einige Angst, ausgepeitscht zu werden. So kam er schließlich zur Vernunft und ließ das Herumspintisieren sein. Er wurde genötigt einzusehen: Wer wider den Stachel tritt, peinigt sich selbst...

Hatte Goswin zum Zeitpunkt seiner ersten „Feindberührung“ noch die Rolle des primär Schwächeren eingenommen, so trat er in der letzten Episode seinem Gegner in der übergeordneten Position des Prior claustralis von Saint-Médard entgegen. Die Übergabe des frisch verurteilten Abaelard gerade in die Hände Goswins wirkt angesichts der Umstände ihrer früheren Bekanntschaft einigermaßen zynisch.

Abaelard selbst strafte später in seiner Leidensgeschichte Goswin durch Nichtbeachtung und erwähnte ihn mit keinem Wort. Dagegen lobte er die Freundlichkeit des Abtes Gottfried und seiner sonstigen Mitbrüder. Man habe ihn sogar eingeladen, auf Dauer in Saint-Médard zu bleiben. Dazu war er aber offensichtlich nicht bereit. Nach kurzer Zeit wurde er vom päpstlichen Legaten begnadigt und freigelassen, wie es ihm zuvor Bischof Gottfried von Chartres in Aussicht gestellt hatte. [42]

Ganz anders der Tenor in der Vita Gosvini: Selbst wenn sich der Biograph um ständige Beschönigung bemühte und nahezu penetrant und stilistisch plump von honestas, Anstand und Ehre, sprach, so ist nicht zu übersehen:

Saint-Médard hatte sich binnen kurzer Zeit von einem Hort der Disziplinlosigkeit und Verkommenheit in eine hyperorthodoxe Umerziehungsanstalt, in der mit wenig christlichen Mitteln - Einsperren, Indoktrinierung, Folter, eventuell auch Nahrungsentzug, Isolationshaft und Psychoterror -unliebsame Zeitgenossen und Freigeister, vielleicht auch richtige Geisteskranke, zur Räson gebracht wurden. Abaelards Leben war noch kurz zuvor durch den aufgebrachten Mob von Soissons, der ihn steinigen wollte, bedroht gewesen. Insofern befand er sich hinter den Klostermauern von Saint-Médard zunächst in relativer Sicherheit. Trotzdem mag die Behandlung realiter demütigend gewesen sein, und die Gefahr der Folter als ständiges Damoklesschwert über ihm geschwebt haben. Als Abaelard später aus dem Paraklet-Oratorium in die Bretagne floh, bekannte er seine panische Angst vor einer erneuten Verurteilung. In diesem Zusammenhang muss die Scheinheiligkeit Goswins, welche nach einer kurzen, aber umso schärferen Provokation Abaelards in Gehässigkeit umschlug, besonders wehgetan haben.

Die eben geschilderte Episode wirft insgesamt ein ungutes Licht auf den innerkirchlichen Zustand im Nordfrankreich des 12. Jahrhunderts. Es deutete sich damit der Beginn einer Entwicklung an, die im folgenden Jahrhundert in ein mit Angst und Schrecken besetztes kirchliches Strafverfahren münden sollte, in die Inquisition.

Ausschnitt der Karte von César François Cassini de Thury und seinem Sohn Jacques Dominique Cassini, entstanden zwischen 1760 und 1789, veröffentlicht 1815.Die Karriere Goswins, dessen angebliche Umgänglichkeit und Milde mit seinem Aufgabenfeld so sehr kontrastierte, war mit seinem Aufseherdienst in Saint- Médard noch nicht beendet, ganz im Gegenteil. Er konnte sich in der Folge vor Anfragen aus ganz Nordfrankreich kaum retten: Als nächstes promovierte er zum Klaustralprior des Klosters Saint-Remi in Reims. Auch dieser Auftrag war zeitlich limitiert. Erneut mit Ruhm bedeckt, kehrte Goswin schließlich in sein Mutterkloster Anchin zurück. Die Berufung zum Abt von Saint-Pierre-aux-Monts in Châlons-sur-Marne lehnte er trotz feierlicher und kanonischer Wahl ab. Wenig später wurde er zum Bischof von Lobbes im belgischen Hennegau, wobei er intensiv von Meister Werimbald aus Cambrai unterstützt worden sein soll. Lange kann sein Episkopat nicht gedauert haben: Im Gegensatz zu vielen anderen Größen seiner Zeit, für welche die Berufung auf einen Bischofsstuhl die Krönung und letzte Stufe ihrer Laufbahn darstellte, verzichtete er nach kurzer Zeit auf Stab und Mitra und kehrte ins Klosterleben zurück.

Als sein geistiger Ziehvater Alvisius von Anchin im Jahr 1131 Bischof von Arras wurde, [43] rückte Goswin an seine Stelle als Abt. Noch im selben Jahr nahm er in dieser Funktion an einem Konzil in Reims teil, welches von Papst Innozenz II. geleitet wurde. Später wurde er ein enger Vertrauter der berühmten Zisterzienser Bernhard von Clairvaux und Papst Eugen III. Bei der Konzilsversammlung von Reims, die im Jahr 1148 den Bischof von Poitiers, Gilbert de la Porrée, verurteilen wollte, war er ebenfalls vertreten; als besondere Auszeichnung empfing er hier den päpstlichen Bruderkuss und er wurde in die intimsten Beratungen aufgenommen.

Die Vita Goswins enthält auch einige interessante Angaben zum Aussehen Goswins: Von mittlerer Statur sei er gewesen und vollkommen kahl. Sein einstmals blondes Barthaar sei alsbald ergraut. Ansonsten habe er ein wohl proportioniertes Antlitz aufgewiesen: Seine sanften Augen und wohl geformten Lippen harmonierten mit einer spitzen und schmalrückigen Nase. Mit sonorer Stimme habe er gesprochen und sanft und bedächtig seine Worte gewählt. Es bleibt dahin gestellt, ob Goswin in diesen Eigenschaften von seinem Hagiographen nur schön gezeichnet worden war. Auf jeden Fall blieb eine zeitgenössische Abbildung erhalten, die ihn in entsprechender Darstellung wiedergibt. [44]

Häufig wurde Goswin von den lokalen Größen seiner Zeit in Anchin besucht; Philipp von Vermandois, der Graf von Flandern, soll sein persönlicher Freund gewesen sein. Doch alle Gäste habe Goswin seiner Lebensbeschreibung nach gleichermaßen bescheiden behandelt; er habe sie statt in einem Prunksaal lediglich im Refektorium empfangen und ihnen beim Arbeitsessen ausschließlich fleischlose Speisen vorgesetzt. [45]

Die Abbatiale von Anchin, von Pecquencourt aus gesehen, Auschnitt aus einem Albumblatt des Duc Charles De Croy von 1603.Zu Beginn seines Abbaziats prosperierte der Konvent von Anchin noch nicht; mitunter wurde er durch den Abt von Cysoing materiell unterstützt. Dennoch scheint das Kloster unter Goswin allmählich eine erhebliche Fortentwicklung erfahren zu haben. So wurden unter seiner Ägide bedeutende Baumaßnahmen durchgeführt, u. a. die Kirche Notre-Dame auf der Klosterinsel Anchin von Grund auf neu errichtet und in seinem Beisein im Jahr 1155 von Bischof Gottschalk von Arras feierlich eingeweiht.

Ansonsten berichtet die Vita des Abtes von unzähligen Wundertaten und anderen denkwürdigen Begebenheiten, wie z. B. von einem frommen Zweikampf: Ein deutscher Berufsathlet habe sich im Auftrag des Abtes mit einem auswärtigen Gegner des Klosters namens Chiret duelliert. Der Kampf, dessen Ausgang als Gottesurteil angesehen wurde, sei zugunsten des Konvents von Anchin entschieden worden. Diese und einige andere, auch mündlich tradierte Anekdoten und Legenden berichtete der letzte Großprior des Konvents, M. de Bar, zu Beginn des 19. Jahrhunderts dem letzten Geschichtsschreiber von Anchin. [46]

Authentisches Bild Goswins von Anchin aus der Hand des Mönches Johann von Anchin, Faksimile, Miniatur aus dem Frontispiz zu „Augustini De Trinitate“, Manuskript aus dem 12. Jahrhundert, vormals Bibliothèque de Douai MS Nr. 296, heute verschollen. Wiedergegeben in E. A. Escallier: L’abbaye d’Anchin, Lille 1852. Goswin war viel im päpstlichen Auftrag unterwegs. Unter anderem übertrug ihm Papst Eugen III. ein zweites Mal die Sorge um das zwischenzeitlich verwaiste Kloster Saint- Médard in Soissons. Auf Goswins Vorschlag hin wurde schließlich Ingrannus, [47] der Abt von Marchiennes, [48] zum neuen Leiter erklärt. In diese Zeit fällt auch die oben erwähnte Reform des renitenten Säkularkanonikerstiftes Saint-Corneilles in Compiègne. Diese besonders schwierige Aufgabe übernahm Goswins Schüler Alexander, Prior und späterer Nachfolger Goswins als Leiter des Konvents.

Goswin ist als Abt von Anchin in den Jahren 1135 bis 1166 durchgehend bezeugt. Schon die Gallia Christiana erwähnte mehr als 11 Urkunden, auf denen seine Unterschrift auftauchte, meist Seite an Seite mit den Bischöfen von Arras. Inzwischen ist diese Liste beträchtlich angewachsen: Nicht weniger als 27 Akten weisen Goswin als wichtigen kirchlichen Repräsentanten aus; einmal fungierte er sogar als Stellvertreter des Bischofs. [49] Die rigorose monastische Reform, der sich Goswin als überzeugter Gregorianer Zeit seines Lebens verschrieben hatte, setzte sich auf der ganzen Linie durch. Eine ganze Reihe von namhaften Äbten gingen aus seiner Schule, die auf ganz Nordfrankreich ausstrahlte, hervor: Leonhard, Abt von Saint-Bertin, [50] Roger, Abt von Saint-Quentin, Lietbert, Abt des Klosters Marchiennes, Algot, Abt von Saint-Crépin in Reims, Gerhard, Abt von Honnecourt, Fulbert, Abt des Klosters vom Heiligen Grab in Cambrai, Clarembald, Abt von Hautmont und Albert, Abt von Saint-Thierry in Reims.

Insgesamt war Goswin eine lange Dienstzeit beschieden. Erst im Herbst des Jahres 1166, d.h. im 36. Jahr seines Abbaziats und 24 Jahre nach Abaelards Tod, zog er sich seine todbringende Krankheit zu. Nach den Angaben der Vita erkrankte er in den letzten Septembertagen plötzlich an Vier-Tage-Fieber, d.h. an Malaria. Auf seiner letzten Wegstrecke wurde er von Hugo, dem Abt von Saint-Amand, begleitet. Die Biographie berichtet detailliert von seiner Agonie, u. a. auch davon, wie die letzte Ölung empfing. Kurz zuvor hatte sein Amtskollege Peter von Celle, ebenfalls ein abtrünniger Abaelard-Schüler und monastischer Reformer, anlässlich des bevorstehenden Todes - de fine et obitu tibi instante - ein bewegendes Trostschreiben an den schwerkranken Abt von Anchin gerichtet. Dieses ist im vollständigen Wortlaut erhalten geblieben. Peter von Celle war nach seiner Pariser Studienzeit Abt von Montier-la-Celle bei Troyes gewesen und in dieser Funktion auch mit Heloisa, der Äbtissin des benachbarten Paraklet, in Kontakt getreten. [51] Nunmehr, seit 1162, war er Abt von Saint-Remi in Reims; einige Jahre später, im Jahre 1182, wird er sogar noch Bischof von Chartres werden. [52] Abt Peters Kondolenzbrief hat Goswin vermutlich nicht mehr als Lebenden erreicht. Zumindest war dieser zu einer persönlichen Antwort nicht mehr im Stande, denn das ebenfalls erhaltene Antwortschreiben stammt aus der Feder seines Nachfolgers Alexander, [53] dem ja auch die Abfassung von Teilen der hier vorgestellten Vita Gosvini zugeschrieben wird. Nach einem mehrwöchigen Krankenlager starb Goswin von Anchin am 9. Oktober 1166 im Alter von 84 Jahren, in der Nacht von einem Samstag auf einen Sonntag. Es handelte sich um das Fest des heiligen Dionysius und um den Jahrestag der Altarweihe von Anchin. Goswin wurde in der Abteikirche Notre-Dame in Nähe seiner vorherigen Gebetsstätte, des Presbyteriums, beigesetzt. [54]

 

Fußnoten

[1] MS BM Douai 825, 12. Jhd. Vita Gozuini abbatis Aquiscincti, fol. 1-79r, ed. R. Gibbon: Ex Vita B. Gosvini Aquicinctensis Abbatis, Douai 1620, S. 1-192. MS BM Douai 827, Ende 15. Jhd., ed. R. Gibbon, S. 193-274. Auszüge in: Recueil des Historiens des Gaules et de la France (künftig abgekürzt RdH), ed. L. Delisle, Bd. 14, Paris 1877, S. 442-448  Kurze Auszüge bei V. Cousin, Petri Abaelardi Opera, Bd. 1, Paris 1849, S. 43f. (nach Aufzeichnungen A. Duchesnes), und in den Acta Sanctorum, 2. März, Sp. 752, und 4. Oktober, Sp. 1085-1093. Die Histoire littéraire nahm kurz auf die Verfasserfrage Bezug: Siehe M. Paulin: Histoire littéraire, Bd. 12, Paris 1869, S. 605f. Auch Ch. de Rémusat erwähnte in seiner Abaelard-Biographie von 1845 auf den Seiten 24f. die Vita kurz. Längere französische Auszüge aus der Vita finden sich bei E. A. Escallier: L’abbaye d’Anchin, Lille 1852. Zur den mittelalterlichen Beständen der Klosterbibliothek Anchin siehe auch: J.-P. Gerzaguet: L’abbaye d’Anchin de sa fondation (1079) au XIVième siècle, Villeneuve d’Ascq 1997, S. 15-22.

[2] Nach einer Analyse J.-P. Gerzaguets muss dieser Teil der Vita ursprünglich zwischen 1174 und  1184 entstanden sein. Siehe J.-P. Gerzaguet: L’abbaye d’Anchin de sa fondation (1079) au XIVième siècle, Villeneuve d’Ascq 1997, S. 18 und S. 90.

[3] Nach F. de Locre sei die Autorenschaft Alexanders in einem Manuskript des Chronicon Belgicum bezeugt gewesen. Siehe: D. de Sainte-Marthe: Gallia christiana, in provincias ecclesiasticas distributa (künftig abge-kürzt GC), III, Reprint Farnborough 1970, Sp. 412. De Locres Verfasserhypothese wurde von J.-P. Gerzaguet für den ersten Teil der Vita bestätigt; das Martyrologium von Anchin habe Abt Alexander als Urheber ausge-wiesen: "Gosvini abbatis historiam habet Aquicinctum per Alexandrum successsorem..." J.-P. Gerzaguet: L'abbaye d'Anchin de sa fondation (1079) au XIVième siècle, Villeneuve d'Ascq 1997, S. 89. Schon die Autoren der Histoire littéraire wiesen darauf hin, dass die zweite Vita von zwei namentlich nicht bekannten Mönchen des Konvents von Anchin unter Abt Simon, also nicht vor 1174, verfasst worden sei. Siehe M. Paulin: Histoire littéraire, B. 12., Paris 1869, S. 605f.

[4] Editionen: Abélard: Historia Calamitatum, ed. J. Monfrin, Paris 1959 ; La vie et les epistres Pierres Abaelart et Heloys sa fame..., ed. E. Hicks, Paris 1991. Deutsche Übersetzungen: Abaelard: Der Briefwechsel mit Heloisa, ed. H.-W. Krautz, Stuttgart 1989; Abaelard: Der Briefwechsel mit Heloïsa, ed. E. Brost, Heidelberg 1979. Die im Folgenden angeführten Textstellen beziehen sich ausschließlich auf die Edition von E. Hicks.

[5] Siehe H.C. und Brief Heloisas an Abaelard, ed. E. Hicks: La vie et les epistres..., S. 10, 51.

[6] Die Gallia Christiana nennt als alternative Namensbezeichnungen auch Gosso, Goson, Goduinus, Gorvinus, Gorguinius und Warinus, wobei sie nur zwei der diesbezüglichen Quellen anführt. Die Namensbezeichnung Warinus soll nach einem Kontrakt zwischen den Konventen von Anchin und Saint Josse, Pas de Calais, (1165) aus der Hand Goswins selbst gestammt haben. Siehe GC III, Sp. 411f.

[7] Das ungefähre Geburtsalter Goswins erschließt sich aus den Todesdaten der Vita. Hierzu mehr am Ende dieses Artikels.

[8] E. A: Escallier. L’abbaye d’Achin, Lille 1852, S. 65.

[9] Wilhelm von Champeaux lehrte damals nicht an der Domschule von Notre-Dame, sondern an der zum Archidiakonat von Paris gehörenden Kirche Saint-Christophe vor den Toren von Notre-Dame. Die so oft apostrophierte „Domschule von Paris“ dürfte zur betreffenden Zeit als etablierte Institution noch nicht existiert haben; ihre eigentliche Geburtsstunde ist in das Jahr 1127 zu veranschlagen. Siehe hierzu: W. Robl: Auf den Spuren eines großen Philosophen, Peter Abaelard in Paris, Untersuchungen zur Topographie von Paris und zur Alltagsgeschichte des Frühscholastikers zwischen 1100 und 1140, Mai 2002, online-Dokument in http://www.abaelard.de.

[10] Joscelin von Vierzy, Bischof von Soissons zwischen 1126 und 1152, hatte als Lehrer in Paris Kommentare zum Credo und zum Paternoster verfasst. Siehe hierzu: GC IX, Sp. 357ff. Sein Unbehagen gegenüber einer öffentlichen Diskussion mit Abaelard, das er hier an den Tag legte, mag durch eine gewisse argumentative Schwäche bedingt gewesen sein, derer er sich selbst bewusst war. Sie ließ sich bei anderer Gelegenheit nachweisen: Auf dem Pariser Osterkonsistorium von 1147, welches den Prozess gegen Gilbert von La Porrée vorbereitete, hatte sich Joscelin wegen ungeschickt vorgetragener Einwände gegen die Lehre Gilberts den Protest der gesamten Versammlung einhandelt. Hierzu: Otto von Freising: Gesta Friderici, ed. F.-J. Schmale (4. Auflage) Darmstadt 2000, S. 238ff.

[11] Da Peter Abaelard im vorausgehenden wie im nachfolgenden Satz das Subjekt darstellte, wäre im Falle des gewollten Subjektwechsels an der entsprechenden Stelle ein „Goswinus“ zu erwarten gewesen.

[12] Fulko war, ehe er Prioratsleiter in Deuil einige Kilometer nördlich von Paris wurde, Sakristan im Kloster Saint-Florent-le-Vieil am Unterlauf der Loire gewesen, welches nur wenige Kilometer von Abaelards Heimat La Pallet entfernt lag. Hierzu: W. Robl: Heloisas Herkunft: Hersindis Mater, München, 2001, und: Fulkos von Deuil: Brief an Abaelard, in: PL 178, Sp. 371ff.

[13] „Tanti quippe tunc nominis eram et juventutis et forme gratia praeeminebam, ut quamcumque feminarum nostro dignarer amore, nullam vererer repulsam...“ H.C., ed. E. Hicks: La vie et les epistres…, S. 10. Das „praeeminebam - ich ragte heraus“ ist nach dem, was Goswins Biographie wiedergibt, wohl eher im übertragenen als im wörtlichen Sinne zu verstehen.

[14] „Les anciennes écoles de Saincte-Geneviève, écrit du Molinet, estoient situées au mesme endroit que celles de Notre-Dame; car comme celles de la cathédrale… estoient au mesme costé droit du portail en tirant vers l’Hostel-Dieu, ainsy celles de Saincte-Geneviève estoient placées entre la porche de l’église et la porte de la maison ou l’on montoit par des degrez…“  Bibliothèque de Sainte- Geneviève, MS H. fr. 21, Histoire de Saincte-Geneviève et de son église royale et apostolique, p. 583. Zitiert aus: P. Feret : La faculté de théologie de Paris et ses docteurs les plus célèbres, Bd. 1, Paris 1894.

[15] „…superbie vero que mihi ex litterarum maxime scientia nascebatur.“ H.C., ed. E. Hicks: La vie et les epistres…, S. 10. Abaelards Selbstüberschätzung bestätigte später Bischof Otto von Freising, ein ehemaliger Schüler Abaelards: „Is, inquam, litterarum studiis aliisque facetiis ab ineunte etate deditus fuit, sed tam arrogans suoque tantum ingenio confidens, ut vix ad audiendos magistros ab altitudine mentis suae humiliatus descenderet...“ Otto von Freising: Gesta Friderici, ed. F.-J. Schmale, Darmstadt 2000, S. 224f.

[16] Bernhard von Clairvaux: Brief 189 SBO an Papst Innozenz II., z. B. in: Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke, ed. G. Winkler, Innsbruck 1992, Bd. 3, S. 12ff.

[17] MS Douai BM 372; das Manuskript aus Anchin ist ein Unikat und enthält als einziges den sogenannten Intermediärtyp der Vita (A-B). Hierzu mehr bei: A. Bredero: Bernard of Clairvaux between cult and history, Michigan 1996, S. 288f.

[18] Ausführliche Angaben über die Geschichte Anchins finden sich bei J.-P. Gerzaguet: L’abbaye d’Anchin de sa fondation (1079) au XIVième siècle, Villeneuve d’Ascq 1997, und bei E. A. Escallier: L’abbaye d’Anchin 1079 -1792, Lille, 1852.

[19] RdH 14, S. 444.

[20] Lagen aus vier Doppelblättern Pergament mit maximal 16 Schreibseiten. Übliches Bindeformat eines frühmittelalterlichen Codex.

[21] Siehe hierzu H.C., ed. E. Hicks: La vie et les epistres…, S. 5ff.

[22] Zur ausführlichen Erläuterung der Lehrstuhl-Situation siehe W. Robl: Auf den Spuren eines großen Philosophen: Peter Abaelard in Paris, online-Dokument in http://www.abaelard.de. Wie die juristische Handhabe Wilhelms bei der Ablösung seines Nachfolgers im Detail aussah, ist unbekannt. Ziemlich eindeutig übte Wilhelm Eigenrechte aus, benötigte also nicht die Zustimmung des Ortsbischofs.

[23] Abaelard nannte ihn lediglich „aemulus,“ d. h. Nebenbuhler.

[24] Auch Peter Abaelard schöpfte in seinen theologischen Werken des Öfteren aus dem Fundus Priscians: TSB II, 3 und 4, TSB III, 1, 3, ed. U. Niggli, Hamburg 1988, S. 114, 142, 188, 190, 250; Tchr III, 125, 162, 175, IV, 43, 47, 77, 139 und TSch, 44, in: CCCM XII, ed. E. Buytaert, Turnholt 1969, S. 242, 255, 261, 284, 286, 301, 335 und 418.

[25] „…Ille quippe antea aliquos habebat qualescunque discipulos, maxime propter lectionem Prisciani in qua plurimum valere credebatur. Postquam autem magister advenit, omnes penitus amisit; et sic a regimine scolarum cessare compulsus est. Nec post multum tempus, quasi iam ulterius de mundana desperans gloria, ipse quoque ad monasticam conversus est vitam…“ H.C., ed. E. Hicks, La vie et les epistres…, S. 6. 

[26] Abaelard war vermutlich auf Betreiben Stephans von Garlande nach Laon gegangen, um durch öffentliche Diffamierung des bekannten Theologen dessen Berufung auf den verwaisten Bischofssitz von Laon zu verhindern. Zu den Hintergründen siehe: W. Robl: Auf den Spuren eines großen Philosophen: Peter Abaelard in Paris, und: Laon - Abaelards Kontroverse mit Anselm, online-Dokumente in: http://www.abaelard.de.

[27] Es ist denkbar, dass Stephan von Garlande mit Unterstützung des Königs und/oder des Bischofs von Paris Abaelards Beförderung als Gegenleistung für die Dienste in Laon durchgesetzte. Warum sonst hätte Abaelard betonen müssen, dass ihm der Lehrstuhl „schon längst reserviert und angeboten“ gewesen sei? „…post paucos itaque dies, Parisius reversus, scolas mihi iamdudum destinatas atque oblatas unde primo fueram expulsus, annis aliquibus quiete possedi…” H.C., ed. E. Hicks: La vie et les epistres…, S. 9.

[28] Hier findet sich bei M. Brial, RdH 14, folgende Anmerkung: „Über diesen Azo schweigen die Quellen; es sei denn, er ist identisch mit jenem Hesso, der die Ereignisse des Konzils von Reims im Jahr 1119 niederschrieb.“ In den Pariser Akten erscheint in mehreren Urkunden ein gewisser Obizo, der der Leibarzt Ludwigs VI. gewesen sein soll und nachweislich über ein großes Vermögen und eine eigene Bibliothek verfügte. Ob Azo oder Obizo -letzterer war dem Namen nach wohl ein Spross der Schule von Salerno - identische Personen sind, muss dahingestellt bleiben. Die „physici“ von Paris besaßen als Konkanoniker Häuser vor den Toren von Notre-Dame und bezogen ihre Einkünfte vom Domkapitel, für das sie u. a. die Krankenversorgung im Armenhospital übernahmen. Zu Obizo siehe auch: Cartulaire Générale de Paris, ed. R. de Lasteyrie, Bd. 1, Paris 1887 an diversen Stellen; D. Lohrmann: Papsturkunden in Frankreich, neue Folge, Bd. 8, Diözese Paris, Göttingen 1989, S. 169; E. Wickersheimer: Dictionnaire biographique des médecins en France au Moyen Age, Paris 1936, S. 582.

[29] Hier findet sich bei Dom Brial, RdH 14, folgende Anmerkung: "Über diesen Azo schweigen die Quellen; es sei denn, er ist identisch mit jenem Hesso, der die Ereignisse des Konzils von Reims im Jahr 1119 niederschrieb." Einer Quelle aus Douai nach soll besagter Azo an der Schule von Saint-Amé in Douai gelehrt haben. In den Pariser Akten erscheint in mehreren Urkunden ein gewisser "physicus" Obizo aus der Lombardei, der der Leibarzt Ludwigs VI. gewesen sein soll und nachweislich über ein großes Vermögen und eine eigene Bibliothek verfügte. Ob Azo oder Obizo - letzterer war dem Namen nach wohl ein Spross der Schule von Salerno - identische Personen sind, muss dennoch dahingestellt bleiben. Die "physici" von Paris besaßen als Konkanoniker Häuser vor den Toren von Notre-Dame und bezogen ihre Einkünfte vom Domkapitel, für das sie u. a. die Krankenversorgung im Armenhospital übernahmen. Zu Obizo siehe: Cartulaire Générale de Paris, ed. R. de Lasteyrie, Bd. 1, Paris 1887 an diversen Stellen; D. Lohrmann: Papsturkunden in Frankreich, neue Folge, Bd. 8, Diözese Paris, Göttingen 1989, S. 169; E. Wickersheimer: Dictionnaire biographique des méde-cins en France au Moyen Age, Paris 1936, S. 582. R. H. Bautier: Les origines et les premiers développements de l'abbaye Saint-Victor de Paris, in: L'abbaye Parisienne de Saint-Victor au Moyen Age, XIIIe Colloque d'Humanisme médiéval de Paris 1986-1988, ed J. Longère, Paris Turnout 1991, S. 48. Zu Azo aus Douai siehe: Mémoire de la Société d'agriculture, sciences et arts de Douai, 1858-1859, Bd. 2, S. 357. Die Verbindung zwischen naturwissenschaftlicher Forschung und Lehre wird auch in einem Brieftitel des Petrus Venerabilis belegt, der an einen gewissen Meister Robert, viri scolastici et in phisica magistri, gerichtet war. Siehe Petrus Venerabilis: Brief 126, in: The letters of Peter the Venerable, ed. Giles Constable, Cambridge 1967, Bd. 1, S. 322f.

[30] Um die insgesamt 16 Manuskriptseiten termingerecht zu übertragen, musste Bernhard sogar seinen Bruder Bernhard anstellen.

[31] „His amore ferventissimo copulari coepit Gosvinus...“ Vita Gosvini, RdH 14, S. 444. Zu Abt Alvisius von Anchin siehe auch: Sproemberg: Alvisus, Abt von Anchin, Berlin 1931, und: E. A. Escallier: L’abbaye d’Achin, Lille 1852, 57ff.

[32] Der Benediktinerorden und seine Ableger (wie z.B. der Prämonstratenserorden oder die Ritterorden) unterschieden zwei Arten von Prioren, den Klaustralprior (prior claustralis oder prior major) und den Konventprior (prior conventualis). Der Klaustralprior, in manchen Orden auch Dekan genannt, nahm den unmittelbaren Rang nach dem Abt (oder Großmeister) ein, dem er unterstellt war und dessen Stellvertretung er im Abwesenheitsfall übernahm. Zu seinen wesentlichen Aufgaben zählte die Überwachung der inneren Ordnung eines Klosters, d. h. der Klosterzucht. Dazu verfügte er über eine gewisse, vom Abt deligierte Jurisdiktions- und Exekutivgewalt. In größeren Klöstern wurde der Klaustralprior von mindestens einem oder mehreren Subprioren (subprior, tertius prior, quartus prior, quintus prior) unterstützt. Letztere trugen auch den Titel „circator,“ da sie im Auftrag des Priors Überwachungsrundgänge im Klosterbezirk zu absolvieren und alle Regelverstöße dem Klaustralprior zu melden hatten. Der Konventprior (prior conventualis) wurde dagegen durch Kapitalbeschluss meist auf eine bestimmte Zeitspanne, später auf Lebenszeit gewählt und rangierte in Klöstern ohne Abt als Konventleiter, mit voller Verfügungsgewalt über alle Temporalien und Spiritualien. Bei den Kluniazensern gab es außerdem noch einen Hauptprior (prior major), der dem Klaustralprior vorgesetzt war. Daneben finden sich in einzelnen Konventen auch sogenannte „einfache Priore“ oder Obödienziarpriore (prior simplex, prior obedientiarius), als Leiter bestimmter monastischer Einrichtungen. Zweige des Augustinerordens und die Karmeliter kennen weitere Priorate, z.B. den Provinzialprior (prior provincialis) und den Generalprior (prior generalis).

[33] „Misit autem dominus in cor praelatorum ordinem reformare perditum...“ Vita Gosvini, in: RdH 14, S. 444.

[34] Siehe Regula Sancti Benedicti, Kap. 30, 3; Kap. 2, 28; Kap. 28,1; Kap. 71,9.

[35] Siehe: P. Dinzelbacher: Bernhard von Clairvaux, Darmstadt 1998, S. 76. Auch: Bernhard von Clairvaux: Brief 1, in: Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke, ed. G. Winkler, Bd. 2, S. 3.

[36] Der Titel „officialis“ betraf im Frühmittelalter üblicherweise die Exekutivbeamten eines Ortsbischofs; der Begriff „claustralis“ ging in diesem Zusammenhang über den Allgemeinbegriff Klosterinsasse, wie ihn z.B. der mit Goswin befreundete Peter von Celle, ebenfalls ein ehemaliger Abaelard- Schüler, in seiner Schrift „De disciplina claustrali“ gebraucht hatte, deutlich hinaus: Als die Reform des verderbten Säkularkanonikerstiftes Saint-Corneille in Compiègne anstand, empfahl Goswin für diese heikle Aufgabe seinen Schüler und Vertrauten, Prior Alexander. Dieser wurde durch eine konzertierte Aktion König Ludwigs VII., Erzbischof Samsons von Reims und Bernhards von Clairvaux in seiner neuen Funktion bestätigt und mit mehr als 15 „Vollzugsbeamten“ nach Compiègne geschickt, um dort möglichst kurzen Prozess zu machen: „adjunctis ei claustralibus et officialibus, quorum numerus quindenarium excedebat...“ Siehe Vita Gosvini, RdH 14, S. 447.

[37] „Aemulabatur ferventer decorem domus Dei, zelabat Domini sui sponsam, oderat Cricifixi patrimonii dissipatores…” Vita Gosvini, RdH 14, S. 444.

[38] Gottfried Hirschhals, Gaufridus collum cervi, war zuvor Prior von Saint-Nicaise und Abt von Saint- Thierry in Reims gewesen, ehe er von 1121 bis 1131 das Kloster Saint-Médard in Soissons leitete. Im Jahr 1131 wurde er Bischof von Chalôns-sur-Marne, als Nachfolger Erleberts.

[39] Zu den Teilnehmern des Konzils von Soissons zählte auch Wilhelm, der Abt von Saint-Thierry in Reims und späterer Ankläger Abaelards. Dies herausgefunden zu haben, ist der Verdienst J.F. Bentons: Fraud, fiction and borrowing in the correspondence of Abelard and Heloise, in: Colloques internationaux du centre national de la recherche scientifique Nr. 546, Pierre Abélard, Pierre le Vénérable, Abbaye de Cluny 2 au 9 juillet 1972, Paris 1975, S. 486, Fußnote.

[40] Siehe H.C., z. B. ed. E. Hicks : La vie et les epistres…, S. 26.

[41] Hier irrt der Verfasser oder ein späterer Transkriptor der Vita. Die Verurteilung Abaelards auf dem Konzil von Soissons erfolgte unter dem Vorsitz Conos von Praeneste, der der Legat des Papstes Kallixtus II. war. Papst Innozenz II. wurde erst neun Jahre nach den Ereignissen von Soissons zum Papst gewählt. Die Textstelle belegt, dass dieser Teil der Vita doch erst geraume Zeit nach den Ereignissen entstanden sein kann, sonst hätte sich der Autor nicht so offenkundig geirrt.

[42] „Inde, quasi reus et convictus abbati sancti Medardi, qui aderat, traditus, ad claustrum eius tanquam ad carcerem trahor; statimque concilium solvitur. Abbas autem et monachi illius monasterii me sibi remansurum ulterius arbitrantes, summa exultatione susceperunt, et cum omni diligentia tractantes, consolari frustra nitebantur......Legatus coram omnibus invidiam Francorum super hoc maxime detestaretur. Qui statim penitentia ductus, post aliquos dies, cum ad tempus coactus satisfecisset illorum invidie, me de alieno eductum monasterio ad proprium remisit...“ Siehe H.C., ed. E. Hicks: La vie et les epistres…, S. 26f.

[43] Der Flame Alvisius, Bischof von Arras, war zunächst Prior von Saint-Vaast in Arras gewesen, ehe er 1111 Abt von Anchin wurde. Das Episkopat von Arras hatte er zwischen 1131 und 1148 inne. Als Teilnehmer des Zweiten Kreuzugs verstarb Alvisius auf der Heimreise bei Philippolis in Makedonien. Siehe hierzu Sproemberg: Alvisus, Abt von Anchin, Berlin 1931, auch E. A. Escallier: L’abbaye d’Achin, Lille 1852, S. 60, und: GC III, Sp. 324ff.

[44] Siehe Abbildung im Anhang, aus: E. A. Escallier: L’abbaye d’Anchin, Lille 1852, S. 71f.

[45] E. A. Escallier: L’abbaye d’Anchin, Lille 1852, S. 77.

[46] E. A. Escallier: L’abbaye d’Anchin, Lille 1852, S. 81ff.

[47] In der Vita Gosvini Ingravius genannt.

[48] Die Abtei Marchiennes war 647 vom Heiligen Armand zwischen Cambrai und Lille gegründet worden. Im Jahr 1028 wurde sie benediktinisch. Bereits Alvisius von Arras hatte das Kloster vergebens unter Papst Innozenz II. zu reformieren versucht, ehe Ingrannus und Luitbert unter Goswin dort Äbte wurden.

[49] Siehe GC III, Sp. 411f. Eine weitaus vollständigere Aufstellung der Akten, die Goswin erwähnen, findet sich bei J.-P. Gerzaguet: L’abbaye d’Anchin de sa fondation (1079) au XIVième siècle, Villeneuve d’Ascq 1997, S. 94 und 303-304.

[50] Die Abtei Saint-Bertin war vom Heiligen Othmar, Bischof von Thérouanne, im Jahr 648 auf einem steilen Felsen bei Saint-Omer, Pas de Calais, gegründet worden. Wenig später erfolgte die Neugründung durch den heiligen Abt Saint-Bertin in Sithon am Fluss Aa. Der von Goswin in Saint-Bertin inaugurierte Leonhard betrieb auf dem Zweiten Laterankonzil im April 1139 mit Unterstützung Alvisius’ von Arras und Bernhards von Clairvaux die Loslösung vom Konvent von Cluny, was ihm auch gelang.

[51] Dies geschah jeweils in wenig freundlicher Absicht. Siehe hierzu: W. Robl: Peter von Celle, Auseinandersetzung mit Heloisa, 2002, online-Dokument in http://www.abaelard.de

[52] Zur Biographie Peters von Celle siehe auch: W. Robl: Peter von Celle, De disciplina claustrali, Reminiszenzen zu Peter Abaelard und seinem Werk Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum, 2002, online-Dokument in http://www.abaelard.de

[53] Zu dem Schreiben Peters von Celle und dem Antwortbrief Alexanders siehe: The letters of Peter of Celle, ed. J. Haseldine, Oxford 2001, S. 508f. Alexander war Abt von Anchin zwischen 1166 und 1174. Die beiden Briefe haben sich in einem Manuskript des 12. Jahrhunderts aus Saint-Saveur in Anchin erhalten, welches auch als Kopie des 16. Jahrhunderts in Douai aufgefunden wurde. Hierzu mehr bei: J. Leclercq: Nouvelles lettres de Pierre de celle, Studia Anselmiana 43, 1958, S. 160ff.

[54] Die Angaben der Vita Gosvini sind in diesem Punkt etwas missverständlich: „vespere autem sabbati quae lucescebat in Dominicam et erat VII idus Octobris...“ (Vita Gosvini, RdH 14, S. 448)  Wenn sich der letzte Halbsatz „et erat...“ auf den Samstag bezog - was auf jeden Fall syntaktisch richtig wäre -, so hätte Goswin bereits im Jahr 1165 verstorben sein müssen (nach den Tabellen in: H. Grotefend: Taschenbuch der Zeitrechnung, Hannover 1960, S. 170). Doch dies widerspricht einer anderweitigen Angabe der Vita klar: „anno dominicae incarnationis MCLXVI“ (Vita Gosvini, RdH 14, S. 447). Der scheinbare Widerspruch erklärt sich durch die Tatsache, dass nach altem Ritus der Anbruch des Sonntags bereits am Vorabend nach der Samstagsvesper gefeiert wurde. So wird der Todestag richtigerweise mit Sonntag, dem 9. Oktober 1166, anzunehmen sein. Nach dem Auctuarium Aquicinctinum (1163-1200), einem Zusatz der Chronik des Sigebert von Gembloux, bestätigt sich diese Sicht der Dinge; Goswin soll um Mitternacht verstorben sein: „Anno MCLXVI: Piae memoriae domnus Gozuinus Abbas Aquicinensis septimus, caritate illustris, amator pacis et religionis, VII Idus Octobris circa mediam noctem, Die Dominica, luna XI, Indict. XIV, de hoc saeculo transiit: quo in Ecclesia beatae Mariae semper virginis, in loco ubi orare consueverat, cum magno filiorum suorum gemitu, tumulato, Alexander Prior ejusdem Ecclesiae ei octavus succedit...“ RdH 134, S. 279. Siehe hierzu auch: GC III, Sp. 412. Entsprechende Einträge sollen sich auch im Nekrolog und Martyrolog der Abtei Anchin gefunden haben. Siehe J.-P. Gerzaguet: L’abbaye d’Anchin de sa fondation (1079) au XIVième siècle, Villeneuve d’Ascq 1997, S. 95.

 


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