Metamorphosis Golye episcopi - Die Metamorphose des Bischof Golias

Das folgende Gedicht liegt in zwei Manuskripten vor, dessen früheres den genannten Titel trägt. Der Text wurde erstmals von Huygens veröffentlicht (Studi medievali, 3 ser. 3, 1962, 764-772). Das der Goliarden- bzw. Vagantendichtung des 12. Jahrhunderts zuzurechnende Werk ist sehr früh - vermutlich kurz nach dem Konzil von Sens und noch vor Abaelards Tod - entstanden. Der anonyme Verfasser dürfte zu Abaelards Anhängern gehört haben. In dem Gedicht finden sich viele topische Elemente; einige bleiben rätselhaft: Geschildert wird die Traumversion einer Hochzeit von Merkur und Philologia in einem fiktiven Palast. Fast alle Götter und Göttinnen, Musen und Grazien der griechischen und römischen Mythologie treten als Akteure auf. Ausführlich geschildert wird ein Konflikt zwischen Pallas Athene, der Göttin der Weisheit und Aphrodite, der Göttin der Schönheit. Als Hochzeitsgäste sind all die sterblichen Philosophen mit ihren Begleiterinnen geladen; einige von ihnen hängen mehr Aphrodites Schönheit als Athenes Weisheit an. Doch einer von ihnen ist nicht erschienen:

Secum suam duxerat Getam Naso pullus,
Cynthiam Propercius, Delyam Tibullus,
Tullius Terenciam, Lesbiam Catullus,
Vates huc convenerant, sine sua nullus.
Mit sich geführt hatte der finstere Ovid hat seine Gotin,
Properz die Cynthia, Tibull die Delia,
Cicero die Terentia und Catull die Sappho.
Hier hatten sich die Dichter getroffen, doch keiner ohne die Seine.
Queque suo suus est ardor et favilla,
Plinium Calpurnie succendit scintilla,
Urit Apuleium sua Prudentilla,
Hunc et hunc amplexibus tenet hec et illa ...
Eine jede ist dem Ihren Glut und Asche,
Der Funke der Calpurnia entzündet Plinius.
Den Apuleius verbrennt seine Prudentilla,
Diese und jene halten den Ihren umarmt ...
Nupta querit ubi sit suus Palatinus,
Cuius totus extitit spiritus divinus,
Querit cur se subtrahat quasi peregrinus,
Quem ad sua ubera foverat et sinus.
Die Braut fragt, wo ihr Palatinus ist,
Dessen ganzer Geist sich göttlich erwies.
Sie klagt, warum er sich ihr gleichsam als Fremdling entzieht.
Hatte sie ihn doch an Brust und Busen gewärmt.
Clamant a philosopho plures educati:
Cucullatus populi primas cucullati
Et ut cepe tunicis tribus tunicati,
Imponi silencium fecit tanto vati.
Viele der vom Philosophen Unterrichteten protestieren:
Der kuttentragende Führer des kuttentragenden
Und des zwiebelig dreifach gewandeten Volkes
Hat einem solchen Seher Schweigen auferlegen lassen!

Das Gedicht endet mit einem Aufschrei gegen die Einflussnahme des Mönchtums auf die Philosophie. Bischof Golias fungiert hier als der Ulk-Bischof auf dem Fest der Narren. Der Begriff Metamorphosis meint in diesem Zusammenhang seine Inthronisation. Die Braut des Palatinus als des modernen Philosophen schlechthin ist hier die Philologia, verkörpert durch Heloïsa. Der cucullatus primas ist wohl Bernhard von Clairvaux ; die tunicis tribus tunicati verkörpern die reichen Bischöfe. Trotz des satirischen Charakters des Gedichtes findet sich in den Anspielungen auf die Geschichte Abaelards und Heloïsas keine Spur von Ironie, eher Empörung. Vermutlich handelt es sich in den vorgestellten Dokument um die früheste Bestätigung der bereits damals allgemein bekannten Liebesaffäre.


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