Rudolf Tortarius: Ad Syncopum

© Dr. Werner Robl, April 2003

 

Merui, meritas do sanguine poenas.
Ah, pereant partes, quae nocuere mihi.

Verdient hab' ich's und büße jetzt
verdient mit meinem Blut.
Das Glied; das mir geschadet hat,
zum Teufel soll es gehen!

                 Ovid, Fasten 4, 438-439


 Federzeichnung Pieter Bruegel, 1525-1569

Im Kloster Fleury in Saint-Benoît-sur-Loire lebte zur Zeit Heloïsas und Abaelards ein literarisch begabter Zeitgenosse, der Mönch Rudolf Tortarius, welcher in einem seiner lyrischen Werke auf das Kastrationsdrama Peter Abaelards anspielte. Das Werk, welches man auch kurz als Sex-and-Crime-Story des Mittelalters persiflieren könnte, soll deshalb an dieser Stelle etwas ausführlicher vorgestellt werden:

 

Der Autor

Fleury/Saint-Benoît-sur-LoireRudolf Tortarius wurde in Gien an der Loire, in der Diözese Auxerre, geboren. Nur wenig ist von seinem Leben bekannt. Die meisten biographischen Hinweise finden sich in dem frühmittelalterlichen Codex seiner Werke, der heute in den Archiven des Vatikan aufbewahrt wird: MS Reginensis 1357. Lediglich zwei externe Quellen nehmen auf Rudolf Bezug: Ein Mitbruder namens Hugo von Sainte-Marie unterstrich in seinem literarischen Vorwort zur Fortsetzung der Wundergeschichten des Heiligen Benedikt, die von Rudolf Tortarius begonnen worden waren, dass dieser in der Tat Mönch in Fleury gewesen sei, ehe er eines plötzlichen Todes starb: „Porro hoc opus ante me dominus Rodulfus, noster venerabilis frater, incoeperat, sed morte subtractus est... - Nun hatte aber dieses Werk Herr Rudolf, unser verehrter Mitbruder, bereits begonnen, doch dann wurde er von Tod dahingerafft." [1] Die zweite Quelle zu Rudolf Tortarius oder fr. Raoul Tortaire stellen zwei unleserliche Epigramme dar, die dem Vatikanischen Manuskript voranstehen. Das erste stammt von einem gewissen Francus Beatus: „Rodulfus fuit hic decus ecclesiaeque columpna, carmina cuius in hoc corpore, lector, habes. Imbutus a puero doctrinis grammaticorum, saeculi cum vita deseruit studium: inde fuit sacrae vas legis et historiarum... - Rudolf, dessen Lieder du in diesem Corpus vorfindest, Leser, war Zierde und Stütze dieses Klosters. Von Jugend auf von der Sprachwissenschaft durchdrungen, gab schließlich dieses Studium zusammen mit dem weltlichen Leben auf: Von diesem Zeitpunkt an war er ein Experte für das heilige Gesetz und die Geschichtsschreibung..." Das zweite Epigramm aus unbekannter Hand enthält keine zusätzliche Information. Demnach war Rudolf nach einer literarischen Früherziehung und dem Studium der Literaturwissenschaften resp. der Grammatik und Logik Mönch in Fleury geworden. Das Benedikt-Kloster in Fleury an der Loire, welches schon seit den Tagen Abbos von Fleury eine blühende Klosterkultur aufwies, war der Lieblingskonvent König Philipps I. von Frankreich. Als einziger der französischen Könige ließ er sich hier nach seinem Tod begraben, was seinen Leichnam später vor der Schändung durch die Marodeure der französischen Revolution bewahrte. Zur Zeit Rudolfs besaß der Konvent weitläufige Besitzungen und bereits eine ansehnliche literarische Schule mit einem renommierten Skriptorium. So konnte er sich dort gründlich fortbilden, was ihn dazu befähigte, auch während seiner monastischen Laufbahn weiterhin literarisch tätig zu sein. Einige biographische Informationen finden sich in seinen Briefen: So erfährt man aus einigen Textstellen der Briefe 1 - 4 den etwas rätselhaften Beinamen Tortarius; [2] Brief 11 erwähnt seinen Geburtsort. Rudolf war mit Bischof Galon von Paris, 1104-1116, persönlich bekannt, wie man einem dem Bischof gewidmeten Gedicht über Boëmundus von Antiochien entnimmt. Brief 9 berichtete obendrein von einer Reise in die Normandie, vor allem in die Städte Caen und Bayeux, die sich grob in die Jahre zwischen 1110 und 1115 datieren lässt. Rudolf Tortarius hatte fünf Brüder, von denen zwei früh bei einer Fehde verstarben, zwei weitere später, so dass er selbst in seinen späten Tagen seinen Brief 11 nur noch an den einen, am Leben gebliebenen Bruder richten konnte. Eine Passage aus Brief 4 beschreibt seine angesehene Stellung im Orden: Er war für ihn in hoher Mission unterwegs. Vermutlich war er auch zu einem bestimmten Zeitpunkt in seinem Leben auf dem Jakobspilgerweg nach Santiago di Compostella gezogen. Rudolfs Geburts- und Todesjahr stehen nicht sicher fest: Brief 7 zeigt, dass er zum Zeitpunkt seiner Abfassung 45 Jahre alt war. Wenn dieser Brief aus dem Todesjahr König Philipps I. stammt, wie von E. de Certain behauptet, so müsste Rudolf im Jahr 1063 geboren sein. Sein Todesjahr liegt vermutlich nach 1122, auf jeden Fall nach dem Beginn des Abbaziats von Petrus Venerabilis, dem Rudolf  als frisch gewählten Kluniazenserabt in Brief 10 noch die Referenz erwiesen hatte. Allerdings wurde angezweifelt, dass dieses Werk aus seiner Feder stammt. So bleiben letztlich nur vage Vermutungen. Rudolf Tortarius wird einige Dekaden vor der Jahrtausendwende geboren sein und er lebte wahrscheinlich bis nach 1122. Diese angenommenen Eckdaten weisen ihn als einen partiellen Zeitgenossen Heloïsas und Peter Abaelards aus. Wegen seiner früheren Studien und seinen Verbindungen nach Paris wird Rudolf Tortarius auch über Abaelards Liebesaffäre und Kastration informiert gewesen sein.  

Die Manuskriptvorlage für die Epistula 6

Zu Rudolfs literarischem Vermächtnis zählen nicht nur die eben erwähnten Briefe, sondern auch Hymnen, ein Wunderbuch, ein Martyrologium und zwei Heiligenviten. Während sich die sonstigen Werke vereinzelt in anderen Manuskripten wiederfanden, [3] blieben Rudolfs Episteln nur in dem oben erwähnten, vatikanischen Manuskript erhalten: MS Vat. Reginensis 1357. Frühere Angaben, das dichterische Werk sei auch in MS Vat. Reginensis 1343 repräsentiert, sind ein bibliographischer Irrtum. [4]

Die Manuskriptgeschichte von MS Vat. Reginensis 1357 ist bewegt: Nach einem ca. vierhundertjährigen Dornröschenschlaf in der Bibliothek von Fleury gelangte der Codex mit den Werken Rudolfs im 16. Jahrhundert in die Hände des Liebhabers Pierre Daniel aus Orléans. Unmittelbarer Anlass des Besitzwechsels war die Zerstörung der Klosterbibliothek im Jahre 1562 durch die Hugenotten. Nach dem Tod Pierre Daniels ging der von ihm erworbene Bestand Fleurys auf Paul Petau und Jacques Bongars aus Paris über. Ersterer übergab seine Bestände wiederum im Jahr 1614 seinem Sohn Alexander Petau. Dreißig Jahre später erwarb Königin Christina von Schweden durch den königlichen Bibliothekar Isaac Voss die Bücher Petaus, darunter auch den Codex des Rudolf Tortarius. Bei ihrem Tod im Jahr 1690 fielen die vom schwedischen Königshaus gesammelten Manuskripte, die zwischenzeitlich von Montfaucon katalogisiert worden waren, an Papst Alexander VIII., der sie von nun an in den Archiven des Vatikan verwahren ließ. Dort befindet sich der Codex aus Fleury bis zum heutigen Tag.

Die Pergamenthandschrift, deren Einband die frühere Nummer 1640 auf dem Rücken trägt, umfasst insgesamt 181 Folios, welche von mehr als einer Hand des 12. Jahrhundert kunstfertig in karolingischer Minuskel einspaltig beschrieben wurden, mit rubrizierten Titeln und Initialen auf jeder zweiten Linie. Die Schriftzüge, die jeglichen gotischen Einfluss vermissen lassen, schließen a priori die Möglichkeit aus, dass das Manuskript in einem späteren Jahrhundert entstand. Somit wird der Codex, der die gesammelten Werke des Dichters enthält, unmittelbar nach seinem Tod im Skriptorium von Fleury angefertigt worden sein. Folgende Werke finden sich im Einzelnen:

Der Stil und die Autorenintention

In seiner Lyrik verwandte Rudolf Tortarius ein für heutige Lesart sehr manieriertes, mit zahlreichen Elementen der heidnischen und christlichen Vorstellungswelt durchsetztes Latein. Zur Betonung seiner Ars dictaminis und seiner literarischen Beschlagenheit gebrauchte er mit Vorliebe Zitate und Figuren aus dem Sagenschatz der griechischen und römischen Antike, vor allem aus dem Bereich der Göttersagen: Daneben zitierte er eifrig aus den Werken klassischer Autoren wie Ovid oder Vergil. Als Versform bevorzugte er das elegische Distichon, bestehend aus der Kombination eines Hexameters und Pentameters, aber auch sapphische Verse, beides geschmückt mit leoninischen Reimen. Bei den Verbschemata findet man bevorzugt die Paromoiose (Kombination mehrer Gleichklänge). Weitere, häufig benutzte Stilmittel sind das Homoioteleuton (Gleichklang des Wortschlusses), die Alliteration (Wiederholung des konsonantischen Anlauts), die Paronomasie (Wortspiel mit ähnlich klingenden Wörtern, z. B. vales - velis) und die Antithese (Bildung von Gegensatzpaaren). Für den stilistischen Zierrat opferte Rudolf mitunter die grammatikalische Exaktheit des Satzes. So variierte er oft die Modi und Tempora der Verben nach den Erfordernissen des Klangbildes. Gerne gebrauchte er für gebräuchliche Dinge und Begriffe seltene, meist poetische Wortvarianten, z. B. Synkopen (cognoram, sudasse) oder Diminutive (avunclus) oder er schuf Neologismen, indem er z. B. die Präfixe von Verben variierte. Daneben zog Tortarius auch wiederholt archaische Wortformen (z. B. des Adverbs opido oder der Interjektion pape), Gräzismen und Fachtermini, die er wohl einem zeitgenössischen Glossarium entnommen hatte, heran. Es resultiert daraus ein alles in allem stark von der Goldenen Latinität abweichendes, mitunter schwer zu verstehendes Latein.

Der folgende, in elegischen Distichen verfasste, an einen fiktiven Adressaten gerichtete Brief  6 stellt gattungsgeschichtlich ein sogenanntes lyrisches Fabliau dar. Dabei handelt es sich eine jener kleinen satirischen Geschichten oder Burlesken, an welchen sich die gebildete Oberschicht in den Konventen, den Stadtpalais, den Burgen und Schlössern, aber auch in den Tavernen der Scholaren, ergötzte. In der an formellen Nachrichten und Neuigkeiten so armen Zeit genossen derartige Werke - nicht zuletzt durch ihre Frivolität, die manchmal sogar an Obszönität grenzte - eine ungemeine Popularität. Meistens wurden sie in geselliger Runde rezitiert - zum Schmunzeln und Gelächter der Zuhörer, zur Diskussion ihres Sinngehalts und zur Entlarvung versteckter Andeutungen. So enthalten derartige Fabliaus  neben moralisierenden und lehrhaften Komponenten mitunter auch Karikaturen des Zeit- oder Tagesgeschehens.

Der hier vorgestellte Pseudo-Brief - es handelt sich in Wirklichkeit um einen fiktiven Dialog - schildert in etwas schaurigen und anrührenden Worten die Leidensgeschichte eines ehrgeizigen Grammatikers namens Syncopus, welcher sich durch eine Selbstkastration aus Armut befreien und den Aufstieg in die priesterliche Oberklasse des Landes schaffen will. Für seine Hybris wird er schließlich vom Schicksal schwer bestraft. Rudolf Tortarius bedient sich eines dichterischen Dialogs, wenn er über den Werdegang und das Schicksal dieses Mannes reflektiert. Phantasievoll berichtet er nicht nur über den Anlass und die Ausführung der Verstümmelung als solcher, sondern auch über die zugrundeliegenden Motive und die bitteren Konsequenzen. Dabei gerät die Schilderung mitunter zur derblustigen Posse.

Schon im 19. Jahrhundert war in einigen Passagen eine allegorische Anspielung auf die Situation Peter Abaelards, auf seine Rolle als Lehrer in Paris und seine Affäre mit Heloïsa vermutet worden, was jedoch nicht ohne Widerspruch blieb. [7] Um dem Leser die Möglichkeit zu verschaffen, sich selbst ein Bild zu machen, wird das ganze Gedicht, welches erstmals im Jahr 1933 in einer kritischen Edition erschien [8] und seitdem ohne große Beachtung blieb, in seiner Gesamtheit und im lateinischen Original vorgestellt. Damit auch dem Lateinunkundigen der Zutritt zur Gefühls- und Gedankenwelt des Autors und zum mittelalterlichen Publikumsgeschmack ermöglicht wird, findet sich in Ergänzung eine deutsche Rohübersetzung, wobei jedoch weder ein Versmaß oder Reimung angestrebt wird, noch alle Passagen sinnerhellend übersetzt werden konnten. So werden hier in Zukunft noch Nachbesserungen nötig sein. Zur Inhaltserklärung geht den einzelnen Sinnabschnitten jeweils ein kurzer Kommentar voran. Spezifische Begriffe und vor allem etwaige Anspirlungen auf die Geschichte von Abaelard und Heloïsa werden im Fußnotenapparat näher erläutert.

Epistula VI ad Sincopum - Brief 6 an Synkopus

Einleitend wird der Held der Geschichte, der Eunuch Syncopus, vorgestellt, als Tugendwächter einer verheirateten Schönen namens Flora. Der Name des Helden ist von Rudolf Tortarius mit Bedacht gewählt: Zusammen mit dem weiter unten erwähnten potentiellen Kastrator Periphras scheint Rudolf bei der Auswahl des Namens mit den Begriffen der Stilistik bzw. der Metrik gespielt zu haben: Synkope meint die Verkürzung eines Wortes durch Elision eines Vokals: Auch der Adressat Syncopus wurde um eines Teils seines Selbst gekürzt, nämlich um seine Geschlechtsteile. Die Periphrase bedeutet Ausdrucksvarianz durch Umschreibung, somit die Schaffung eines Neuen. Der Autor richtet eingangs an den besagten Syncopus die dringende Warnung, wachsam zu sein. Geld öffne selbst die verschlossensten Türen. Als Allegorie verwendet Rudolf eine Episode der griechischen Mythologie. Der Göttervater Zeus hatte nach der mykenische Sage in der Gestalt eines Goldschauers die von ihrem Vater Acrisius fest unter Verschluss gehaltene Danaë geschwängert. Der Name des angebeteten Mädchens, Flora, in der römischen Mythologie die Göttin der Blüte, versinnbildlicht hier Jugend und Schönheit. Daneben mag Rudolf Tortarius auch das Bild einer flatterhaften Dirne vor Augen geschwebt haben, die in der Region, aus der er stammte, vermutlich in Orléans, lebte. Dennoch scheint der Autor weniger auf die Loire-Metropole als auf die Hauptstadt der Franzia des 12. Jahrhunderts, Paris, angespielt zu haben: So könnte der mythologische Jüngling Paris, der durch seine Entscheidung über die schönste Frau Griechenlands den trojanischen Krieg verursachte, mit seinem Namen den Schauplatz des Gedichts symbolisieren. Die Ermahnung, die der Autor zuletzt an seinen Briefpartner richtet, endet mit der noch heute allseits bekannten Sentenz Ovids: „Steter Tropfen höhlt den Stein" (Briefe von Pontus 4,10,5).

 

1

Sincope, [9] formosae custodia provida Florae, [10]
Ne Paris [11] argutis fallat, adesto, dolis.
Claude fores, clatros, et vectes obice portis,
Muni tecta domus iugibus excubiis!
Acrisius [12] Danen [13] sublimi clauserat arce,
Amotis maribus sola ministrat anus ;
Ferrea turris erat, nulla de parte patebat,
Non erat ulli fas appropiare viro;
Danes in gremium furtim dilabitur aurum,
Intumuit subito nubilis alvus eo.
Haec ego non retuli te posse putem quia falli,
Aut praetium passi sumere velle stupri:
At speties fulvi faciles hebetare metalli
Cum soleat sensus, tu stabilito tuos.
Crebro suadelis anus inportuna paratis
Pota venena cavis evomit auriculis;
Tedia difficilem frangunt aliquando puellam,
Mollis enim durum gutta cavat lapidem.

 

Syncopus, du umsichtiger Wächter der schönen Flora,
Sieh dich vor, dass dich Paris nicht mit schlauen Tricks betrügt.
Schließe die Türen und Gitter und verriegle die Tore
Verstärke das Hausdach durch Wächter auf dem First!
Auch Acrisius hatte Danaë in einer stolzen Burg verschlossen.
Fernab der See wurde sie allein von einer alten Frau umsorgt.
Ehern war der Turm, an keiner Flanke offen.
Kein Mann durfte sich ungestraft ihr nähern.
Da wurde Danaë plötzlich unversehens von einem Goldschauer verhüllt.
Und plötzlich schwoll ihr ein trächtiger Bauch.
Ich habe dies nicht erzählt, weil ich glaube, dass du dich täuschen lässt
Oder für erlittene Entehrung eine Entschädigung in Anspruch nehmen willst.
Aber weil der Anblick des Geldes die leichten Sinne
zu betören pflegt, verfestige die deinen.
Oft speit die zudringliche Wahrsagerin mit ihren aufgesetzten
Ratschlägen giftigen Trank in die Ohrmuscheln.
Der Überdruss bricht irgendwann einmal das spröde Mädchen.
Denn weicher Tropfen höhlt selbst den harten Stein.

Der folgende Abschnitt beschreibt allegorisch die Jahreszeit der Liebe, den Frühling. Der Blumengöttin Flora, hier in Gestalt der schönen und umworbenen Städterin, droht Gefahr: Zwei Jünglinge von außerordentlicher Wohlgestalt und Anmut seien es, die ihr den Hof machten und sie zu verführen suchten. Rudolf Tortarius verleiht den beiden Freiern die Attribute antiker Sagengestalten und benennt sie mit den  Monatsnamen des griechischen Frühlings. Als dritten im Spiel erwähnt er den eifersüchtigen ersten Monat des Sommers. Die „zehn Brüder“ sind also die restlichen Monate des Jahres. [14] In welcher Stadt lebt Flora? Wenn man das Gedicht als Anspielung auf die Verhältnisse in der Franzia des 12. Jahrhunderts ansieht, wofür sich im Folgenden noch zahlreiche Belege finden, so schränkt der verwendete Ausdruck urbs das Geschehen weitgehend auf die einzigen "Großstädte" der damaligen Franzia, Paris und Orléans, ein. Welche der beiden Städte tatsächlich gemeint ist, lässt sich nicht abschließend beweisen, allerdings verweisen, wie schon ausgeführt wurde, einige Formulierungen des Gedichts auf Paris.

 

19

Urbem [15] fama tenet, nescis aut supprimis unus,
Garrit rivales illa duos iuvenes;
Dicitur Artimises [16] unus sed Xanticus [17] alter,
His ardet flammis Flora decens geminis,
Corpore proceri, forma prestante decori,
Bis quinos fratres exuperant spetie.
Candidior lana capud hircum Xanticus alba,
Membra tegit tunica multicolore sua;
Depingit caligas simplex color, his et aristas
Expressas omnis inspitias generis.
Funditur Artimisis planus de vertice crinis
Non niger aut flavus, buxeus at pocius;
Vestibus inscriptos flores mirabere seros,
Narcissum, rosulam, lilia, peoniam; [18]
Induitur longas vernanti flamine suras,
Presentat fruges calceus omnimodas;
Semper amiciri referuntur scemate tali,
Primo detrito scema recurrit idem.
Si calles, poteris qui sint cognoscere signis,
Dotibus insignes militiaeque duces:
Zelotipus panemos [19] avertere non valet istos
A Florae facilis lenibus obsequiis.
Et quia praeclaram sit sortitus genituram,
Nequaquam denis fratribus inferior,
Conqueritur Florae quia non potiatur amore,
Eius iocunda nec fruitur spetie.

 

In der Stadt geht das Gerücht; nur Du allein weißt nichts oder hörst weg.
Geschwätzig berichtet es über die beiden jungen Rivalen:
Artimises heißt der eine, Xanticus der andere.
Für diese beiden ist die reizende Flora Feuer und Flamme.
In ihrem schlanken Wuchs und ihrer Wohlgestalt
übertreffen sie ihre zehn Brüder an Aussehen.
Mit weißer Wolle ziert der glänzende Xanticus sein Bockshaupt,
mit einem bunten Kleid bedeckt er seine Glieder.
Einfache Farbe tönt seine Stiefel; an ihnen
kann man auch Ähren jeglicher Sorte erblicken.
Volles Haar ergieß sich vom Scheitel des Artimises,
nicht schwarz oder blond, sondern eher ins buchsbaumfarbige gehend.
Reife Blüten kann man auf seinem Gewand bewundern,
die Narzisse, die Rose, die Lilie, die Pfingstrose.
Er trägt einen hauchdünnen Schleier ist er, der seine langen Waden umspielt,
und Früchte aller Art zeigt sein Schuh.
Immer sollen die beiden in solche Hüllen gekleidet gehen,
Und nützt sie sich ab, so kehrt sie daselbst sogleich zurück.
Ein schlauer Mann kann an ihren Abzeichen erkennen, wer sie sind:
Kriegsherren sind sie, versehen mit reichen Gaben:
Selbst der eifersüchtige Panemos vermag die beiden
nicht von der sanften Willfährigkeit der leichtfertigen Flora abhalten.
Weil er ein hervorragendes Schicksal erlost hat und
unter den zehn Brüdern keineswegs von untergeordnetem Rang ist,
beklagt er sich bei Flora, dass er weder ihre Liebe erringen
noch sich ihres reizenden Anblicks erfreuen kann.

In den folgenden Versen besingt Rudolf ausschließlich die Schönheit des Mädchens, die Harmonie ihrer Gestalt und den bezaubernden Teint ihrer Wangen. Er gibt zu, dass auch er sich angesichts ihrer Attraktivität der Liebe nicht entziehen kann.

 

45

Felix qui Florae iugi potiatur amore,
Cuius sic facies nix veluti renitet,
Nec candor tantus perpenditur esse molestus,
Cocci vernantis cum rubor insit ei;
At non parte viget color idem corporis omni
Gratia nec membris omnibus est eadem:
Congruit ergo suo mire speties sua membro,
Nil in ea fedum nil videas mutilum;
Illius igne peris prudenter qui sapis omnis,
Me quoque nil miror si capit eius amor.

 

Glücklich der Mann, der sich der ständigen Liebe Floras versichert
deren Gesicht so weiß wie der Schnee leuchtet.
Doch soviel Glanz gilt mir dennoch nicht als unangenehm,
da ihm ein Hauch der frischen Scharlachröte innewohnt
Doch tönt diese Farbe den Körper nicht in jedem Teil;
nicht allen Gliedmaßen kommt derselbe Vorzug zugute:
Wunderbar stimmt so jedes Aussehen mit der Gliedmaße überein.
Nichts Hässliches, nichts Ungestaltes erblickt man an ihr.
Wer alles weiß, verzehrt sich klug in ihrem Feuer.
Wenn wundert's, wenn auch mich die Liebe zu ihr gefangen hält.

Sogleich schränkt Rudolf ein, dass seine Liebe einer anderen Flora gilt: Flora steht hier als Wortspiel für Rudolfs Konvent Fleury. In der Betonung der Universalität, der Gottesnähe und der Jungfraulichkeit beschreibt er mit deutlichen Worten das Mönchsideal als seine Braut, analog zum Bild zeitgenössischen Bild der Kirche als der mystischen Braut Gottes. Der fleischlichen Liebe schwört er somit ab. Im Bewusstsein der Überlegenheit seines geistigen Wegs gegenüber den körperlichen Zwängen des Syncopus wendet sich der Autor nun dessen Lebensbeichte zu, die er mit provozierende Fragen nach den Gründen der stattgehabten Kastration initiiert. Mit deftigen Worten spekuliert Rudolf darüber, ob etwa ein gewisser Periphras die stinkenden Geschlechtsteile abgeschnitten habe. Bei diesem Namen handelt es sich wieder um ein Wortspiel: Neben Periphras, einer Sagengestalt der griechischen Antike, scheint der Autor hier auf das Stilmittel der Periphrase anzuspielen. Im Folgenden berichtet Rudolf über die im 12. Jahrhundert üblichen Gründe einer Kastration: Es handelt sich meistens um eine Talions- und Sippenrache, die bei Vergewaltigung, Raub oder Entehrung eines unbescholtenen Mädchens zur Anwendung kommt. Genau dieselben Beweggründe dürften auch Heloïsas Onkel Fulbert zu dem Entschluss gebracht haben, Abaelard entmannen zu lassen.

 

55

At tua fors sodes non est mea, Sincope, Flora,
Nam tua pulcra quidem sed mea pulcra magis;
Totius hec orbis, tua civis solius urbis,
Est tua nota tibi, sed mea nota Iovi; [20]
Iam tua nupta viro sed adhuc constat mea virgo,
Inberbis Phebi [21] quam trahit unus amor.
Dic michi, sic valeas, tibi credita sic sit amica,
Sic plagas tumidae suffugias dominae,
Sic tibi credat herus nec edat sibi viscera zelus,
Sic numquam fidei deroget ille tuae.
Quid tua commisit, verearis ne profiteri,
Mentula testiculis cur careas geminis?
Forsitan hos ferro Perifras [22] praecidit acuto
Iamque veternosis ulceribus putridos, [23]
Aut te fasce suo ramex inmensa gravabat,
Plebeiae raptus virginis aut pudor est, [24]
Aut est ignoti generis vim passa puella,
Pauperi aut uxor munere lusa tuo:
Heus age, quid verum responde dixeris horum,
Cura tibi Florae qualiter acciderit.

 

Doch dein Geschick, Syncopus, ist - wenn's beliebt - nicht das meine!
Denn Deine Flora ist zwar schön; doch schöner ist die meine.
Die meine gehört der ganzen Welt, die Deine wohnt einer Stadt allein.
Deine kennst nur Du, die meine jedoch auch Jupiter.
Und Deine ist schon einem Mann vermählt, die meine ist noch Jungfrau.
Allein die Liebe des bartlosen Phöbus zieht sie an.
Sag mir, wenn Du kannst, ob Flora Dir als Seelenfreundin abgenommen wird,
ob Du den Schlingen der stürmischen Herrin entgehst, ob Dir Dein Herr
so vertraut, dass ihm die Eifersucht nicht die Eingeweide zerfrisst,
ob Dir jener niemals Deine Zuverlässigkeit abspricht.
Scheust du dich zuzugeben, was dein Schwanz verbrochen hat,
und warum dir jetzt beide Hoden fehlen?
Hat vielleicht Periphras mit scharfem Messer sie Dir abgeschnitten,
aus deren träge faulenden Geschwüren bereits der Eiter troff.
Oder fiel dir der gewaltige Strunk durch seine Bürde schon zur Last?
Entweder ist der Raub eines Mädchens aus dem Volk die Schmach,
oder es hat ein Mädchen Gewalt unbekannter Art erlitten,
oder eine werte Gattin ist durch Deinen Bärendienst verhöhnt!
Hör mal! Was an diesen Vermutungen wahr ist, sprich frei heraus: 
Wie kam es, dass Dir die Sorge um Flora zugefallen ist?

Syncopus beginnt zu erzählen, wie es zu seiner Kastration kam. Einleitend beharrt er darauf, keine bösen Absichten gehabt zu haben. Er sei ursprünglich ein Grammatiker gewesen, der sich einerseits in die Eitelkeit seiner wissenschaftlichen Befähigung verstiegen, andererseits unter materieller Armut gelitten hatte. Es habe ihm ständig vor Augen gestanden, wie und wo Reichtum zu erwerben sei: Die dickwanstigen Galli hätten sich als Priester der Zaubergöttin Hekate unermesslichen Reichtum angehäuft. Rudolf verwendet hier ein Bild aus dem Magna-Mater-Kult, der nach dem Zweiten Punischen Krieg im antiken Rom zu hohem Einfluss gelangte: Die Eunuchen-Priester der Magna Mater hießen Galli und hatten sich wie Syncopus selbst kastriert. Für Rudolf Tortarius dient die Allegorie als eine bitterböse Anspielung auf die Kirchenführung seiner Zeit. Bewusst verwendet er Galli in der Nebenbedeutung von "Gallier" und erwähnt die Mitra als Insignie des Episkopats. Er prangert somit mehr oder weniger unverhohlen die Gewinnsucht und Selbstgefälligkeit der französischen Bischöfe an, welche in ihrem aufwendigen Lebenswandel öffentliches Ärgernis erregten.  Mit dem Eunuchen-Ideal versinnbildlicht Rudolf die Leibfeindlichkeit und Misogynie der gregorianischen Reform: Seit dem Ende des 11. Jahrhunderts wurden die Priester und höheren Weihen in den Dom- und Stiftskapiteln durch Konzilsbeschlüsse und Papstdekrete zur geschlechtlichen Enthaltsamkeit und Ehelosigkeit in zunehmend unerbittlicher Weise verpflichtet. Indem der Autor des Gedichts das Bild des begabten und ehrgeizigen, aber mittellosen Wissenschaftlers entwirft, der um seines künftigen Prestiges willen auf seine Genitalien verzichtet, greift er motivisch die Affäre um Peter Abaelard auf. Für viele der hier geschilderten Details finden sich Analogien in den Werken Abaelards und dazugehöriger Quellen: Wenn z. B. der Autor die Häuser der Hekate-Priester als "turres" beschreibt, so stehen ihm die Kanonikeranwesen der Metropole vor Augen, die in den Quellen in der Tat als Turmbauten beschrieben sind. Auch die erwähnten Scheuern und Weinkeller entsprechen einer durchaus realen Situation. [25]

 

75

Nil, ait, indignum me, Sincopus, accipe passum:
Nam me tam turpem nolo putes hominem;
Est nobis animus non sic ut rere remissus,
Qui se tam fedis illaqueet maculis; [26]
Sed quoniam queris mihi cur genitale recidi,
Ne speres aliud, pando tibi brevius.
Artis grammaticae tumidus de cognitione, [27]
Exundans animis nec locuplebs opibus, [28]
Angebar iugi succensus pectoris estu:
Quid facis? en nullae sunt tibi diviciae
Unde vel exiguum crescat facis emolumentum:
Si nummos habeas semper honorus eris ;
Nullus honos inopi tibi, nullus amicus egenti,
Aurum si desit littera nulla placet!
Anne vides Gallos [29] Hecates [30] incedere pingues, [31]
Serica quos vestit et clamis et tunica?
Auro cum caris honerantur brachia gemmis,
Suras circumdat purpureum tegimen,
Auratos pedibus soccos ac vertice mitram, [32]
Turribus assimiles aspicis esse lares,
Horrea frumento, cellaria plena Falerno, [33]
Scrinia multimodis accumulata gazis.

 

Da erwiderte Syncopus: Nichts Unehrenhaftes ist mir widerfahren.
Bitte halte mich nicht für einen so schäbigen Menschen!
Mein Herz ist in der Tat nicht so liederlich,
Dass es sich in derart hässlichen Makeln verstrickte.
Aber weil Du fragst, warum mir das Geschlechtsteil abgeschnitten wurde:
Damit du nicht auf anderes hoffst, will ich es Dir kurz erklären:
Aufgeblasen von der Kenntnis in der Sprachkunst war ich.
Von Geistesgaben floss ich über, doch reich an Schätzen war ich nicht.
So brannte es unaufhörlich in meiner Brust:
"Was sollst du tun? Du hast ja keinen Reichtum,
aus dem dir der geringste Vorteil erwachsen könnte!
Wenn du Geld hast, dann giltst du allzeit als ehrenwerter Mann!
Keine Ehre erwirbst du als armer Schlucker, kein Freund steht dir bei in der Not. Wenn Gold fehlt, findet keine Wissenschaft Anklang!
Siehst du nicht, wie die Galli, die fetten Hekate-Priester einhergehen,
welche Mäntel und Kleider aus Seide sie tragen?
Ihre Arme behängen sie mit Gold und teuren Edelsteinen,
Hosen aus Purpur umgeben ihre Beine.
An den Füßen tragen sie vergoldete Sandalen und auf dem Haupt die Mitra.
Du siehst, dass ihre Häuser hohen Türmen gleichen.
Ihre Scheunen quellen über vom Getreide, ihre Keller vom Falerner Wein,
und in ihren Schreinen horten sie vielerlei Schätze.

In einem Seitenhieb auf die Bigotterie und Leibfeindlichkeit seiner Zeit lässt Rudolf Tortarius Syncopus nun groteskerweise eine Selbstkastration vollziehen. Dies qualifiziere ihn dazu, in die Priesterkaste aufzusteigen. Dabei bewegen den Helden der Geschichte nicht etwa religiöse Motive wie einst den Kirchenlehrer Origenes, sondern vornehmlich die Hoffnung auf Reichtum und Einfluss.[34] Syncopus greift zum Schwert und vollzieht den grausigen Akt in aller Heimlichkeit. Bei Peter Abaelard hatte im Gegensatz zu Syncopus natürlich keine Selbstentmannung vorgelegen. Aber in der nachfolgenden Schilderung des Herzschmerzes, des reichlichen Besuchs hoher Würdenträger und der Aufnahme in die Priesterschaft finden sich Topoi, die in frappierender Analogie auch in der Historia Calamitatum auftauchen: Auch Peter Abaelard schmerzte nach der Tat das Herz mehr als die Wunde selbst, auch er schilderte das Mitgefühl der hochrangigen Kanoniker von Paris und fand schließlich die Aufnahme in die Priesterkaste: Nach seiner Konversion zum Mönch und seinem Eintritt im Königskloster Saint-Denis erhielt er dort die Priesterweihe.

 

97

Si fierem similis, quirem mox hec adipisci,
Obstant his soli, res vaga, testiculi; [35]
Nam disciplinae cum sim gnarus mediocris,
Etsi non summus flamen, [36] honestus ero.
Attritu cotis gladium, sed corde trementi,
Nam rubigo vetus roserat, exacuo,
Et penetrans caeci secreta silentia tecti,
Uno dissecui vulnere membra michi;
Ingens afflixit dolor hinc confinia cordis, [37]
Cordis defectus vulnera subsequitur.
Centurias Magnae Matris [38] non haec latuere,
Gallorum turmis visitor assidue,
Submittunt qui me collegia praemonuere,
Quod sua ditarer opido si sequerer;
Nil magis obtabam, concessi, sanior, inquam,
Vobis coniungar flamen et efficiar.

 

Wenn ich ihnen ähnlich würde, so könnte ich in Bälde dies erlangen.
Das einzige Hindernis - welch unstet Ding - sind meine Hoden.
Da ich in der Lehre nur mittelmäßige Kenntnisse habe,
werde ich vielleicht kein Oberpriester, doch immerhin ein Ehrenmann!"
So wetzte ich, zitternden Herzens zwar, mit dem Stein
das Schwert, das längst der Rost zerfressen hatte,
verzog mich in einen stillen Winkel des blinden Hauses
und schnitt mir mit einem Streich die Geschlechtsteile ab.
Ein ungeheurer Schmerz fuhr mir hierauf ums Herz.
Die Herzensschwäche folgte der Verwundung.
Den Zenturien der "Großen Mutter" blieb all dies nicht verborgen.
Die Schar der "Gallier" besuchte mich fleißig.
Sie schicken Leute ihrer Zunft, die mich daran erinnerten,
dass ich reich entschädigt würde, wenn dem Ihren ich nun folgte.
"Nichts lieber als das," gestand ich. "Nach der Gesundung
werde ich zu Euch stoßen und Priester werden!"

Syncopus schildert nun, wie er in Ehren in der Priesterschaft aufgenommen wird und in die höchsten Ränge aufsteigt. In kürzester Zeit erwirbt er nun Reichtum und Wohlstand. Die Beziehung zu einem Priester namens Brochus verschafft ihm den zweiten Rang in der Kirchenhierarchie. Auf welche Persönlichkeit hier Rudolf Tortarius anspielt, bleibt unklar.

 

113

Mox ubi convalui sacris adsisto choreis, [39]
Consecror et tactus unguine flamineo;
Summi pontificis circumdabat infula Brochum [40]
Unicus affectus quem mihi nexuerat;
Ritus sacrorum didici moresque deorum,
Vellet quisque sibi quae rata liba dari:
Aprum Telluri [41] sed caprum caede Lieo, [42]
Iunoni [43] vitulam daque Iovi vitulum,
Agnam Thetis [44] amat, Venus [45] at sine felle columbam,
Infernus taurum tergore Pluto [46] nigrum;
Orgia Saturni [47] scio quae sint orgia Martis, [48]
Divae cultus Opis [49] sed mihi plus placuit;
Admoveor sacris instructus in omnibus aris,
Brochi pontificis religione minor;
Exhibeor talis qui deberem venerari,
Plebibus acceptus carus et imperio.
Delectabilium succrescunt plurima rerum,
Vulgi mirantis summa per ora feror;
Dives agris, dives positis in faenore nummis,
Dives vernaclis, dives eram pecore.

 

Sobald ich genesen war, nahm man mich in die heiligen Chöre auf:
So wurde ich geweiht und zum Priester gesalbt.
Die Binde des höchsten Priesters zierte den Brochus;
eine einzigartige Zuneigung hatte ihn mit mir verbunden.
Die Heiligen Riten und Sitten der Götter lernte ich nun,
von denen jeder eine angemessene Opfergabe will:
Der Tellus schlachte einen Eber, einen Ziegenbock dem lyäischen Bacchus,
der Juno bringe ein weibliches und dem Jupiter ein männliches Kalb!
Ein Milchlamm liebt die Thetis, doch Venus eine Taube ohne Galle,
Der infernalische Pluto möchte den schwarzrückigen Stier.
Ich kenne die Saturnalien, die Orgien des Mars;
mehr jedoch gefiel mir der Kult der göttlichen Ops.
In all dem unterrichtet, erlaubte man mir den Zutritt zu den heiligen Altären,
obwohl ich der Frömmigkeit des Priesters Brochus nicht gleichkam.
Ich erwies mich als ein Mann, den Verehrung verdient,
vom Volk angenommen, doch auch der Herrschaft lieb.
Daraus erwuchs mir eine Vielzahl an Annehmlichkeiten.
Ich war nun in aller Munde, die Leute staunten über mich.
Reich an Ländereien war ich, reich an Geld, das Zinsen trug,
reich an Hausgesinde und an Vieh.

Mit dem Reichtum kommen auch zahlreiche Gäste in Syncopus' Palast. Rudolf spielt in dieser Szene motivisch auf die Odyssee Homers an, in der die anspruchsvollen und dreisten Freier den Palast Penelopes in Abwesenheit des Odysseus belagerten. Der Hausherr Syncopus hat inzwischen aus seinen abgeschnittenen Hoden eine Art von Reliquie fabriziert: Nachdem er sie in einem Opferfeuer verbrannt und  das Häuflein Asche geborgen hatte, vermengte er zur Tarnung diese mit geriebenem Pfeffer, welcher zur damaligen Zeit ein wertvolles Gewürz darstellte, und bewahrte das Pulver in einer Schatulle auf.

 

133 Sed tibi si multas consultus colligis escas,
Quos ex his plures non deerunt sacies:
Obsideor per continues hinc hospite soles,
Aedibus a nostris non redit esuriens ;
Incidit aversis discrimen ob id mihi fatis
Omni dum nostrum panditur hospitium.
Denique confitear quia, quae mea membra peremi,
In cinerem verti seposuique domi, [50]
Et piperi trito miscens aurum quasi servo:
Nemo mei sacri conscius huius erat;
Me quoque legitime non rebar posse litare,
Ni mecum gererem dum sacra perficerem:
Totum tantillo credebam pulvere salvo,
Meror erat nullus dampna tulisse prius.

 

Aber wenn du dir wohlbedacht viele Speisen sammelst,
so mangelt es dir nicht an Leuten, die du damit sättigen musst.
So wurde ich eine ganze Reihe von Tagen von Gästen belagert,
und sie verließen nicht mein Haus, ehe nicht ihr Durst gestillt war.
Da wandte sich das Glück von mir ab und brachte mich in eine schlimme Lage, noch während ich allen meine Gastfreundschaft erwies.
Dies ist ein Geständnis: Ich hatte meine Geschlechtsteile, die ich beseitigt hatte, zu Asche verbrannt und fest daheim verschlossen.
Ich vermengte sie mit geriebenem Pfeffer und verwahrte sie wie Gold.
Es gab keinen Mitwisser bei dieser Opferhandlung.
Auch glaubte ich, nicht ordnungsgemäß opfern zu können,
wenn ich nicht die Reliquie beim Gottesdienst mit mir führte.
Ich glaube fest daran, unbeschadet der winzigen Menge Pulvers.
Über meinen vorherigen Schaden war ich keineswegs traurig.

 

Aus welchem Fundus Rudolf die Groteske entlehnt, dass die abgeschnittenen Geschlechtsteile in Abwesenheit des Kastraten von den ahnungslosen Gästen verspeist werden, entzieht sich unserer Kenntnis. Vielleicht bezieht er sich motivisch auf die Tantalidensage, die den Verzehr von Menschenfleisch als einen schlimmen Götterfrevel darstellt: Pelops war von seinem Vater Tantalos geschlachtet und den Göttern zum Mahl vorgesetzt worden, um deren Allwissenheit zu prüfen. Die ungeheuerliche Schandtat wurde durchschaut und durch einen Fluch gerächt.

 

147 Ergo felici prolapsu dum rota currit,
Invida fortunam fata tulere bonam,
Hora gentandi venere domum michi noti,
Nam sic consuerant, tunc ego sed deeram;
Procundus lautas illis meus apparat escas
Multarum dominus tempore quo fueram.
Heu mihi, qui volui mea probra tibi reserari,
Propalabis enim pluribus illa vagis!
Heu sors dura! piper nequaquam habuisse minister
Hac vice condiret dicitur unde cibos,
Sumere fas epulas nec erat sic illecebrosas,
Ni cum rugoso praepositas pipere.
Sedulus ergo puer vicinos pervolat omnes,
Tedet convivas quod facit ille moras,
Qui mussant latet hac forsan quod quaerimus archa
Indice monstrantes interius positam.
Quo pudor, heu, quo fas, quo iusta licentia fugit!
Heu stolidi temerant iura statuta patrum!
Archellam frangunt sacros cineresque revellunt,
Quos tritum credunt esse piper fatui;
Inde popinatos condire cibos properarunt,
Talibus et laeti se recreant epulis,
Unde saginati nostro redeunt genitali,
Commisisse scelus nescit eques reprobus.

 

Noch während sich das Glücksrad in vollem Lauf drehte,
entreißt das missgünstige Verhängnis alles Glück:
Zur Plauderstunde kamen einige Bekannte in mein Haus,
so, wie sie es gewohnt waren; doch leider war ich nicht daheim.
Mein Diener richtete ihnen ein feines Essen.
Denn zu meinen Herrenzeiten war der Tisch immer reich deckt.
Ach wie konnte ich Dir meine Schande nur eröffnen,
Du wirst es vielleicht überall herumerzählen!
Ach, welch hartes Los! Meinem Diener ging der Pfeffer aus,
mit den er die Speisen hatte würzen wollen.
Dabei war es weder richtig, so verführerische Gerichte zu verwenden,
noch sie mit getrocknetem Pfeffer vorzusetzen.
Im Übereifer lief der Knabe zu allen Nachbarn
derweilen es die Gäste verdross, dass er sie solange warten ließ.
Sie murrten: "Ist vielleicht in diesem Kästchen verborgen, was wir suchen?"
Sie klopften mit dem Finger und fanden, dass etwas drinnen war.
Wohin hat sich die Scham, das Recht, das Augenmaß verzogen!
Ach, diese Tölpel, sie schändeten das Recht und das Gesetz der Väter!
Sie brachen das Kästchen auf und kippten die Asche heraus.
Die Trottel glaubten, es sei gestoßener Pfeffer.
Sogleich machten sie sich daran, die feinen Speisen damit zu würzen;
und ließen sich diese vergnügt schmecken.
Von meinem Genitale gemästet, kehrten sie schließlich heim.
Dass er ein Verbrechen begangen hat, weiß ein schlechter Ritter nicht!

 

Als Syncopus von seiner Reise zurückkehrt, entdeckt er den schlimmen Schaden. Besinnungslos von Wut und Schmerz, sieht er die Wucht eines unbarmherzigen Schicksals auf sich herniedersausen. Er versinkt in tiefer Depression. Zerknirscht erhebt er sein schier endloses Klagelied, dessen Motive der antiken Mythologie entlehnt sind. Vergebens zerbricht er sich den Kopf, welchem Verstoß gegen die Götter er sein Los zu verdanken habe.

 

171

Post biduum redeo, dolet infortunia nemo,
Necdum cognoram quae mihi contigerant;
At disiecta meae custodia praenotat archae
Detrimenta novae tristia mesticiae;
Thecae dum rimas perscrutor, rimor opaca,
Forte resignaret si michi depositum,
Cernentes nostri me percunctantur alunni:
Num casu piperis sollicitaris, here?
Inprudens claustris archae conviva revulsis,
Altilium pingues condiit inde dapes.
Auribus haec hausi postquam, sine mente remansi,
Viribus elapsis exanimis cecidi;
Cum fletu largo privatus pignore caro,
Merens vociferor, o Ops, ecquid ago?
Dii conferte boni, per quae vos crimina lesi?
Votane persolvi, dignane liba dedi?
Libavi vestris inpurus forsitan aris,
Inspexi fibras ventre satur pecudum?
Non est legitimo fortassis victima caesa
Ordine, Sabaeum thus [51] neque propositum?
Nescius a superis Stigios secludere divis,
Haud Stiga secrevi Ditis [52] ab aethre Iovis?
Nec sacra distinxi statuit quaecumque vetustas
Manes [53] a larvis abfore pauca ratus?
Forsan metiris quae tempora, secla vel annos,
Frigus et autunnum caumaque verque novum
Inprobus ascripsi, vates o Phebe, [54] sorori,
Quosque regit menses Cinthia [55] clara, tibi,
Ipsius incessus, tempestivos maris estus,
Nimbos atque nives, aera perspicuum,
Corpora quae furtim crescens animata subimplet,
Deficiens eadem non minus extenuans?
Sidus Saturni iocundum forte vocavi,
Difficilemque Iovis atque gravem Veneris?
A me vestra tenax est si mutata potestas,
O dii, defitiam nec merear veniam:
Non est a nobis si quae veneratio vobis,
Debuit attribui more repensa suo;
Ergo si decuit qualem me iugiter egi,
Si non offendi, si bene vos colui,
Cur genitale meum clepsit vobis latro sacrum,
Gluttivit nebulo cur genitale meum?
Heu, fortuna, tuae quam sunt vires violentae!
Opprimis, heu casus, quam subito miseros!
Heu, heu, quam dubium regit orbis climata fatum!
Orbis habet nullum sed mage remigium.

 

Zwei Tage später kehrte ich nachhause zurück. Niemanden schmerzte das Ungemach! Zunächst hatte ich noch nicht erfasst, was mir widerfahren war.
Doch mit wachem Auge sah ich alsbald, dass mein Kästchen aufgebrochen war! Welch trauriger Schaden, welcher Anlass zu neuer Gram!
Indem ich jede Ritze der Schachtel nun durchsuchte, spürte ich nur Schattenbildern nach, als ob sie mir das Hinterlegte etwa zurückerstatten könnte. Als meine Schüler dieses sahen, forschten sie mich aus:
"Sorgst Du Dich wohl wegen des Pfeffers, Herr?
Ein unkluger Gast hat das Kistenschloss aufgebrochen
und mit dem Inhalt das üppige Hühnermahl gewürzt!"
Nachdem ich dieses mit den Ohren aufgesogen hatte, blieb ich besinnungslos zurück. Es verließen mich die Kräfte; bewusstlos sank ich hin. 
Die Augen voller Tränen schrie ich, des teuren Unterpfands beraubt,
voll Trauer auf: "Oh Ops, soll soll ich tun?
Sagt mir, oh gute Götter, durch welche Verbrechen habe ich euch beleidigt?
Habe ich nicht mein Gelübde gehalten, euch unwürdige Opfer gebracht?
Habe ich an euren Altären vielleicht unrein den Gottesdienst versehen?
Habe ich die Eingeweide des Viehs mit vollem Bauch geschaut?
Habe ich vielleicht das Opfertier nicht nach Recht und Ordnung geschlachtet,
oder vergessen, den Sabäischen Weihrauch darzureichen?
Habe ich unwissentlich den stygischen Jupiter aus dem Götterhimmel ausgesperrt, nicht den stygischen Dis vom Äther Jupiters getrennt?
Habe ich nicht all die Opfer beachtet, die festgelegt sind seit grauer Vorzeit?
Meinte ich, die Manen unterschieden sich wenig von den Gespenstern?
Vielleicht bemisst Du, welche Zeiten, Jahrhunderte oder Jahre,
Winter oder Herbst, Sommer oder Frühjahr, ich unredlich,
oh seherischer Phöbus, deinem Schwesterbild zugeschrieben habe.
Denn alle Monate lenkt die helle Cynthia für dich,
deren Fortschreiten auch, die stürmische Brandung des Meeres;
auch Wolken und Schnee, die durchsichtige Luft,
nicht zuletzt die Lebewesen, die sie bei zunehmender Sichel verstohlen befruchtet, und bei Neumond umso mehr entkräftet?
Habe ich vielleicht das liebliche Gestirn des Saturn gerufen, das unzugängliche des Jupiter oder das gewaltige der Venus?
Wenn sich eure dauernde Macht von mir abgewandt hat, oh Götter,
werde ich ermatten und der Verzeihung nicht würdig sein:
Es kommt nicht von mir, wenn die Ehrerbietung,
die euch zuteil werden musste, auf eigene Art vergolten wurde.
Wenn es geziemend war, wie ich mich ständig euch erwies,
wenn ich euch kein Anstoß war, sondern euch recht verehrte,
warum stahl dann ein Räuber das euch geweihte Geschlechtsteil?
Warum hat ein Schurke mein Genitale verschluckt?
Ach, Unglück, wie gewaltsam sind deine Kräfte!
Wie plötzlich, Schicksalsschlag, triffst du die Elenden!
Weh und Ach! Welche zweifelhaftes Los beherrscht die Welt!
Der Erdkreis hat nun kein Ruder mehr!"

 

Es schließt sich eine lärmende Anklage gegen die untreue Dienerschaft an. Dieses hat mit seinem Übereifer das Unglück herbeigeführt und streut nun zu allem Überdruss durch seine Schwatzhaftigkeit auch noch Gerüchte unter das Volk. Es ist hier von den weitläufigen Plätzen der Stadt die Rede, auf denen getuschelt wird. Erneut mag Rudolf Tortarius bei dieser Anspielung die Metropole Paris vor Augen geschwebt haben. Nach den Gerüchten kann es nicht ausbleiben, dass Syncopus tief stürzt und Rang und Namen verliert. Die Priesterschaft, die ihn zuvor bei sich aufgenommen hat, stößt ihn nun erbarmungslos wieder aus. Die Wut der frevlerischen Gäste, die mit der der Erinnyen verglichen wird, treibt Syncopus letztendlich zur Flucht: Er fürchtet um sein Leben; es droht die Lynchjustiz.

 

217

Talia dementans querula cum voce profarer,
Aures servorum nec caveo bibulas ;
Adstant attoniti mirantes dicta patroni,
Seque diu versis vultibus aspitiunt.
O genus ingratum servi, genus ore prophanum,
Plenum rimarum, fraudibus expositum!
Atria progressi mussant altrinsecus illi,
Quae sunt quae dominus verba pape! loquitur?
Forsan condivit sibi quod genitale recidit,
Igni combussit, miscuit et piperi.
Numquid non cineri mixtum piper esse notasti?
Rebar ego stolidus sic senuisse piper;
Pro muria nostris infertur mentula mensis,
Carnes intinxi carnibus in domini.
Urbis per latas haec dispersere plateas,
Rumor et hic vicos ruraque longa replet.
Foeda sacerdotum replet aures fama spadonum,
Quorum mox holidis amoveor choreis,
Arceor a phanis, vetor appropiare sacellis, [56]
Sacraque si tangam liba prophana putant,
Obruor et spurcis inflate gutture sputis,
Inque meum nomen flegmatis imber adest.
Edicto statuunt ne quis me colligat urbe,
Et quae contulerant omnia surripiunt,
Nec cessat tetrum subnectere tristia fatum,
Accumulans dictis deteriora malis ;
Pessima quippe volat velotior alite fama,
Vulgaturque malum promtius a populis.
Denique, commissae fuerant qui fraudis iniquae
In me signiferi nobilibus geniti,
Nequaquam obprobium poterant tolerare malignum,
Qui mihi fatales glutierant cineres;
Hii biberant omnem furia potante furorem,
Aspirarat eos ut puto Thesiphone. [57]
Perlustrant igitur lucos, loca devia, saltus,
Urbes atque agros, ruraque seu frutices,
Cruribus effractis mihi qui manibusque recisis
Invento linguam detraherent opicam.

 

Obwohl ich fast verrückt vor Schmerz dies Klagelied anstimmte,
verschaffte ich mir dennoch bei den neugierigen Dienern kein Gehör.
Verdutzt standen sie herum und staunten über die Sprüche ihres Herrn.
Lange starrten sie sich gegenseitig an.
Oh undankbares Dienerpack, oh Lästermäuler,
voller Risse und Spalten, jedem Betrug zugänglich!
Sie gingen auf die Vorplätze hinaus und tuschelten dort weiter:
"Was sollen potztausend die Worte bedeuten, die der Herr da spricht?
Hat er vielleicht, um Würze zu bereiten, sich das Genitale abgeschnitten,
im Feuer verbrannt und dem Pfeffer zugemischt?
Hast Du etwa nicht bemerkt, dass der Pfeffer mit Asche gemischt war?"
"Ich Tölpel glaubte, der Pfeffer sei nur alt gewesen!
An Stelle einer Salzlake bringt man seinen Penis auf unseren Tisch,
Ins Fleisch des Herrn habe ich das Fleisch getaucht!"
Diese Sprüche verbreiteten sich in Windeseile auf den weiten Plätzen der Stadt.
Doch auch die Dörfer und das weite Land erfüllte dies Gerücht.
Alsbald klang die scheußliche Kunde auch in den Ohren der Eunuchenpriester,
aus deren stickigen Chören ich nun kurzum ausgestoßen wurde.
Die Tempel wurden mir verwehrt, von den Opferstätten hielt man mich ab.
Wenn ich Heiligtümer berührte, so hielten sie dies für eine Gotteslästerung.
Man bespuckte mich jetzt unflätig und aus vollem Halse.
Sprach einer meinen Namen aus, schon regnete es Schleim hernieder.
Es erging schließlich ein Verbot in der Stadt, mich aufzunehmen.
Und alles, was man mir zuvor gebracht hatte, entriss man mir nun wieder.
Das schlimme Los ließ unverzüglich noch schlimmere Trauer
dem Haufen schlechter Sprüche folgen.
Das böseste Gerücht fliegt freilich allzu schnell,
das Übel wird vom Volk nur allzu gern herumgetragen!
Schließlich konnten auch die Rädelsführer aus dem Adel,
den schlimmen Vorwurf unbilligen Betrugs,
den sie an mir begangen, in keiner Weise mehr ertragen:
Die meine verhängnisvolle Asche verschlungen hatten,
sie hatten auch all die Wut aufgesogen, da doch die Furie ein Zecher ist.
Thesiphone selbst hatte sie - wie ich meine - angehaucht!
Also durchstreiften sie die Wälder, Schlupfwinkel und Schluchten,
die Städte und Felder, das Land und die Büsche,
um mir, wenn sie mich fänden, die Beine zu brechen,
die Hände abzuschlagen und die rohe Zunge herauszuziehen.

 

Syncopus schildert, wie er nach langer Flucht endlich zu seinem neuen Herr Philirus, dem Ehemann der schönen Flora, gelangte. Indem er von nun an die Bewachung dieser begehrten Frau übernahm, fand er in dessen Haushalt eine neue Bleibe und Aufgabe. Syncopus schließt nun seinerseits mit einem Appell an seinen fiktiven Gesprächspartner Rudolf, den er Zephyrinus, wohl „Sohn der Eifersucht," nennt: Er möge dieses traurige Geschichte, falls er sie weiter zu erzählen gedenke, wenigstens wahrheitsgetreu berichten. Damit endet das Briefgedicht.

 

255 Quos ubi persensi me perdere velle, refugi,
Liqui vero meum cum patria genium,
Prolixaque via percurri milia multa,
Ad Floraeque virum pervenio Philirum, [58]
Vidit ut inberbem me, percunctatur an essem
Integer, obduxit pallidus ora pudor,
Adsum servitio, dixi, vir maxime, vestro:
Quis sim vel qualis quaerere nolo velis .
Esto comes Florae, respondit vir vafer ille,
Sic fies nostra dignus amicicia.
Laetus oboedivi verbis iocunda monentis,
Obsequor et Florae, spernar amando licet.
En, Zephirine, [59] tibi serie tenus omnia pandi,
Qualiter et quare dux habear dominae;
Tu ne nostra velis archana recludere cunctis,
Falsaque ne veris, obsecro, miscueris ;
Est horum testis notus iam carmine Pseustis, [60]
Si percuncteris, proferet ille tibi.
Als ich begriff, dass sie mich verderben wollten, ergriff ich die Flucht.
Doch mit der Heimat ließ ich auch meinen Genius zurück,
auf meinem langem Weg durchlief ich viele Meilen,
bis schließlich ich zu Philirus, Floras Gemahl, gelang.
Als er mich bartlosen Eunuchen sah, befragte er mich,
ob ich unbescholten sei. Voller Scham erbleichte ich.
So sprach ich denn: "Ich steh zu Deinen Diensten, hoher Mann,
doch frage bitte nicht, wer ich bin und welch ein Mann."
"Du sollst meiner Flora Begleiter sein," erwiderte der verschmitzte Mann.
"So wirst Du meiner Freundschaft würdig dich erweisen!"
Mit Freunden kam ich nun den gefälligen Ermahnungen des Mannes nach.
Flora bin ich jetzt zu Diensten, deren Liebe für mich Tabu ist.
Nun, Zephyrinus, bis hierhin habe ich Dir alles ernsthaft eröffnet,
wie und wodurch ich zu meiner Rolle als Führer dieser Herrin kam.
Du musst nun nicht mein Geheimnis vor allen verschließen,
doch - so beschwöre ich Dich - vermische mir nicht Wahres mit Falschem!
Pseustis, bekannt schon durch sein Lied, ist dafür der beste Gewährsmann.
Wenn Du ihn darum bittest, wird er Dir von Nutzen sein.

Resümee

Die Epistola ad Syncopum enthält alle Elemente mittelalterlicher Erbauungs- und Ergötzungsliteratur, die nötig sind, um dem intellektuelle Zielpublikum in den Klaustren und Höfen angenehme Unterhaltung und Kurzweil zu verschaffen. Allerdings stellte das Werk an seine Leser einige Ansprüche: Neben der Kenntnis der lateinischen Sprache erforderte es einiges Wissen in der griechischen und römischen Mythologie. Durch die enthaltenen Zeitbezüge bot es zusätzlich Zündstoff für lebhafte Diskussionen. Wenn Rudolf in diesem dichterischen Dialog Zeitkritik übte, so tat er dies jedoch nur verdeckt: Er verwob die verschiedene Charaktere und Situationen motivisch derart geschickt, dass er als Autor nie seine unverfängliche Position aufgab und dem Leserpublikum allenfalls Anreiz zur Spekulation über seine Intentionen gab, ohne diese vollständig zu verraten. So bekannte sich zum Beispiel Rudolf, nachdem er noch kurz zuvor über die Fallstricke der geschlechtlichen Liebe sinniert hatte,  plötzlich im Brustton der Überzeugung zur Kirche als der mystischen Braut Gottes und schilderte seine "Flora" - hier als Wortspiel zu seinem Konvent Fleury - als universell, gottgefällig und rein, um wenig später in umso sarkastischeren Tönen die „geheiligten Hallen“ der Kirchenführung zu erschüttern, indem er die Scheinheiligkeit und Gewinnsucht der französischen Prälaten an den Pranger stellte. Im ironischen, manchmal frivolem Unterton trug der Dichter seine Anliegen vor und verbrämte sie mit der Vorstellungswelt der antiken Mythologie. Bei anrüchigen oder Anstoß erregenden Passagen, z. B. bei der Schilderung der Selbstmutilation oder der Verspeisung der Genitalien, unterstrich er durch groteske Überzeichnung den fiktiven Charakter des Erzählstücks und konterkarierte dabei geschickt den Vorwurf blasphemischer oder obszöner Gedanken. Ohne Zweifel müssen derartige Schauergeschichtchen zur Belustigung  des Publikums beigetragen haben. Wenn Rudolf den Typus des begabten, aber brotlosen Grammatikers entwarf, übte er vielleicht sogar Selbstironie: Schließlich hatte er sich vor seiner Konversion in dieser Kunst bemüht und er kannte vermutlich die Bedingungen des Lehrbetrieb nur allzu gut. In  der skurrilen Idee, der ehrgeizige Wissenschaftler müsse um des angestrebten gesellschaftlichen Aufstiegs willen den Status eines Eunuchen einnehmen und seine Genitalien opfern, spottete Rudolf Tortarius nicht nur über die Leibfeindlichkeit des kirchlichen Establishments als solches, sondern erinnerte vielleicht an einen zeitgeschichtlichen Skandal: Gemeint ist die Zwangskastration Peter Abaelards wegen seiner Affäre mit Heloïsa. Es finden sich in der Beschreibung der Kastrationsfolgen auffallende Parallelen zur Befindlichkeit Abaelards, wie dieser sie später in der Historia Calamitatum beschrieb. Das Attentat auf Abaelard wird zu Zeit Rudolfs in aller Munde gewesen zu sein - auch in der Loire-Region, in der er wirkte und schrieb. Im Übrigen pflegte der Mönch aus Fleury  nachweislich Kontakte zu Bischof Galon von Paris, den er anlässlich der Bestattung König Philipps I. in seinem Konvent persönlich kennengelernt hatte. Es ist schon ein merkwürdiger Kontrast, wenn nun Rudolf in der Ode an Syncopus, gerade die kirchlichen Feudalherren, denen notabene der von ihm verehrte Galon angehörte, persiflierte. Dass Rudolf über Abaelard oder den Pariser Domherrn Fulbert und sein Mündel Heloïsa Bescheid wusste, liegt jedenfalls auf der Hand, auch wenn das Gedicht außer einigen Andeutungen dafür keine schlüssigen Beweise liefert. Die Selbstkastrierung als solches hat mit Abaelard allerdings nichts zu tun, war jedoch unter den Klerikern zu der Zeit, in der das Gedicht geschrieben wurde, keine Rarität. Das kanonische Recht, wie es z. B. das  Panormia Ivos von Chartres schilderte, verfügte sogar über Regelungen, wie mit Klerikern zu verfahren sei, die sich selbstverstümmelt hatten. Unabhängig von der Frage, ob in dem elegischen Fabliau des Rudolf Tortarius Bezüge zur Geschichte Abaelards enthalten sind, belegt das Gedicht auf jeden Fall, dass zur damaligen Zeit das Kastrationsthema literarisches Interesse genoss. Daneben erlaubt es interessante Seitenblicke auf die Art der Antikenrezeption und auf das Spannungsfeld zwischen Katheder und Kanzel in der Franzia des 12. Jahrhunderts. 

Fußnoten

[1] E. de Certain: Les miracles de Saint-Benoît, 1858, S. 357.

[2] J. Mabillon und die Autoren der Histoire littéraire vermuteten, dass Rudolfs Beiname aus dem lat. Toponym Torta, fr. la Torte, entstanden sei. Siehe M. Paulin: Histoire littéraire, Paris 1868, Bd. 10, S. 85, 92.

[3]  Die Wunder des heiligen Benedikt sind enthalten in den Manuskripten Vat. Reg. 302 und Aurel. Bibl. 323. Die Passio und die Hymne finden sich auch in MS Paris BN lat. 12606, Teile davon in MS Vat. Reg. 592. Abschnitte der Passion und des Wunderbuches sind in MS Orléans, BM 490, enthalten.

[4] M.B. Ogle, D.M. Schullian: Rodulfi Tortarii Carmina, Rom 1933, Introduction, XXXVI.

[5] Er hätte demnach um die 80 Jahre sein müssen. Siehe auch: J. Mabillon: Annales Ordinis Sancti Benedicti, Paris 1739, Bd. 6, S. 383f.

[6] Siehe M. Paulin: Histoire littéraire, a.a.O., Seite 86.

[7] Siehe z. B. die Arbeiten von Cuissard und Certain: E. de Certain: Bibliothèque de l'école des Chartes  37, 1855, Bd. 1, Chartes 506ff., und: Les miracles de Saint Benoît, écrits par Adrevald Aimoin, André, Raoul Tortaire et Hughes de Saint Marie, moines de Fleury, in: Société de l'histoire de France, Paris 1858, sowie: M. Ch. Cuissard: Documents inédits sur Abélard, tirés des manuscrits de Fleury, conservés à la Bibliothèque Publique d'Orléans, Orléans 1880, Manuskript aus der Bibliothèque de l'école des Chartres, IV série, I. Auch: F. Bar: Les epitres latines de Raoul le Tourtier: étude de sources... , Paris 1937.

[8]  M.B. Ogle, D.M. Schullian: Rodulfi Tortarii Carmina, Rom 1933.

[9] Syncopus: Entmannter Held der Geschichte. Der Name ist entlehnt vom griechischen synkopto, d. h. ich schlage zusammen. Es handelt sich hier möglicherweise um ein Wortspiel zusammen mit Periphras (siehe hierzu weiter unten). Synkope und Periphrase sind Stilmittel der antiken Dichtkunst. Dabei bedeutet Synkope die Verkürzung eines drei- oder mehrsilbigen Wortes durch Elision des kurzen Vokals einer Mittelsilbe. Dem neu entstandenen Wort fehlt also ein ursprünglich zu ihm Gehöriges, so wie dem Helden der Geschichte auch, in seinem Fall das Geschlechtsteil. Hier findet sich eine erste Entsprechung zur Geschichte Abaelards. Abaelards früherer Lehrer und späterer Intimfeind Roscelin von Compiègne äußerte sich über den entmannten Abaelard in einer ähnlichen Anspielung: „Neque enim ablato tecto vel pariete domus, sed imperfecta domus vocabitur. Sublata igitur parte, quae hominem facit, non Petrus, sed imperfectus Petrus appellandus es... - Denn wenn man einem Haus das Dach oder eine Wand wegnimmt, dann nennt man das nicht Haus, sondern unvollständiges Haus. Wenn also dir das Körperteil, das einen Mann ausmacht, weggenommen wurde, dann darf man dich nicht Peter, sondern nur unvollständiger Peter nennen....“ Brief des Roscelin von Compiègne an Abaelard, in: PL Band 178, Spalte 371f. Ob Rudolf Tortarius Roscelins Streitschrift kannte, ist unbekannt.

[10] Flora: Sabinische Göttin der Blumen und der Jugend. Auf dem Quirinal hatte sie ein altes Sacellum, seit 238 v. Chr. auch einen Tempel in Rom. Ihr ausgelassenes Fest der Floralien fand Ende April bis Anfang Mai statt. Rudolf Tortarius setzt den Namen des Mädchens nicht nur als Synonym für Anmut und Jugend ein, sondern verwendet ihn auch im Sinn der flatterhaften Dirne, ähnlich wie ein Dichterkollege, Hugo Primas von Orléans, in zwei seiner Vagantenlieder. Siehe hierzu: K. Langosch: Die Oxforder Gedichte des Primas Hugo von Orléans, Carmen 19 und 20, in: Hymnen und Vagantenlieder, Darmstadt 1961, S. 190-195. Auch in den Carmina burana taucht motivisch die Flora auf: "Altercatio Phillidis et Flore", Carm. Bur. 92, z. B. in: Carmina Burana, ed. A. Hilka, O. Schumann, Bd. 1, 2, Heidelberg 1941, S. 94-119. Unter Umständen verwendeten die Dichter Rudolf und Hugo nicht rein topisch, sondern spielten eventuell auf eine reale Person ihrer gemeinsamen Erfahrungswelt, der Loire-Region an. Eventuell gab es dort ein mit diesem Epithet belegtes Freudenmädchen. Man weiß von ihr nur durch eine einzige zeitgenössische Textstelle: "a concanonicis suis famosae cuiusdam concubinae Flora agnomen acceperit...” Die Kanoniker des Domes Sainte-Croix in Orléans hatten dem Archidiakon und späteren Bischof von Orléans, Johannes II., den Spitznamen Flora nach diesem Freudenmädchen verliehen, weil er mit seinem Vorgänger homosexuelle Beziehungen gepflegt hatte. Daher gereichte der succubus Johannes den Kapitelmitgliedern zum allgemeinen Spott. Dennoch wurde Johannes II. aufgrund seiner Beziehungen zum Heiligen Stuhl und zum Erzbischof von Lyon am 28. Dezember 1996 zum neuen Bischof von Orléans geweiht. Siehe Brief Ivos von Chartres 66 an Hugo, den Erzbischof von Lyon, z. B. In: Gallia Christiana Band 7, S. 1443.

[11] Paris: Sohn des Trojanerkönigs Priamos. Weil ein Traum seiner Mutter Hekabe angekündigt hatte, ihr Sohn Alexander werde die Brandfackel Trojas werden, ließ ihn sein Vater Priamos im Idagebirge aussetzen. Ein Hirte rettete ihn und gab ihm den Namen Paris. Als Jüngling schlichtete Paris den Schönheitsstreit zwischen Hera, Athena und Aphrodite. Als Lohn bekam er von Aphrodite Helena, die Schönste der damaligen Welt, zur Frau. Damit nahm der Trojanische Krieg seinen Ausgang. Im vorliegenden Gedicht wird Paris vermutlich als Personifikation der Stadt Paris - urbs Parisius - eingesetzt.

[12] Acrisius oder gr. Akrisios: Sagenhafter König von Argos, Sohn des Abas und der Aglaia, Zwillingsbruder des Proitos, des Königs von Tyrins. Akrisios wurde vom Delphischen Orakel, dessen Seherin Pythia von Rudolf Tortarius in den Abschlusszeilen des ersten Gedichtabsatzes als missgünstiges altes Weib umschrieben wird,  davor gewarnt, dass ihn ein Sohn seiner Tochter Danaë einst töten würde. So versperrte er diese in einem Bronzeturm und warf den Schlüssel weg. Doch Zeus näherte sich ihr in der Gestalt eines aus dem Dach tröpfelnden Goldregens und zeugte mit ihr Perseus. Akrisios war zu feige, diesen zu töten. So versperrte er Danaë und den kleinen Perseus in eine hölzerne Kiste und ließ sie aufs offene Meer hinaus treiben. Zeus beruhigte mit Hilfe seines Bruders Poseidon das Meer; so strandete das Treibgut unbeschädigt am Strand von Seriphos. Hier wurden die Ausgesetzten von einem Fischer namens Diktys versorgt. Perseus wuchs heran und tötete die Gorgone Medusa auf Befehl des Königs Polydectes. Später kehrten Danaë und Perseus nach Argos zurück; Akrisios war zwischenzeitlich nach Larissa gegangen. Perseus nahm an den dortigen öffentlichen Spielen teil, ohne zu wissen, dass sein Großvater unter den Zuschauern weilte. Der von ihm geworfene Diskus kam aus der Bahn und fügte Akrisios eine tödliche Wunde bei, wodurch sich das Orakel erfüllte.

[13] Danaë:Tochter des Akrisios. Siehe Fußnote 12.

[14] Dass mit dieser Zehnzahl die zehn Monate des römischen Kalenders gemeint sind, ist eher unwahrscheinlich: „Greci autem Foroneo auctore a Decembri menses inchoant quos sic appellant: Apuleios Cydinios Pytios Distros Xanticus Artemesios Deseos Panemos Loos Gorpieos Hyperbetheos Dios... Romulus Romanis X menses ordinavit quorum primum Martium a Marte qui in hoc mense in frigia natus est nominavit...“ Aus Honorius Augustodunensis: Imago Mundi, Liber 2, Kap. 35, 36, in: V. Flint: Honorius Augustodunensis, Imago mundi, AHDLMA 57, Paris 1983, S. 7-153.

[15] Urbs: Zur Zeit Abaelards und Rudolfs Tortarius trug Orléans neben Paris als einzige Stadt der Krondomäne die übliche Bezeichnung urbs, d. h. Großstadt. Sie bestand schon seit der Spätantike, als der Stadt an der Loire an Stelle des keltischen Namens Cenabum der römische Name "urbs Aureliacensis" verliehen worden war.

[16] Artimises: Monatsname der griechischen Antike, in etwa unserem Mai entsprechend.

[17] Xanticus: Monatsname der griechischen Antike, in etwa unserem April entsprechend.

[18] Paeonia officinalis: Pfingstrose.

[19] Panemos: Wonnemonat, Monatsname der griechischen Antike, in etwa unserem Juli entsprechend.

[20] Jupiter: Der römische Göttervater, dem griechischen Zeus entsprechend. Er war der höchste römische und griechische Gott, entsprechend dem indoeuropäischen Himmelsgott, Vater der Götter und Menschen, Götterkönig nach dem Vorbild der menschlichen Gesellschaft, jüngster Sohn des Kronos und der Rhea, Bruder von Hera, Hades, Demeter, Poseidon und Hestia. Ursprünglich wurde er als Herr des Donners und Blitzes sowie des himmlischen Segens, von dem das Gedeihen der Feldfrucht abhängt, angesehen. Später fasste man ihn auch als den Schützer der Treue und des Rechts auf. Der ursprünglich mit ihm identische Fidius wurde ihm als eigenständiger Schwurgott im Privatleben zur Seite gestellt. Nach Hesiod soll Zeus seinen Vater Kronos entmannt haben, so wie dieser zuvor seinen Vater Uranos.

[21] Phoebus Apollo, gr. Phoibos Apollon: Sohn des Zeus und der Leto. Er wurde manchmal auch mit dem Sonnengott Helios gleichgesetzt. Als bedeutendster Orakelgott der griechischen Mythologie waren ihm viele Orakelstätten in Griechenland und Kleinasien geweiht. Er galt als Gott der Ordnung und Klarheit, des geistigen Lebens und der Künste, besonders der Musik und des Gesangs, und schließlich der Heilgunst. Als Abwehrer allen Übels standen auch Ackerbau und Viehzucht unter seinem Schutz. Der junge Phöbus soll nach der griechischen Mythologie zunächst bartlos - imberbis - gewesen sein, ehe ihm der erste Bart abgeschnitten wurde und er dabei den Beinamen Apollo bekam. An der betreffenden Stelle des Gedichts ist der Terminus "Inberbis Phoebus" wohl als Umschreibung für die nicht-geschlechtliche Liebe, caritas, eines Christenmenschen wie Rudolf Tortarius zu verstehen.

[22] Periphras: Der Name ist dem griechischen Sagenkreis um Ödipus entlehnt. Nach Pherekydes, Pausanias u.a. soll Ödipus nach der ruchlosen Ehe mit seiner Mutter Jokaste auch mit Euryganeia, Tochter des Periphras, manchmal auch Hyperphras genannt, und damit seiner leiblichen Tante, verheiratet gewesen sein. Eventuell besteht hier auch ein Wortspiel mit Begriffen der Grammatik, z. B. Synkope (siehe Fußnote 9). Die Periphrase als Stilmittel der antiken Dichtkunst umschreibt ein Bezeichnetes mit mehreren Wörtern. Sie kann die Beschreibung eines Begriffs, einer Person, eines Gegenstandes oder einer Handlung leisten. Die Periphrase wird benutzt, um Wiederholungen zu vermeiden, oder als Euphemismus, um anstößige und tabuisierte Wörter nicht aussprechen zu müssen. In letzterem Sinn mag Rudolf Tortarius den Namen eingesetzt haben.

[23] Rudolf Tortarius beschreibt hier mit recht anschaulichen Worten das Vorliegen einer geschwürigen Geschlechtskrankeheit, entweder eines weichen oder harten Schankers. Der weiche Schanker ist eine Infektion mit Hämophilus ducrey, der harte Schanker eine Infektion mit Treponema pallidum, dem Erreger der Syphilis. Beide Erkrankungen waren im Mittelalter weit verbreitet.

[24] Hier findet sich eine Analogie zur Lebensgeschichte Abaelards: Es werden die drei wichtigsten Gründe erfragt, weswegen zur damaligen Zeit ein Mann der Talionsrache der Entmannung anheim fallen konnte: Vergewaltigung, Mädchenraub, Entehrung. In gewisser Weise trafen diese drei Gründe auch im Falle Abaelards zu. Abaelard selbst hat bezeugt, dass er bisweilen mit Gewalt in Heloïsa eingedrungen sei: „Sed et te nolentem, et prout poteras reluctantem et dissuadentem, quae natura infirmior eras, saepius minis ac flagellis ad consensum trahebam. Tanto enim tibi concupiscentiae ardore copulatus eram… - auch wenn du nicht wolltest und dich wehrtest oder nach Ausflüchten suchtest, habe ich des Öfteren, obwohl du von Natur aus die Schwächere warst, dich mit Drohungen oder Schlägen willfährig gemacht. So geil und gierig war ich nach dir..." Siehe Brief Abaelards an Heloïsa, in: E. Hicks: La vie et les epistres, Pierres Abaelart et Heloys sa fame…, Paris, Genf 1991, S. 80. Des Weiteren hatte Abaelard Heloïsa wiederrechtlich entführt, bzw. entführen lassen: „Quadam itaque nocte, avunculo eius absente, sicut nos condixeramus, eam de domo avunculi furtim sustuli et in patriam meam sine mora transmisi...- eines nachts, als Fulbert außer Haus weilte, habe ich sie heimlich aus ihrem Haus, wie verabredet, entführt und unverzüglich in meine Heimat bringen lassen...“ Siehe HC, ed. E. Hicks, S. 13. Und nicht zuletzt hatte Abaelard Heloïsa die Ehre geraubt: „Tandem ego eius immoderate anxietati admodum compatiens, et de dolo quem fecerat amor tanquam de summa proditione me ipsum vehementer accusans, conveni hominem supplicando et promittendo... - zuletzt aber bekam ich selbst Mitleid mit dem maßlosen Kummer des Mannes, und wegen meiner Arglist, zu der mich Liebe getrieben hatte, klagte ich mich selbst gleichsam des Hochverrats an. So ging ich denn zu dem Menschen, bat ihn um Vergebung und bot ihm jede Entschädigung an...“ HC, ed. E. Hicks, S. 13.

[25] Turres, plateae und viridaria sind die für die Kanonikerhäuser erwähnten Attribute, wie sie sich z. B. in den zeitgenössischen Urkunden des Cartulaire Générale de Paris wiederfinden. In einem Fall ist auch der obligate Weinkeller erwähnt: cellarium. Siehe Carta Nr. 200 und andere in: Cartulaire Générale de Paris, ed. R. de Lasteyrie, Paris 1887, S. 219-220.

[26] Analogie zur Lebensgeschichte Abaelards: Passagen der Reue und Rechtfertigung finden sich auch in der Historia Calamitatum: „Quam iusto Dei iudicio in illa corporis mei portione plecterer in qua deliqueram, quam iusta proditione is quem antea prodideram vicem mihi retulisset... in tam misera me contritione positum... - wie gerecht war Gottes Strafe, die mich an dem Teil meines Körpers schlug, mit dem ich gesündigt hatte, wie gerecht war der Verrat dessen, den ich zuerst verraten hatte, wenn er mir nun Gleiches mit Gleichem vergalt... ich befand mich in elender Verzweiflung..." Siehe HC, ed. E. Hicks, Seite 18-19.

[27] Analogie zur Lebensgeschichte Abaelards: Peter Abaelard hatte am ehemaligen Lehrstuhl des Wilhelm von Champeaux u. a. Sprachlogik und Grammatik gelehrt, ehe er sich in Heloïsa verliebte. Gerade zur betreffenden Zeit dürfte sein heute verschollenes Werk Grammatica entstanden sein. Es ist auch der intellektuelle Hochmut bekannt, der ihn damals prägte: „Post paucos itaque dies, Parisius reversus, scolas mihi iamdudum destinatas atque oblatas unde primo fueram expulsus, annis aliquibus quiete possedi... Unde utriusque lectionis studio scole nostre vehementer multiplicate... Cum igitur totus in superbia atque luxuria laborarem... Superbie vero que mihi ex litterarum maxime scientia nascebatur, iuxta illud Apostoli 'scientia inflat'... - So kehrte ich denn auch nach wenigen Tagen nach Paris zurück und hatte dort den mir schon längst bestimmten und angebotenen Lehrstuhl, von dem ich zunächst vertrieben worden war, einige Jahre in Ruhe inne... die Begeisterung für meine Vorlesungen in beiden Fächern vermehrte die Zahl meiner Schüler ganz erheblich... ich nun war ganz und gar von Stolz und Sinnlichkeit befallen... vom Stolz, der meinem Wissen entstammte, denn 'Wissen bläht auf', sagt der Apostel...“ HC, ed. E. Hicks, S. 9-10.

[28] Analogie zur Lebensgeschichte Abaelards: Peter Abaelard war als sogenannter Konkanoniker des Domkapitels von Notre-Dame kein Pfründner und somit nachweislich kein betuchter Mann. Heloïsas Unterricht hatte er nahezu unentgeltlich gehalten, obwohl es ihm an Einkommen mangelte: „...egi cum predicto puelle avunculo... quatinus me in domum suam... sub quocumque procurationis precio susciperet, hanc videlicet occasionem pretendens, quod studium nostrum domestica nostre familie cura plurimum prepediret, et impensa nimia nimium me gravaret... - ich kam mit ihm überein, dass er mich um eine beliebige Aufwandsentschädigung in sein Haus aufnehmen sollte, und ich gab vor, dass die Sorge für meinen Haushalt mein Studium erheblich behindere und der Aufwand mich allzu sehr belaste...“ HC, ed. E. Hicks, Seite 10-11. Prior Fulko von Deuil bestätigte in einem Brief, dass Abaelard sein Geld verschwendet hatte: „...quidquid vere scientiae tuae venditione perorando praeter quotidianum victum et usum necessarium, sicut relatione didici, acquirere poteras in voraginem fornicariae consumptionis domergere non cessabas... - was immer du durch den Verkauf deines Wissens in deinen Vorlesungen über den täglichen Lebensunterhalt und Bedarf hinaus erwerben konntest, du hörtest nicht auf, es in den Schlund deiner Hurerei zu versenken...“ Siehe PL Band 178, Sp. 371ff.

[29] Galli: Hier und weiter unten Wortspiel mit Galli = Gallier, d.h. die Bewohner der Franzia, und Galli = Galloi, Priester der Magna Mater in Rom, die von Rudolf Tortarius mit Hekate gleichgesetzt wird. Die antiken Galli bezogen ihren Namen von einem Fluss in Kleinasien, dessen Wasser den Menschen die Sinne verwirrte und sie toll machte. Besinnungslos entmannten sich die Galli bei barbarischer Musik in ekstatisch-orgiastischen Tänzen. Der Staat verbot darum den römischen Bürgern, sich als Gallus zu betätigen. Erst seit der frühen Kaiserzeit - vermutlich seit Claudius - war es ihnen gestattet; allerdings durften sie sich nicht kastrieren. Der schaurige Ritus erinnert daran, dass der Kult der Magna Mater mit dem des Attis verbunden war. Die beiden Götter gehörten als Paar zusammen, aber Attis, selbst aus einem abgeschnittenen Geschlechtsteil gezeugt, reizte durch Untreue seine Geliebte dazu, ihn in Raserei zu versetzen, in der er sich entmannte und den Tod gab. Darum geißelten sich die Galli alljährlich am 24. März, am "Bluttag" des Gottes, und darum opferten sie ihre Männlichkeit. Wegen ersterem kann man sie auch als Vorgänger der mittelalterlichen Flagellanten ansehen. Siehe auch die Stichworte Magna Mater und Hekate weiter unten, sowie: J. Werner, H. Greiner-Mai: Lukian, Werke in drei Bänden, Weimar 1974, Bd. 3, S. 192.

[30] Hekate: Siehe auch Magna Mater, Fußnote 38. Hekate ist als große Muttergöttin eine sogenannte chthonische Göttin, wohl aus dem alten Ägypten stammend, später auch in Griechenland und im römischen Reich verehrt. Ihr Wirkungsfeld waren Himmel, Erde, Meer und Unterwelt. In Hesiods Theogonie ist ein alter Hymnos an sie eingeflossen. Als Tochter des Perseus und der Asteria gehörte sie zum Stamm der Titanen, von denen sie als einzige, auch unter der Herrschaft von Zeus, die Macht behielt. Sie war an der Suche nach der entführten Persephone beteiligt und wurde deren Gehilfin und Freundin. Man verstand sie auch als Gottheit der Unterwelt, der Finsternis und als Herrin allen Zauber- und Hexenwesens. In mondlosen Nächten soll sie mit den Seelen der Verstorbenen über die Erde geirrt sein und oft an Weggabelungen gerastet haben. Deshalb galt der Dreiweg als unheilbringender Ort. Hekates Erscheinen wurde von heulenden Hunden angekündigt. Mitunter wurde sie auch mit Apollon abgebildet und mit Artemis gleichgesetzt. Als Göttin der Magie umgaben sie zahlreiche Mysterienkulte. Noch im 11. Jahrhundert ging die Kirche mit strengen Verboten gegen das Opferunwesen bezüglich Hekates vor, denn dieser Kult blieb über Jahrhunderte im Volk verbreitet. In der Kunst wird Hekate oft dreigestaltig oder dreiköpfig und mit Schlangen, die sich um ihren Hals winden, dargestellt. Als Priester der Hekate sind im kleinasiatischen Raum Eunuchen bezeugt, die in den rein griechischen Kulten nicht vorkommen. Siehe Th. Kraus: Hekate, Studien zu Wesen und Bild der Göttin in Kleinasien und Griechenland, Heidelberg 1960, S. 31.

[31] Analogie zur Lebensgeschichte Abaelards: Auch Peter Abaelard hatte die Prunksucht der gallischen Prälaten angeprangert, z. B. in seiner Ethica: “...Doch wissen wir, dass nicht allein die Priester, sondern wahrlich auch deren Vorgesetzte, d. h. die Bischöfe, dieser Begierde frönen, wie sie ja auch den Reuenden gegenüber äußerst großzügig im Herabsetzen ihrer Strafen sind, wenn sie bei der Einweihung von Kirchen, bei Altarweihen, Segnungen von Friedhöfen oder sonstigen Feierlichkeiten, wovon sie sich reichlichen Ablass erwarten, das Volk zusammenkommen lassen; ja, bald erlassen sie allein insgeheim den dritten, bald den vierten Teil ihrer Buße, was natürlich unter dem Mantel der Nächstenliebe, in Wahrheit aber aus schändlichster Geldgier geschieht...“ Ähnliche Worte finden sich auch bei anderen kritischen Zeitgenossen, z. B. Arnold von Brescia.

[32] Mitra: Bischofsmütze, hoher, dreieckiger Hut, der aus zwei Schilden über der Stirn und dem Hinterkopf besteht. Gehörte mit Stab, Ring und Brustkreuz zu den Insignien der bischöflichen Amtsgewalt.

[33] Vinum Falernum: Berühmter Wein der römischen Antike aus Falerii. Vom 1. bis zum 4. Jahrhundert nach Christi galt der Falernerwein als der Wein der Cäsaren. Er wurde an der Grenze zwischen Latium und Kampanien an den Südhängen des Monte Massico, an der Gabelung der beiden Straßen Via Appia und Via Domicina, produziert.

[34] Zum Thema Klerus, Ehebruch und Kastration siehe auch: S. Tuchel: Kastration im Mittelalter, Düsseldorf 1998, S. 108ff.

[35] Das wohl bekannteste Beispiel eines Klerikers, der sich aus religiösen Gründen selbst kastrierte, ist der Kirchenlehrer Origenes, den auch Abaelard in seinen Werken wiederholt anerkennend zitierte. Eusebius von Caesarea schilderte das dazugehörige Kastrationsereignis. Siehe H. Kraft: Eusebius von Caesarea, Kirchengeschichte, 6,8,2, München 1967, S. 283.

[36] Flamen: Römische Bezeichnung für den Eigenpriester einer Gottheit - im Gegensatz zum sacerdos und zum pontifex: "divisque aliis alii sacerdotes, omnibus pontifices, singulis flamines sunto..." Cicero, De legibus II, 8. Aus den Gottheiten bezog der Flamen - der "Anbläser des Opferfeuers", nach lat. flare, blasen - sein Epithet, z. B. Flamen Dialis, Flamen Martialis, and Flamen Quirinalis.

[37] Analogie zur Lebensgeschichte Abaelards: „...ut multo amplius ex... compassione quam ex vulneribus lederer passione et plus erubescentiam quam plagam sentirem... - Viel mehr als die Wunde nahm mich ihr Mitleid mit, und ich empfand mehr Scham als Schmerz...“ HC, ed. E. Hicks, S 18.

[38] Kult der Magna Mater, gr. megale meter: Uralter Kult einer allmächtigen Muttergottheit, der sich wahrscheinlich von Phrygien aus in den alten Kulturen verbreitete. Wahrscheinlich der älteste aller religiösen Kulte überhaupt, schon aus der Steinzeit stammend. Später oft mit Kybele, Hekate, Rhea, Diana und anderen weiblichen Gottheiten gleichgesetzt. Bei Rudolf Tortarius vermutlich Synonym der Hekate (siehe oben, Fußnote 30). Als Priester der Magna Mater sind bereits im kleinasiatischen Raum Eunuchen bezeugt, die in den rein griechischen Kulten nicht vorkommen. Siehe hierzu auch Th. Kraus: Hekate, Studien zu Wesen und Bild der Göttin in Kleinasien und Griechenland, Heidelberg 1960, S. 31. Zur Rettung aus dem Zweiten Punischen Krieg (vor Hannibal) wurde der Magna-Materkult auch in Rom eingeführt - mit entsetzlichen Bräuchen. Auf dem Palatin errichtete man der Göttin einen Tempel. Die Diener der Göttin hießen Galli (siehe oben, Fußnote 29).

[39] Analogie zur Lebensgeschichte Abaelards: “In tam misera me contritione positum, confusio, fateor, pudoris potius quam devotio conversionis ad monastichorum latibula claustrorum compulit... - In dieser elenden Verzweiflung trieb mich weniger ein Verlangen nach Bekehrung - ich gestehe es offen - als die Verlegenheit meiner Scham in den bergenden Schutz der Klostermauern...“ HC, ed. E. Hicks, S. 19.

[40] Brochus: römisches Cognomen, hier vermutlich Name eines Priesters der Magna Mater bzw. Hekate.

[41] Tellus: Altrömische Göttin der Erde, im Griechischen Gaia genannt. Fruchtbarkeit, Ehe und Eide standen unter dem besonderen Schutz der Tellus mater. Im April wurde ihr an den Fordicidia eine trächtige Kuh geopfert.

[42] Lyaeus, aus dem Griechischen lyaios, d.h. Sorgenbrecher. Beiname des Bacchus, vor allem von Martial gebraucht, auch als Synonym für Wein. Bacchus, gr. Bakchos oder Dionysos, war als Sohn des Zeus und der Semele der Gott der Fruchbarkeit und später vor allem des Weines.

[43] Juno: In der griechischen Mythologie auch Hera genannt. Sie war die oberste römische bzw. griechische Göttin, die Himmelskönigin, Tochter des Kronos und der Rhea, Schwester von Demeter, Hades, Hestia, Poseidon und Zeus, Gemahlin des Zeus.

[44] Thetis: Meernymphe, bekannteste Tochter des Nereus und wichtige Figur der griechischen Mythologie. Zunächst warb Poseidon um Thetis, doch er verzichtete auf die Hochzeit, als er von einem Orakel erfuhr, nach dem der Sohn der Thetis seinen Vater absetzten würde. Thetis heiratete daraufhin den sterblichen Peleus. Als Peleus und Thetis ihre Vermählung feierten, nahmen alle olympischen Götter daran teil. Nur Eris, die Göttin der Zwietracht, wurde vergessen. Ihre Rache hatte verheerende Folgen: Heimlich warf sie unter die Anwesenden einen goldenen Apfel, der die zweideutige Aufschrift "Der Schönsten" trug. Es entstand sofort Streit zwischen Athena, Hera und Aphrodite, den Paris entscheiden sollte (siehe oben, Fußnote 11). Thetis machte Achilleus, ihren Sohn von Peleus, bis auf die Ferse unverwundbar. Sie umgab ihn mit liebender Fürsorge, auch als sie ins Meer zurückgekehrt war.

[45] Venus: Römische Göttin der Liebe und der Schönheit. Ursprünglich altitalische Natur- und Gartengöttin, später mit der griechischen Aphrodite gleichgesetzt und als Gottheit der Liebe, Schönheit und Anmut, der Zeugung und Fortpflanzung verehrt.

[46] Pluto: Herrscher der Unterwelt, im Griechischen auch Hades, der Unsichtbare, oder euphemistisch Pluton, der Reiche, genannt. Synonyme für Pluto sind Stygischer Dis (siehe unten, Fußnote 52), Infernus oder Stygischer Jupiter.

[47] Saturnus: Der Gott der Aussaat und der Fruchtbarkeit. Er entspricht dem altitalischen Kronos, der sich auf der Flucht vor seinem Sohn Zeus in Latium verbirgt (lat. latere, verborgen sein). Sein Erscheinen wird ein neues Goldenes Zeitalter heraufführen, Zeus-Jupiter, Poseidon-Neptun und Hades-Pluto, die drei Söhne des Kronos und der Rheia, verlosten unter sich die Herrschaft über die Welt.

[48] Mars: Römischer Kriegs- und Wettergott, der auch mit dem griechischen Ares gleichgesetzt wird. Ursprünglich ein altitalischer Haupt- und Sonnengott, worauf sein Name "der Glänzende" hindeutet. Der Monat März, der damals der erste Monat im Jahr war, war ihm geheiligt und nach ihm benannt (Martius). Der 1. März galt als sein Geburtstag und wurde in den Orgia Martis von den Salier-Priestern mit Waffentänzen gefeiert.

[49] Ops: Göttin der Fülle und Fruchtbarkeit, deren Verehrung angeblich schon von Titus Tatius in Rom eingeführt wurde. Auch als Gattin des Saturn angesehen.

[50] Das Motiv, ein abgeschnittenes Geschlechtsteil in einer Urne aufzubewahren, findet sich bei Lukian, 120-180 n. Chr., in einer Sage über die Entmannung der Galloi. Siehe weiter oben und: J. Werner, H. Greiner-Mai: Lukian, Werke in drei Bänden, Weimar 1974, Bd. 3, S. 192.

[51] Thus Sabaeum: Legendärer Weihrauch aus Saba. Der Weihrauch verhalf den Sabäern einst zu unermesslichem Reichtum. Lieferant des wertvollen Naturstoffs war das Harz eines Baumes, Boswellia catreri bzw. sacer, den es im heutigen Jemen nur noch selten gibt. Gewonnen wurde der Weihrauch durch Anritzen der Rinde. Aus der künstlich geschaffenen Wundstelle trat eine Wundmilch aus, die zu goldgelbem oder rötlich-weißem Harz erstarrte. Der Weihrauch, der durch die Verbrennung des Harzes entstand, fand Verwendung bei Kulthandlungen, beispielsweise bei der Weihe, zur Beförderung des Gebetes, bei der Abwehr von Dämonen, zur Behandlung von Krankheiten oder schlicht zur Vertreibung von Fliegen. Im katholischen Gottesdienst bezeichnet man die liturgisch vorgeschriebene Räucherung des Altarraums mit Weihrauch als Inzensation.

[52] Dis: auch Stygischer Dis genannt, dichterisches Synonym für Pluto oder Hades, den Gott der Unterwelt (siehe oben, Fußnote 46).

[53] Manes: Die Manen waren in der römischen Mythologie die Geister der Toten, zwar feindselig gesinnt, doch beschönigend als "di manes," die Freundlichen, bezeichnet. Manchmal wurden die Manen auch mit den "di parentes" oder "toten Vorfahren" gleichgesetzt. Diese lebten in der Unterwelt und stiegen nur an bestimmten Tagen auf, an denen ihnen Sühneopfer dargebracht wurden.

[54] Phoebe: Weibliches Pendant zu Phoebus und Schwester des Phoibos Apollon (siehe oben, Fußnote 21). In den Quellen ist die Verwendung des Namens nicht immer scharf zu trennen von der Titanin Phoibe, der Tochter des Uranos und der Gaia. Leto und Asteria waren die Töchter dieser Phoibe und des Titanen Koios. Phoibe soll vor Apollon die Gottheit von Delphi gewesen sein. Phoibe hieß im übrigen auch eine Tochter des mythischen König Leukippos. In der römischen Mythologie galten Phoebe und Cynthia als Synonyme für Diana als Sonnen- oder Mondgöttin.

[55] Cinthia: Siehe auch Phoebe. Synonym für Diana als Mondgöttin. Der Beiname leitet sich vom Berg Cynthus auf der Insel Delos, wo Diana geboren war, ab und ist so in den Fasten Ovids erwähnt. In der Bedeutung als Mondgöttin verwendete auch Rudolf Tortarius den Namen.

[56] Hier spielt Rudolf Tortarius auf Regelungen des kanonischen Rechts an, die den Klerikern im Fall der Selbstkastration verbot, weiterhin geistliche Ämter zu bekleiden. Siehe Ivo von Chartres: Panormia, Buch 3, Kap. 56: "Si quis per egritudinem naturalia a medicis habuerit secta, similiter et qui a barbaris aut dominis stultis fuerint castrati, et moribus digni fuerint visi, hos canon admittit ad clericatus officium promoveri. Si quis autem sanus, non per disciplinam religionis et abstinentie, sed per abscissionem plasmati a Deo corporis existimans posse a se carnales concupiscentias amputari, castraverit se, non eum admitti decernimus ad aliquod clericatus officium. Quod si iam ante fuerat promotus ad clerum, prohibitus a suo ministerio deponatur..." B. Brasington, M. Brett: The Panormia of Ivo of Chartres, vorläufige Online-Version 10/20/00, S. 39. Diese Regelungen gehen zurück auf das alte Testament. Schon im 5. Buch Mose (Deuteronomium), Kap. 23, 1 ist dem Eunuchen das Betreten des Gotteshauses versagt: „Non intrabit eunuchus attritis vel amputatis testiculis et abscisso veretro, ecclesiam Domini..." In diesem Sinn wurde der Gedanke auch von zahlreiche Konzilen ( siehe z.B. Apostolische Canones um 400, Limoges 1031) oder Kirchenlehrern  (z. B. Johannes Chrysostomos, Isaak von Antiochien, Hieronymus) interpretiert.

[57] Thesephone: Neben Allekto und Megaira eine der Furien oder Erynnien, nach Hesiods Theogonie entstanden durch ein Kastrationsgeschehen. Die Rachegöttinnen sollen durch die Blutstropfen des Uranos gezeugt worden sein, nachdem dieser auf Befehl Gaias von Kronos mit einer Sichel entmannt worden war. Die dabei auf die Erde fallenden Blutstropfen hatte Gaia aufgefangen und daraus neben den Erinnyen auch die Giganten geboren. Aus dem weißen Schaum der ins Meer geschleuderten Geschlechtsteile soll Aphrodite, die Schaumgeborene, entstanden sein. Die Erinnyen waren Schützerinnen der sittlichen Ordnung. Sie bestraften erbarmungslos alles Unrecht, vor allem Blutschuld und Mord, versetzten die Frevler in Wahnsinn und brachten Tod und Verderben.

[58] Philirus: Griechischer Eigenname, vermutlich nach gr. philyra, die Linde, griechische Baumgottheit.

[59] Zephyrinus: Hier Synonym für die personifizierte Eifersucht. Zephyros galt als griechische Windgottheit und bezeichnete den sanften, feuchten Westwind Griechenlands. Als Sohn des Astraios und der Eos nahm er der Sage nach die neugeborene Aphrodite auf und brachte sie nach Zypern. Der von Eifersucht geplagte Zephyros ertrug die Freundschaft nicht, die sich Apollon und Hyakinthos entgegenbrachten und tötete deshalb Hyakinthos. Mit der Harpyie Podarge zeugte er die schnellen Rosse des Achilleus. 

[60] Pseustis: griechische Sagengestalt, ein Hirte aus Athen. In der "Ecloga Theoduli" aus dem 5. Jhd (?) siegt Alithia, die biblische Wahrheit, gegen den paganen Pseustis.

 


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