Alexander Schroeter: Abaelards Ethica - seu Scito te ipsum

Dr. Alexander Schroeter, PH Bern, Institut für Bildungsmedien, Email alexander.schroeter@phbern.ch
Deckblatt der Dissertation

Alexander Schroeter studierte in Freiburg im Üechtland und an der Dormitio (Jerusalem) Theologie. Von 1992 bis 1997 war er Assistent am Lehrstuhl für Moraltheologie und Sozialethik bei Prof. Bénézet Bujo.

Die Dissertation über Peter Abaelards Ethica - eine deutsche Übersetzung, die Kontextualisierung und der Deutungsversuch des Werkes - entstand unter der Begleitung von Prof. Bénézet Bujo, u. a. ein hervorragender Kenner der mittelalterlichen Moraltheologie, und Prof. Ruedi Imbach, Professor für mittelalterliche Philosophie an der Sorbonne, früher in Freiburg i. Üe. Sie stellt die aktuellste deutsche Gesamtübersetzung des moraltheologischen Grundsatzwerkes aus der Hand Peter Abaelards dar.

Alexander Schroeter ist heute einerseits Teilzeit-Hausmann, andererseits in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern sowie in der Aus- und Weiterbildung von Religionslehrpersonen tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Gender und Religionspädagogik, Medienpädagogik und Gender und Medienverhalten. Siehe hierzu auch unter www.alexanderschroeter.ch.

Die für diese Seiten dankenswerterweise zur Verfügung gestellte Übersetzung der Ethica ist der Dissertationsschrift von 1999 entnommen. Sie geht von der kritischen Edition durch David E. Luscombe (1972) aus und ist somit vollständiger als die frühere Übersetzung von Ferdinand Hommel (1947).

Die Übersetzung kann auch als PDF-File heruntergeladen werden: Ethica.pdf. Zum Vergleich ist die ältere Teilübersetzung von F. Hommel hier erhältlich.

 

Die Ethica des Peter Abaelard

Übersetzung, Hinführung und Deutung

von

Alexander Schroeter-Reinhard ©, 1999

Auszug: Übersetzung der Ethica, im Original Seiten 392 bis 437


Hier beginnt das Buch von Peter Abaelard, das den Titel trägt:  Erkenne dich selbst.

I. Was ist Sünde?

These 1: Die Fehler des Geistes sind nicht Sünde

* Sitten nennen wir Fehler des Geistes oder Tugenden, die uns zu schlechten oder guten Taten bereit machen. Es gibt aber nicht nur Fehler oder Vorzüge des Geistes, sondern auch des Körpers, wie z. B. körperliche Schwäche oder Stärke, die wir Kräfte nennen: Trägheit oder Schnelligkeit, Hinken oder aufrechte Haltung, Blindheit oder Sehvermögen. Daher haben wir zur Unterscheidung von derartigem, als wir von ‘Fehlern’ sprachen, ‘des Geistes’ hinzugefügt. Diese Fehler des Geistes sind den Tu­genden entgegengesetzt, gerade so wie das Unrecht der Gerechtigkeit, die Feigheit der Standhaftigkeit und die Maßlosigkeit der Mäßigung.

(1. Über den Fehler des Geistes, der die Sitten betrifft)

* Es gibt aber auch einige Fehler und Vorzüge des Geistes, die mit der Sitte nichts zu tun haben und das menschliche Leben weder des Tadels noch des Lobes würdig machen, wie z. B. Stumpfheit des Geistes oder Gewandtheit des Scharfsinns, vergeß­lich sein oder ein gutes Gedächtnis haben, Unwissenheit oder Wissen. Da dies alles sowohl bei Bösen wie bei Guten vorkommt, trägt es nichts zur sittlichen Qualität bei und macht das Leben weder schimpflich noch ehrenhaft. Deswegen haben wir zu Recht, nachdem wir oben von ‘Fehlern des Geistes’ gesprochen haben, um derartiges auszuschließen, hinzugefügt: die zu schlechten Taten bereit machen, d. h., die den Willen geneigt machen zu irgend etwas, wovon es sich keineswegs gehört, daß es getan oder unterlassen wird. (Vgl. Röm 1,28)

(2. Was der Unterschied ist zwischen der Sünde und einem Fehler, der zum Bösen ge­neigt macht)

* Es ist nämlich nicht jeder Fehler des Geistes dasselbe wie Sünde und die Sünde nicht dasselbe wie eine böse Handlung. Zum Beispiel: jähzornig sein, also bereit oder leicht empfänglich für Verwirrungen durch Zorn zu sein, ist ein Fehler und macht den Geist geneigt, etwas, was sich keineswegs geziemt, mit Leidenschaft und unver­nünftig zu tun. Dieser Fehler, daß jemand offenbar leicht in Zorn gerät, ist auch dann in der Seele, /4/ wenn er nicht gerade erzürnt wird, so wie das Hinken, weswegen man einen lahm nennt, diesem auch dann zukommt, wenn er nicht gerade hinkend umhergeht. Denn ein Fehler liegt auch dann vor, wenn keine Handlung stattfindet. So macht auch die Veranlagung selbst oder die Körperkonstitution viele zu Flei­scheslust oder Zorn bereit, doch sündigen sie nicht schon darin, weil sie so sind, son­dern sie haben darin etwas, wogegen sie kämpfen, so daß sie, wenn sie dank der Tu­gend der Maßhaltung über sich selbst triumphieren, die Krone erlangen. Dies gemäß Salomon: ‘Besser als ein starker Mann ist einer, der fähig ist zu ertragen, und besser, wer sich selbst beherrscht, als wer Städte erobert.’ (Spr 16,32) Die Religion hält es nämlich nicht für schändlich, von einem Menschen, aber von einem Fehler besiegt zu werden. Ersteres kommt auch bei guten Menschen vor, im zweiten hingegen wei­chen wir von den Guten ab. Diesen Sieg anempfiehlt uns der Apostel, wenn er sagt: ‘Es wird einer nicht gekrönt werden, wenn er nicht richtig gekämpft haben wird.’ (2 Tim 2,5) ‘Gekämpft haben wird’, und zwar würde ich sagen: nicht so sehr um Menschen, als vielmehr um Fehlern zu widerstehen, damit sie uns nämlich nicht zur verkehrten Zustimmung verlocken. Und wenn die Menschen aufhörten zu kämpfen: jene [Fehler] lassen nicht ab, uns anzufechten, so daß der Kampf um so viel gefährli­cher ist, je häufiger er vorkommt, und ein Sieg um so viel glänzender, je schwieriger er war. Wieviel auch immer Menschen über uns vermögen, so können sie doch mit nichts unser Leben in die Schande führen, außer wenn sie [uns] mit lasterhafter Sitte, nachdem sie uns gleichsam zu Fehlern umgestimmt haben, unter eine schändliche Zustimmung unterwerfen. Jene verfügen über unsere Körper, während die Seele doch frei sein wird und nichts von der wahren Freiheit aufs Spiel gesetzt wird und wir nicht in schändliche Knechtschaft geraten. Es ist nämlich nicht schändlich, dem Menschen zu dienen, aber dem Fehler; und nicht die körperliche Knechtschaft verun­staltet die Seele, sondern die Unterwerfung unter die Fehler. Was nämlich auch im­mer zugleich den Guten und Bösen gemeinsam ist, trägt nichts bei zu Tugend oder Fehler.

These 2: Sünde ist die Verachtung Gottes

(3. Was ein ‘Fehler des Geistes’ ist und was eigentlich ‘Sünde’ genannt wird)

* Und so ist ein Fehler das, wodurch wir zum Sündigen bereit gemacht werden, d. h., wir werden geneigt, dem zuzustimmen, was sich nicht gehört – entweder, daß wir es tun oder daß wir es lassen. Diese Zustimmung aber nennen wir im eigentli­chen Sinn Sünde, d. h. Schuld der Seele, durch die sie die Verdammung verdient oder durch die sie vor Gott schuldig dasteht. Was ist nämlich diese Zustimmung an­deres als eine Verachtung Gottes und eine Beleidigung gegen ihn? Gott kann nämlich nicht durch Schädigung, sondern nur durch Verachtung beleidigt werden. Er ist ja /6/ jene höchste Macht, die durch keinerlei Schädigung geschwächt wird, [die] aber Verachtung gegen sie rächt. Somit ist Sünde unsere Verachtung des Schöpfers; und Sündigen ist, den Schöpfer zu verachten, d. h., seinetwegen auf keinen Fall das zu tun, was wir glauben, daß es seinetwegen von uns getan werden müßte, oder seinet­wegen nicht zu unterlassen, was wir glauben, daß es unterlassen werden müßte. Da wir somit Sünde negativ definieren, indem wir nämlich gesagt haben, sie bestehe im Nicht-Tun oder Nicht-Lassen von dem, was sich gehört, zeigen wir klar, daß der Sünde keine Substanz zukommt, da sie eher in einem Nicht-Sein als in einem Sein be­steht, so wie wir beim Definieren von Dunkelheit sagen würden, sie sei Abwesenheit von Licht da, wo Licht zu sein gehabt hat.

Diskussion der 2. These

* Aber vielleicht sagst du: Auch der Wille zu einer bösen Tat ist Sünde; dieser Wille macht uns vor Gott schuldig, so wie der Wille zu einer guten Tat uns gerecht macht. So wie die Tugend aus dem guten Willen besteht, so auch die Sünde im schlechten Willen. Und somit [besteht die Sünde] nicht so sehr in einem Nicht-Sein, sondern ebenso in einem Sein wie jener [böse Wille]. So wie wir nämlich im Tun-Wollen dessen, wovon wir glauben, daß es Gott gefällt, ihm gefallen, so mißfallen wir ihm im Tun-Wollen dessen, wovon wir glauben, daß es Gott mißfällt, und so scheinen wir ihn zu beleidigen oder zu verachten.

Aber ich antworte darauf, daß, wenn wir sorgfältiger überlegen, ganz anders darüber zu den­ken ist, als es scheint. Da wir nämlich manchmal sündigen und jeglicher schlechter Wille fehlt, und da selbst der gezügelte, nicht ganz erloschene schlechte Wille dem, der sich wehrt, zur Siegespalme wird und den Gegenstand des Kampfes und die Ruhmeskrone in einem einschließt (vgl. 1 Ptr 5,4), so muß der Wille selbst nicht so sehr Sünde als eher eine gewisse notwendige Schwäche genannt werden. Schau: Einer ist unschuldig, aber sein grausamer Herr ist gegen ihn so sehr in Wut geraten, daß er ihn mit gezogenem Schwert verfolgt, um ihn zu töten. Nachdem er ihm lange hat entfliehen können und es so gut als möglich hat vermeiden können [, den Herrn] zu töten, ist er schließlich in die Enge getrie­ben und bringt ihn, ohne es zu wollen, um, damit er nicht von ihm umgebracht wird. Ant­worte mir nun, wer immer du auch sein magst: Welchen schlechten Willen hatte er bei die­sem Tun? Er wollte doch das eigene Leben retten, indem er den Tod fliehen wollte. Doch dieser Wille war doch nicht etwa schlecht?

Nein, antwortest du, nicht diesen Willen halte ich für schlecht, sondern den Willen, den er hatte, den Herrn umzubringen, der ihn verfolgte.

Gut und deutlich sprichst du, antworte ich, wenn du den Willen aufzeigen kannst, in dem was du behauptest. Aber, wie schon gesagt, er tat dies gegen den Willen und gezwungener­maßen, denn er ließ, /8/ solange er konnte, das Leben unversehrt, wohl wissend, daß aus dieser Ermordung seinem Leben Gefahr droht. Wie sollte er also etwas freiwillig gemacht haben, was er unter der eigenen Lebensgefahr begangen hat?

* Wenn du antwortest, auch dies sei willentlich gemacht worden, weil er aus dem Willen, der nämlich darin besteht, dem Tod zu entgehen, und nicht, seinen Herrn umzubringen, dazu geführt wurde, so widerlegen wir das keineswegs.

Aber, wie schon gesagt, dieser Wille, durch den jener, wie du sagst, dem Tod hat entfliehen wollen, und nicht seinen Herrn umbringen, ist in keiner Weise als böse zu verwerfen – und dennoch vergeht er sich, wenn auch getrieben durch die Furcht vor dem Tod, wenn er der ungerechten Ermordung zustimmt, weil es sich für ihn eher gehörte, [den Tod] zu erleiden als auszuführen. Denn er hat das Schwert von sich aus ergriffen und es nicht von der Macht überreicht erhalten. Daher spricht die Wahrheit: ‘Jeder, der das Schwert ergreift, wird durch das Schwert umkommen.’ (Mt 26,52) ‘Wer das Schwert ergreift’ meint [den, der es] aus Anmaßung ergreift, und nicht den, dem es übergeben ist, um Vergeltung zu üben. ‘Wird durch das Schwert umkommen’ meint, er zieht sich durch diese Unbesonnen­heit die Verdammung und den Untergang seiner Seele zu. Doch wie gesagt, jener wollte dem Tod entkommen und nicht den Herrn töten. Aber, weil er der Ermordung zustimmte, was er nicht hätte tun sollen – diese unrechtmäßige Zustimmung, die der Ermordung vor­anging, stellte eine Sünde dar.

* Wenn vielleicht jemand sagt, er wollte seinen Herrn deswegen umbringen, um dem Tod zu entgehen, kann man daraus nicht einfach schließen, daß er ihn umbringen wollte. Wenn ich beispielsweise zu jemandem sage: Ich will, daß du meinen Mantel hast, [und zwar] deswegen, damit du mir fünf Münzen gibst, oder: Ich möchte, daß dieser zu diesem Preis der Deine wird, dann räume ich damit nicht ein, daß ich wollte, daß er dir sei. Und wenn jemand, der in einem Gefängnis gefangengehalten wird, seinen Sohn an seiner Stelle dort lassen will, damit er seinen Loskauf beschaffen kann, so werden wir auch nicht einfach zu­geben, daß er seinen Sohn /10/ ins Gefängnis stecken wollte, was er unter großen Tränen und mit vielen Seufzern auf sich zu nehmen gezwungen wird. Jedenfalls ist ein derartiger sogenannter Wille, der mit einem großen inneren Schmerz verbunden ist, nicht Wille, son­dern eher Erleiden zu nennen. Und so bedeutet, daß er das eine des andern wegen will, so­viel wie: Er erduldet, was er nicht will, wegen der Sache, die er erwünscht. So sagt man auch, ein Kranker wolle sich brennen oder schneiden lassen, damit er geheilt wird, und die Märtyrer wollen leiden, um zu Christus zu gelangen, oder Christus selbst [wollte leiden], damit wir durch sein Leiden gerettet werden. Dennoch sind wir nicht gezwungen, einfach zuzugeben, daß sie dies wollen. Niemals kann es nämlich Erleiden geben, wo nicht etwas gegen den Willen geschieht; und niemand kann an etwas leiden, worin sein Wille sich er­füllt und was ihn erfreut, daß es geschieht. Sicher, der Apostel, der sagt: ‘Ich sehne mich danach, aufgelöst zu werden und bei Christus zu sein’ (Phil 1,23), was bedeutet: zu ster­ben, um zu ihm zu gelangen, erinnert uns an einer andern Stelle selbst daran: ‘Wir wollen nicht gewaltsam entkleidet werden, sondern überkleidet, damit so das Sterbliche vom Leben verschlungen werde.’ (2 Kor 5,4) Diese vom Herrn gesagten Worte ruft nämlich der heilige Augustinus in Erinnerung, wo zu Petrus gesagt wird: ‘Du streckst deine Hände aus, und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst.’ (Joh 21,18) Er [, Je­sus,] sagt selbst zum Vater, weil er die Schwachheit der menschlichen Natur angenommen hat: ‘Wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, son­dern wie du willst.’ (Mt 26,39) Seine Seele erschrak nämlich natürlicherweise vor dem gro­ßen Todesleiden. Und wovon sie wußte, daß es qualvoll sei, das konnte sie nicht freiwillig annehmen. Obschon anderswo darüber geschrieben steht: ‘Er hat sich hingegeben, weil er selbst es wollte’ (Jes 53,7), so ist dies entweder im Sinne der göttlichen Natur zu verstehen, in deren Willen es stand, daß der Mensch leiden müsse, den sie angenommen hatte, oder aber ‘wollte’ steht hier für ‘anordnete’ gemäß jener Stelle beim Psalmisten: ‘Was immer er wollte, geschah.’ (Ps 115,3) Somit steht fest, daß manchmal eine Sünde begangen wird ohne jeglichen bösen Willen, woraus klar wird, daß das, was Sünde ist, nicht Wille heißt.

* Du wirst sagen, gewiß ist es so, wo wir gezwungenermaßen, aber nicht da, wo wir willent­lich sündigen, wie wenn wir etwas begehen wollen, von dem wir wissen, daß wir es in kei­nem Fall begehen sollen. Dort scheinen nämlich jener böse Wille und die Sünde dasselbe zu sein. Zum Beispiel: Ein Mann sieht eine Frau und beginnt, sie zu begehren, und sein Ver­stand wird durch Fleischeslust /12/ berührt, so daß er zu der Unsittlichkeit des Beischlafs entzündet wird. So wirst du sagen: Was sind hier der Wille und der schändliche Wunsch anderes als Sünde?

* Ich entgegne: Was ist, wenn dieser Wille durch die Tugend der Mäßigung gebremst, aber nicht ganz ausgelöscht wird, damit er zum Kampf bleibt und zum Wettstreit weiterbesteht und, obwohl besiegt, nicht schwindet? Wo bleibt denn der Kampf, wenn der zu bekämp­fende Gegenstand fehlt? Oder: Warum [sollte man] großen Lohn [erhalten], wenn das, was wir ertragen, nicht schwer ist? Wenn der Wettstreit wegfällt, gibt es nichts mehr zu kämpfen, sondern nur noch den Lohn zu empfangen. Hier aber streiten wir im Kampf, da­mit wir anderswo als Sieger des Streites die Krone entgegennehmen können. Damit es wahrlich einen Kampf gibt, braucht es einen Gegner, der Widerstand leistet, nicht einen, der geradewegs schwindet. Dies ist wahrlich unser böser Wille, über den wir triumphieren, wenn wir ihn dem göttlichen Willen unterordnen, und den wir nicht geradewegs auslö­schen, damit wir immer etwas haben, wogegen wir kämpfen können.

* Was machen wir denn Großes für Gott, wenn wir nichts unserem Willen Feindliches ertra­gen, sondern eher erfüllen, was wir wollen? Und wer mag uns danken, wenn wir in dem, was wir angeblich für ihn machen, nur unseren eigenen Willen erfüllen?

Aber, wirst du sagen, was für ein Verdienst haben wir bei Gott aus dem, was wir [entweder] willentlich oder verhaßter Weise machen?

Ich antworte: Sicher kein Verdienst, denn er selbst wird bei einer Vergeltung eher den Geist als die Handlung berücksichtigen; die Handlung trägt zum Verdienst nichts bei, komme sie aus einem guten oder schlechten Willen, wie wir gleich zeigen werden. Wenn wir tatsächlich seinen Willen dem unseren voranstellen, so daß wir den seinen mehr befolgen als den unseren, so haben wir bei ihm ein großes Verdienst, gemäß der Vollkommenheit der Wahrheit, die lautet: ‘Ich bin nicht gekommen, um meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.’ (Joh 6,38) Auch sagt sie uns ermunternd dazu: ‘Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, ja sogar sein eigenes Leben geringachtet, der ist meiner nicht würdig’ (Lk 14,26), d. h.: Wenn er nicht von seinen Vorstellungen oder vom eigenen Willen abläßt und sich dafür gänzlich meiner Satzung unterwirft. Wie uns befohlen wird, den Vater zu hassen, aber nicht zu töten, so sollen wir auch unserem Willen nicht folgen, aber ihn auch nicht von Grund auf vernichten. Er nämlich, der sagt: ‘Folge deinen Begierden nicht, und halte dich fern von deinen Gelüsten’ (Jes Sir 18,30), verlangt von uns, daß wir unsere Gelüste nicht ausleben, aber auch nicht gänzlich frei seien von ihnen. Jenes ist zwar schwierig, dies aber unmöglich wegen unserer Schwäche. Sünde ist nämlich nicht, /14/ eine Frau zu begehren, sondern, der Begierde zuzustimmen. Und nicht der Wille nach Beischlaf, sondern das Zustimmen zu diesem Willen ist verwerflich.

* Was wir über die Fleischeslust gesagt haben, das würden wir auch bei der Schlemmerei so sehen. Einer geht am Garten eines anderen vorbei und kriegt Lust auf die leckeren Früchte, die er erblickt; und dennoch stimmt er seiner Lust nicht zu, obwohl sein Geist durch die Freude an der Speise zu einem großen Wunsch entfacht ist, wie wenn einer zu Diebstahl oder Raub verlockt wird. Wo nämlich ein Wunsch brennt, dort besteht ohne Zweifel auch ein Wille. Und so wünscht er, die Frucht zu essen, woran er ohne Zweifel Freude hat. So wird er nämlich in die Enge getrieben durch die Natur seiner Schwachheit selbst, das zu ersehnen, was nicht erlaubt ist zu nehmen, ohne daß es der Herr weiß oder erlaubt. Er un­terdrückt den Wunsch, [aber] er hat ihn nicht ausgelöscht. Aber weil er nicht zur Zustim­mung verleitet wird, begeht er keine Sünde.

These 3: Der schlechte Wille ist nicht Sünde

* Wohin führt uns das aber? Wie sich endlich in solchen [Überlegungen] zeigt, wird auch niemals der Wille selbst, also der Wunsch, etwas zu tun, das nicht erlaubt ist, Sünde genannt, sondern eher nur die Zustimmung dazu, wie wir gesagt haben. Zugestimmt haben wir wahrlich dem, was sich nicht gehört, dann, wenn wir uns von dessen Vollbringung keinesfalls zurückziehen und gänzlich bereit sind, wenn die Möglichkeit gegeben ist, dies auszuführen. Deshalb verfällt jeder der Fülle der Schuld, der diesen Entschluß gefaßt hat. Die Ausführung des Werkes, die dazu­kommt, macht die Sünde nicht größer, sondern vor Gott ist der gewiß schon ein An­geklagter, der, so gut er kann, nach der Ausführung trachtet; und wer jenes ver­folgt, so weit es an ihm liegt, der ist gleichsam bei der Tat selbst erwischt worden, wie der heilige Augustinus in Erinnerung ruft. /16/

* Obschon aber der Wille keine Sünde ist und obschon wir nicht selten unwillent­lich, wie wir gesagt haben, Sünden begehen, sagen dennoch einige, daß jede Sünde freiwillig begangen werde, und dabei finden sie auch eine gewisse Unterscheidung zwischen Sünde und Willen; sie nennen etwas Wille, etwas anderes freiwillig, d. h. das, was durch den Willen begangen wird. Aber wahrlich: Wenn wir Sünde nennen, was wir im eigentlichen Sinn darunter verstehen – also die Verachtung Gottes oder das Zustimmen zu etwas, wovon wir glauben, daß es wegen Gott unterlassen wer­den müßte –, wie können wir dann sagen, eine Sünde werde freiwillig begangen, d. h., daß wir Gott verachten wollen, oder [, anders gesagt,] uns schlechter, also der Verdammung würdig machen wollen? So sehr wir nämlich machen wollen, wovon wir wissen, daß wir dafür bestraft werden müssen, oder wofür wir eine Strafe ver­dienen werden, wollen wir dennoch nicht bestraft werden. Daraus geht klar hervor, daß wir böse sind, weil wir das machen wollen, was ungerecht ist, und nicht einmal die Strafe hinnehmen wollen, die gerecht ist und die uns zusteht. Die Strafe, die ge­recht ist, gefällt uns nicht, die Handlung, die ungerecht ist, gefällt uns. Überdies kommt es doch oft vor, daß wir, wenn wir mit einer verheirateten Frau – erfreut über ihr Äußeres – schlafen wollen, deswegen keineswegs mit ihr Ehebruch begehen wol­len; eher wollten wir, sie wäre nicht verheiratet. Auf der andern Seite gibt es viele, die Frauen mächtiger [Männer] zu ihrem eigenen Ruhm [gerade deshalb] begehren, weil sie die Frauen solcher [Männer] sind, [und sie nicht begehrten,] wenn sie unver­heiratet wären. Diese wollen also mehr die Ehe brechen als Unzucht treiben, d. h., eher einen größeren als einen kleineren Fehler begehen. [Wieder] andere sind gänz­lich verdrossen, zur Zustimmung zur Begierde oder zum bösen Willen gezogen zu sein, und sie sind aus der Schwachheit ihres Fleisches gezwungen, das zu wollen, was sie niemals [mit dem Geist] hätten wollen wollen. Ich sehe nun wahrlich nicht ein, wie man diese Zustimmung, die wir nicht geben wollen, freiwillig nennt, so daß wir dem gemäß, wie gesagt, jede Sünde freiwillig nennen müssen. Es sei denn, wir verstehen unter freiwillig den Ausschluß des Zwingenden, und somit wäre nämlich keine Sünde unvermeidbar. Oder wir nennen freiwillig, was aus irgendeinem Willen hervorgeht. Denn auch jener, der gezwungen ist, seinen Herrn umzubringen, und nicht den Willen zu töten hat, der begeht das dennoch aus einem Willen, nämlich: dem Tod entkommen oder ihn hinausschieben zu wollen.

These 4: Vom Wert der schlechten Handlung

* Es gibt Leute, die sich wohl ziemlich ärgern, wenn sie uns sagen hören, /18/ die Ausführung der Sünde trage nichts zur Verurteilung oder Verdammung durch Gott bei. Sie entgegnen nämlich, daß beim Ausführen der Sünde ein gewisses Erfreuen erfolgt, das die Sünde vergrößert, wie beim Beischlaf oder beim Essen, von dem wir gesprochen haben. Was sie sagen, wäre nämlich nicht absurd, wenn sie davon über­zeugen könnten, daß eine derartige Freude Sünde sei, und daß man nichts derglei­chen machen kann, ohne [auch gleich] zu sündigen. Wenn sie das wirklich so auffas­sen, so ist es niemandem erlaubt, fleischliche Freuden zu empfinden. Und so sind weder Verheiratete frei von Sünde, wenn sie sich in der ihnen erlaubten fleischlichen Freude vereinigen, noch [ist es] jener, der erfreut seine eigene Frucht verspeist. Auch wären alle Kranken in Schuld, die sich zur Stärkung, damit sie von der Schwäche geheilt werden, an süßeren Speisen laben, die sie niemals ohne Freude essen, oder die, wenn sie sie ohne Freude äßen, nichts nützten. Endlich wäre auch Gott, der Schöpfer sowohl der Früchte wie der Körper, nicht unschuldig, wenn er einen sol­chen Wohlgeschmack hineingelegt hätte, der die Essenden zwangsläufig beim Genuß zur Sünde zwingen würde. Warum hätte er solche [Speisen] zu unserem Verzehr gegeben oder ihren Verzehr zugelassen, wenn es für uns unmöglich wäre, sie ohne Sünde zu essen? Wie kann nämlich auch bei Erlaubtem gesagt werden, daß gesün­digt wird, wenn man es begeht? Wenn etwas nachträglich gestattet und erlaubt wurde, was einst unerlaubt und verboten war, so kann dies jetzt gänzlich ohne Sünde begangen werden – z. B. das Essen von Schweinefleisch und die meisten Dinge, die einst bei den Juden verboten waren, sind uns jetzt wahrlich erlaubt. Wenn wir deshalb auch zu Christus bekehrte Juden sehen, die derartige Speisen frei essen, die das Gesetz ihnen untersagt hatte, wie rechtfertigen wir dann deren Unschuld, wenn wir nicht erklären, daß dies ihnen von Gott erlaubt ist? Wenn also bei solchem Essen, das ihnen einst verboten war, jetzt aber erlaubt ist, die Erlaubnis selbst die Sünde entschuldigt und die Verachtung Gottes aufhebt, wer kann dann dies in ir­gendeiner Weise sündigen nennen, was ihm eine göttliche Erlaubnis erlaubt macht? Wenn also das Schlafen mit der Gattin oder das Essen selbst einer erfreulichen Speise vom ersten Tag unserer Schöpfung an, als noch ohne Sünde im Paradies gelebt wurde, uns erlaubt war, wer kann uns dann darin der Sünde anklagen, wenn wir nicht über die Grenze des Erlaubten hinausgehen? /20/

* Aber wiederum sagen sie, daß der eheliche Verkehr und das Essen einer erfreuli­chen Speise zwar erlaubt sind, die Freude selbst aber nicht; jene sollten gänzlich ohne Freude ausgeübt werden. Aber wahrlich, wenn dem so ist, daß [jene Handlungen] in der Weise erlaubt sind, wie sie niemals ausgeübt werden können, dann ist die Er­laubnis unvernünftig gewesen, die gestattet, etwas so zu machen, wie dieses mit Si­cherheit nicht geschehen kann. Überdies: aus welcher Vernunft verpflichtete einst das Gesetz zur Heirat, damit jeder einzelne vom Sproß Israels ausgehe, oder [aus welcher Vernunft] zwingt der Apostel die Verheirateten, sich gegenseitig die Pflicht zu erfüllen, wenn sie dies in keiner Weise frei von Sünde machen können (vgl. 1 Kor 7,3)? Wie kann man etwas Pflicht nennen, das schon notwendigerweise Sünde ist? Oder: wie kann einer zu solchem Handeln gezwungen werden, durch welches er sündigend gegen Gott verstößt? Wie ich beurteile, geht daraus klar hervor: wenn wir uns darin erfreuen, worin, wenn es vorkommt, das Empfinden von Freude unaus­weichlich ist, dann ist keiner natürlichen Freude des Fleisches eine Sünde zuzu­schreiben oder eine Schuld zuzuteilen. Wenn z. B. jemand irgend einen Ordensmann nötigt, gefesselt zwischen Frauen zu liegen, und jener wird, erfreut durch die Ge­schmeidigkeit und durch die Berührung der ihn umgebenden Frauen, zur Freude, nicht aber zur Zustimmung geführt – wer könnte es wagen, diese notwendige Freude, die natürlich eintritt, Schuld zu nennen?

Exkurs über die Erbsünde

* Wenn du das ablehntest, wie es einige zu machen scheinen, weil doch auch leibli­che Freude in erlaubtem Beischlaf als Sünde angerechnet werde – [zum Beispiel,] wenn David sagt: ‘Denn siehe, in Sünden bin ich empfangen’ (Ps 51,7), oder wenn der Apo­stel, wenn er gesagt hat: ‘Kommt wieder darin [zusammen], damit euch der Satan wegen eurer Unenthaltsamkeit nicht in Versuchung führt’ (1 Kor 7,5), beifügt: ‘Das sage ich als Zugeständnis, nicht als Gebot’ (1 Kor 7,6) –, so scheint uns dies, daß diese fleischliche Freude als Sünde verkündet wird, eher aus Autorität als aus Ver­nunftgründen festgehalten worden zu sein. Es steht nämlich fest, daß David nicht in Unzucht, sondern in einer Ehe empfangen worden ist, und Nachsicht, d. h. Verge­bung, kann nicht geübt werden, wo überhaupt keine Schuld vorliegt. Wie mir wahr­lich scheint: Was David darüber sagt, daß er in Unrecht oder Sünde empfangen wor­den ist – und er hat nicht beigefügt, wessen Sünde –, damit verweist er auf die allge­meine Verfluchung durch die Erbsünde, durch die nämlich jeder einzelne aus der Schuld der eigenen Eltern verdammt ist. Dies gemäß dem, was anderswo geschrie­ben steht: ‘Niemand ist frei von Unreinheit, /22/ auch nicht das eintägige Kind, wenn es sein Leben auf der Erde beginnt.’ (Ijob 14,4f/LXX) Wie aber der heilige Hie­ronymus erinnert hat und wie offenkundige Vernunftgründe zeigen, solange die Seele im Kindesalter verweilt, ist sie frei von Sünde. Wenn sie also rein von Sünde ist, wie ist sie dann [gleichzeitig] durch Schmutz der Sünde verunreint, wenn nicht das erste als Schuld, das zweite als Strafe zu verstehen ist? Schuld aus einer Verachtung Gottes trifft nämlich keinen, der noch nicht mit Vernunft sieht, wie er handeln soll; gleichwohl ist er nicht geschützt vor der Sünde der Vorfahren, woraus er sich, wenn auch keine Schuld, so doch eine Strafe zuzieht; und er muß als Strafe ertragen, was jene in Schuld begangen haben. Wenn David [also] sagt, er sei in Unrecht und Sünde empfangen worden, so sieht er sich einem allgemeinen Urteils­spruch der Verdam­mung aus der Schuld seiner Vorfahren unterstellt. Aber dieses Vergehen geht nicht so sehr auf die nächsten Verwandten als auf die früheren zurück.

* Was nun wahrlich der Apostel Zugeständnis nennt, das ist nicht so zu verstehen, wie [die einen] möchten, daß das Zugeständnis der Erlaubnis die Vergebung der Sünde meint. Wenn er sagt: ‘als Zugeständnis, nicht als Gebot’, bedeutet das soviel, wie wenn er sagen würde: als Erlaubnis, nicht als Zwang. Wenn es nämlich die Gat­ten wollen und mit beider Zustimmung den Beschluß gefaßt haben, können sie sich gänzlich dem Gebrauch des Fleisches enthalten, und sind dazu nicht durch ein Gebot zu zwingen. Wenn sie aber nicht so entscheiden, dann haben sie das Zugeständnis, d. h. die Erlaubnis, sich vom vollkommeneren Leben abzuwenden zum Vollzug eines lockereren Lebens. Der Apostel hat nämlich an dieser Stelle mit Zugeständnis nicht den Nachlaß der Sünde gemeint, sondern die Erlaubnis eines lockereren Lebens, um Unzucht zu vermeiden, damit das geringere Leben einer großen Sünde zuvorkommt und es [somit zwar] geringer wäre an Verdiensten, aber nicht größer werde an Sün­den. (Ende des Exkurses)

* Dies habe ich aber deshalb angeführt, daß nicht einer, der vielleicht wollte, daß jede Freude des Fleisches Sünde sei, sagt, durch die Handlung werde die Sünde selbst größer, weil jemand nämlich die Zustimmung der Seele selbst zur Ausführung der Handlung weiterführt, so daß [die Seele] nicht nur durch die Zustimmung zur Schande, sondern wahrlich auch durch die Schandflecken der Tat verdorben würde. – Wie wenn man die Seele durch etwas, was von außen in den Körper gelangt, be­flecken könnte! (Vgl. Mt 15,11)

Irgendeine Ausführung von Werken trägt also nichts bei zur Vergrößerung der Sünde, und nichts besudelt die Seele außer dem, was ihr selbst anhaftet, d. h. die Zu­stimmung, von der allein wir gesagt haben, daß sie Sünde sei, /24/ und nicht etwa der ihr vorangehende Wille und auch nicht die Ausführung des Werkes, die ihr folgt. Und wenn wir wollen oder tun, was sich nicht gehört, so sündigen wir deswegen dennoch nicht, denn beides kommt häufig ohne Sünde vor – wie auch umgekehrt die Zustimmung ohne [Tat oder Wille] vorkommen kann. Dies haben wir zum Teil schon gezeigt: den Willen ohne Zustimmung bei dem, der der Begierde verfällt beim An­blick einer Frau oder einer fremden Frucht und dennoch nicht zur Zustimmung ver­leitet wird, [andererseits] die schlechte Zustimmung ohne schlechten Willen bei dem, der, ohne es zu wollen, seinen Herrn umbringt.

These 5: Zustimmung bzw. Intention als Kriterium der Sünde

* Ich denke aber, es sollte klar sein, daß oft [dann], wenn etwas vielleicht durch Gewalt oder Unkenntnis begangen wird, ohne Sünde geschieht, was nicht geschehen sollte. Wie z. B. eine Frau, die mit Gewalt erdulden muß, mit dem Mann einer ande­ren Frau zu schlafen, oder wenn irgendeiner irgendwie betrogen mit einer Frau schläft, die er für seine Gattin hält, oder wenn einer einen aus Irrtum hinrichtet, von dem er glaubte, ihn zu Recht hinrichten zu müssen. Es ist keine Sünde, die Gattin eines anderen zu begehren oder mit ihr zu schlafen; aber [eine] große [Sünde ist es], diesem Begehren oder dieser Handlung zuzustimmen. Diese Zustimmung zur Be­gierde heißt im Gesetz Begierde, nämlich [dort,] wo gesagt wird: ‘Du sollst nicht be­gehren.’ (Dtn 5,21) Was nämlich verboten werden sollte, ist nicht jenes Begehren, das wir nicht vermeiden können oder worin wir, wie gesagt, gar nicht sündigen, son­dern, wenn wir [dem Begehren] beistimmen. So ist auch jenes zu verstehen, das der Herr sagt: ‘Wer eine Frau ansieht und sie begehrt’, d. h. wer sie so anschaut, daß er der Zustimmung zur Begierde verfällt, ‘der ist in seinem Herzen schon ein Ehebre­cher’ (Mt 5,28), auch wenn er dem Werk nach kein Ehebrecher ist, d. h., er hat schon die Schuld der Sünde, auch wenn bis jetzt die Ausführung ausbleibt.

* Und wenn wir sorgfältig bedenken: wo auch immer Handlungen in eine Vor­schrift oder ein Verbot eingeschlossen scheinen, so beziehen sich [Verbot oder Vor­schrift] eher auf den Willen oder die Zustimmung zur Handlung, als auf diese Handlung selbst; sonst wäre ja nichts zur Vorschrift gemacht, was zum Verdienst gereichen kann. Und was weniger in unserer Macht steht, das ist /26/ als Vorschrift um so wertloser. Tatsächlich ist uns vieles verboten zu tun, wobei der Wille und die Zustimmung dazu wahrlich immer in unserer Entscheidungskraft liegen.

Predigtartiger Exkurs über die Intention

Schau, der Herr spricht: ‘Du sollst nicht töten. Du sollst nicht Zeugnis ablegen.’ (Dtn 5,17.20)

Wenn wir dies, wie es wörtlich heißt, nur von der Handlung annehmen, so wird keine Freveltat untersagt und keine Schuld verboten, sondern nur die Ausführung der Schuld. Aber es ist keine Sünde, einen Menschen umzubringen oder mit einer fremden Frau zu schlafen, beides kann bisweilen ohne Sünde geschehen. Wenn das Verbot von einem Werk auf diese Weise nach dem Wortlaut verstanden wird, dann wird nämlich jener nicht schuldig vor dem Gesetz, der ein falsches Zeugnis ablegen will oder gar dem Ablegen zustimmt, dann aber aus irgendeinem Grund schweigt und nichts sagt. Es steht nämlich nicht geschrieben, wir sollen nicht fal­sches Zeugnis ablegen wollen oder nicht dem Ablegen zustimmen, sondern schlicht, daß wir nicht falsch aussagen sollen. – Aber wenn das Gesetz uns verbie­tet, unsere Schwestern zu heiraten oder mit ihnen zu schlafen, dann gibt es nie­manden, der dieser Vorschrift folgen kann, ist doch häufig jemand nicht fähig, seine Schwestern zu identifizieren. Niemanden, sage ich, wenn das Verbot mehr für die Handlung als für die Zustimmung gilt. Sollte es darum vorkommen, daß einer aus Unwissen seine Schwester heiratet: übertritt er somit eine Vorschrift, weil er macht, was ihm das Gesetz zu machen verbietet? Du wirst sagen, er habe es nicht übertreten, weil er beim Übertreten dem nicht zustimmt, was er unwissend tut. Somit ist nicht der Übertreter zu nennen, der tut, was verboten ist, sondern derjenige, der dem zustimmt, wovon er sicher weiß, daß es verboten ist. Von daher ist nicht anzunehmen, es gehe um das Verbot der Handlung, sondern [um das Verbot] der Zustimmung. Wie nämlich, wenn gesagt wird: ‘tue dies nicht oder das’, dies soviel bedeutet wie: ‘stimme nicht zu, dies oder das zu machen’, oder: ‘nimm dir dies nicht bewußt vor’. Dies sagt auch der heilige Augustinus, sorgfältig erwägend und jede Vorschrift oder jedes Verbot eher auf die Liebe oder auf die Begierde als auf die Handlung zurückführend: ‘Das Gesetz schreibt nichts anderes vor als Liebe und verbietet nichts anderes als Begierde.’ Daher sagt auch der Apo­stel: ‘Das ganze Gesetz ist nämlich in dem einen Wort zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!’ (Gal 5,14) Und wiederum: ‘Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes.’ (Röm 13,10) Tatsächlich trägt es nichts zum Verdienst bei, ob du einem Notleidenden ein Almosen gibst: die Liebe mag dich bereit ma­chen zu spenden und auch der Wille ist vorhanden, aber die Möglichkeit fehlt, und es ist dir künftig aus irgendeinem Fall nicht mehr möglich zu tun, was du [jetzt noch] kannst. Auch steht fest, /28/ daß Werke, die es sich gehört zu tun oder zu lassen, ebenso von guten wie von bösen Menschen getan [oder unterlassen] wer­den, allein die Intention unterscheidet sie. So sehen wir doch in derselben Tat, wie uns der ebengenannte Lehrer erinnert, Gott den Vater und den Herrn Jesus Chri­stus, aber auch den Verräter Judas: Die Auslieferung des Sohnes ist gewiß eine Tat Gott Vaters und eine des Sohnes, und sie ist [auch] eine des Verräters: denn sowohl hat der Vater den Sohn ausgeliefert und der Sohn sich selbst, wie der Apostel erin­nert (vgl. Röm 8,32), als auch Judas den Meister. Der Verräter hat also gemacht, was auch Gott gemacht hat, aber jener hat doch nicht etwa gut ge­handelt? Denn auch wenn es gut ist, hat er doch sicher nicht gut gehandelt oder etwas getan, was ihm von Nutzen sein sollte. Gott erwägt nämlich nicht, was ge­schieht, sondern in welchem Geist es geschieht; und nicht im Werk, sondern in der Intention besteht das Verdienst oder das Lob des Handelnden. Oft wird doch das­selbe von ver­schiedenen gemacht, aus Gerechtigkeit vom einen, aus Schlechtigkeit vom ande­ren: Wenn z. B. zwei einen Angeklagten erhängen, einer [getrieben] durch den Ei­fer für die Gerechtigkeit, der andere durch den Haß einer alten Feind­schaft: wenn auch das Erhängen ein und dieselbe Handlung ist und auch wenn das geschieht, was gut ist, und sie tun, was die Gerechtigkeit fordert, so wird gleich­wohl das­selbe wegen der Verschiedenheit der Intention von verschiedenen getan, schlecht vom einen, gut vom anderen.

* Wer wüßte schließlich nicht, daß selbst der Teufel nichts tut, was ihm nicht von Gott erlaubt wird, wenn er entweder einen Ungerechten verdientermaßen bestraft oder wenn ihm erlaubt wird, irgendeinen Gerechten zu schlagen: entweder zur Reinigung oder damit der [Gerechte] seine Geduld bezeugen kann? Aber weil Gott ihm erlaubt, das zu machen, er [aber] durch seine Schlechtigkeit zur Tat motiviert wird, so wird seine Macht gut, manchmal gar gerecht genannt, wenn auch sein Wille stets ungerecht ist. Die Macht erhält er nämlich von Gott, den Willen hat er von sich aus.

Überdies: wer der Auserwählten kann, was die Werke betrifft, den Heuchlern vergli­chen werden? Wer erduldet oder tut soviel aus Liebe zu Gott[,] wie jene aus Gier nach menschlichem Lob [tun oder erdulden]? Wer weiß schließlich nicht, daß nicht selten das, was Gott verbietet, daß es geschehe, zu Recht vollzogen wird oder ge­tan werden soll, wie er manchmal im Gegenteil etwas vorschreibt, wovon es sich trotz allem weniger gehört, daß es geschieht? Siehe nämlich: Wir wissen von nicht wenigen /30/ seiner [Heilungs-]wunder, die er, nachdem er die Kranken geheilt hatte, ihnen zu verkünden verboten hat. – Vielleicht als Beispiel der Demut und damit keiner, dem solche Gnade zuteil wurde, [deshalb] nach Ruhm strebe. – Und dennoch ließen die, die jene Wohltaten empfangen hatten, kein bißchen davon ab, dies bekanntzumachen, selbstverständlich zum Ruhm dessen, der sowohl jene [Heilung] gemacht als auch die Verkündigung verboten hatte. Über sie steht ge­schrieben: ‘Je mehr er es ihnen verbot, desto mehr machten sie es bekannt’ (Mk 7,36) und so weiter. Willst du nun solche als Schuldige wegen ihres Vergehens richten, weil sie sogar wissentlich gegen die erhaltene Vorschrift gehandelt haben? Was entschuldigt diese für die Übertretung, wenn nicht, daß sie nichts gemacht haben zur Verachtung dessen, der die Vorschrift erließ, sondern beschlossen, ihm zu Ehren zu handeln? Sage mir, ich beschwöre dich, wenn Christus vorschreibt, was nicht hätte vorgeschrieben werden sollen, oder wenn jene nicht beachten, was hätte eingehalten werden sollen [, dann ist es doch so]: Was gut war, daß es vorge­schrieben wurde, das war nicht gut, gehalten zu werden. Oder wirst du auch Gott anklagen [im Zusammenhang] mit Abraham, dem er zuerst vorgeschrieben hat, den Sohn zu opfern, was er [jedoch] nachher selbst verboten hat? (Vgl. Gen 22,1-19) Nicht wahr: Gott hat etwas als gut vorgeschrieben, was nicht gut war, daß es ge­schieht? Wenn es nämlich gut wäre, weshalb wird es nachher verboten? Wenn es aber gleichzeitig sowohl gut war, es zu gebieten, als auch, es zu verbieten – Gott erlaubt nämlich weder, daß etwas ohne vernünftigen Grund geschehe, noch stimmt er dem Tun zu –, so siehst du, wie allein die Intention der Vorschrift, nicht die Ausführung der Handlung Gott entschuldigt, wenn er jenes als gut vorschreibt, was nicht gut ist, daß es geschieht. Gott trachtete nämlich nicht danach oder schrieb vor, daß Abraham die Opferung seines Sohnes ausführen müsse, sondern [er trachtete danach, daß] dadurch sein Gehorsam und seine Standhaftigkeit im Glauben oder in der Liebe ganz besonders geprüft würde und uns als Beispiel bleiben möge. Anschließend verkündet dies der Herr selbst offen, wenn er sagt: ‘Jetzt weiß ich, daß du Gott fürchtest’ (Gen 22,12b), [das ist,] wie wenn er aus­drücklich sagte: Deshalb habe ich dir dies vorgeschrieben, damit du deine Bereit­schaft hast erweisen können, so daß ich auch den andern habe zu erkennen geben können, was ich selbst von dir schon ewig weiß. Recht ist also die Intention Gottes gewesen in einer Handlung, die nicht recht gewesen ist. Und so ist auch [Jesu Rede-]Verbot, von dem wir gesprochen haben, recht: er hat das [Verkünden] des­halb verboten, nicht damit das Verbot [tatsächlich] gehalten würde, sondern damit uns Schwachen zur Vermeidung leeren Ruhmes Beispiele gegeben werden. Des­halb hat Gott vorgeschrieben, was nicht gut gewesen ist, daß es geschehe, wie er andererseits verboten hat, /32/ was gut gewesen ist, daß es geschieht; und wie dort die Intention ihn entschuldigt, so [entschuldigt hier die Intention] die, die mit ihrer Tat die Vorschrift nicht erfüllt hatten. Sie wußten nämlich, daß er ihnen dies nicht deshalb vorgeschrieben hatte, daß es gehalten würde, sondern, damit das vorangehende Beispiel bekanntgemacht würde. Deshalb hatten sie, den Willen des Gebietenden wahrend, ihn nicht verachtet. Sie hatten verstanden, daß sie sich sei­nem Willen nicht widersetzten.

* Wenn wir also die Werke mehr gewichten als die Intention, so werden wir sehen, daß wir oft nicht nur gegen eine Vorschrift Gottes handeln wollen, sondern dies wis­sentlich auch tun, [allerdings] ohne jegliche Sündenschuld. Wenn die Intention dessen, für den die Vorschrift erlassen worden ist, vom Willen des Vorschrei­ben­den nicht abweicht, so sind dessen Wille und Handlung, [nur] weil er der Vor­schrift Gottes nicht im Werk folgt, nicht als schlecht zu bezeichnen. So wie nämlich die Intention des Befehlenden, der vorschreibt, was sich dennoch kaum gehört, ihn selbst entschuldigt, so entschuldigt die Intention der Liebe auch den, für den die Vorschrift erlassen worden ist.

Methodische Bemerkung 1: Systematische Zusammenfassung

* Damit ich nun in einer kurzen Zusammenfassung das oben Gesagte zusammen­bringe: Es gibt vier Dinge, die wir vorgelegt haben, damit wir sie gegenseitig sorgfäl­tig voneinander unterscheiden: Die Fehler – wenn man will – des Geistes, die zum Sündigen bereit machen, sodann die Sünde selbst, die wir als Zustimmung zum Bö­sen oder als Verachtung Gottes definiert haben, dann der schlechte Wille und die schlechte Handlung. So wie es aber nicht dasselbe ist, etwas zu wollen und den Wil­len zu erfüllen, so ist es auch nicht dasselbe, zu sündigen und eine Sünde zu ver­wirklichen. [Sündigen] soll nämlich als Zustimmung des Geistes, worin wir [ei­gent­lich] sündigen, verstanden werden, [eine Sünde verwirklichen hingegen] als Ausfüh­rung der Handlung, wenn wir möglicherweise jenes in Tat umsetzen, zu wel­chem wir vorangehend zustimmen.

These 6: Dem Sündigen geht ein mehrstufiger innerer Vorgang voraus

Wenn wir also sagen, Sünde oder Versuchung geschehe auf drei Arten – durch Einflüsterung, Vorfreude und Zustimmung –, so ist das so zu verstehen: Wir werden oft durch diese drei zur Ausführung der Sünde verführt. – So ist es den ersten Eltern geschehen: Es ging nämlich das Überreden des Teufels voraus, als er die Unsterb­lichkeit durch das Genießen des verbotenen Baumes versprach. Die Vorfreude folgte nach, als die Frau, beim Anblick des schönen Holzes und [dessen] zum Verzehr sü­ßen [Frucht] hingerissen, von der vermuteten Lust an der Speise sich in Begierde da­nach entzündete. Obschon sie die Begierde nun hätte unterdrücken sollen, um so der Vor­schrift zu gehorchen, verfiel sie der Sünde durch die Zustimmung. Während sie nun die Sünde /34/ durch Reue hätte korrigieren sollen, damit sie Verzeihung er­langt hätte, führte sie die Sünde im Werk aus; und so ging sie in drei Schritten zur Ausfüh­rung der Sünde voran. (Vgl. Gen 3,1-24) Und so gelangen auch wir oft durch diese drei Schritte nicht zum Sündigen, aber zur Ausführung der Sünde: Durch Ein­flüste­rung, d. h. durch die Erregung von irgend etwas Äußerem, uns antreibend etwas zu tun, das sich nicht gehört. Wenn wir von etwas, noch bevor wir es gemacht haben, glauben, dies zu tun wäre tatsächlich erfreulich, so wird unser Geist hingeris­sen von der Vorfreude auf dieselbe Handlung, und wir werden in dieser Erregung durch die Vorfreude selbst versucht. Wenn wir endlich vielleicht dieser Vorfreude nachfühlen, so sündigen wir durch die Zustimmung. Und so gelangen wir schließlich über diese drei Stufen zur Ausführung der Sünde.

* Nun gibt es Leute, die die Einflüsterung des Fleisches selbst dann im Wort Ein­flüsterung einschließen möchten, wenn es keine einflüsternde Person gibt; wenn [also z. B.] jemand nach dem Anblick einer Frau dem Begehren nach ihr verfällt. Aber tatsächlich sollte jene Einflüsterung, wie es scheint, nicht anders als Vorfreude ge­nannt werden. Aber diese gleichsam natürliche Vorfreude und andere derartige, die keine Sünde darstellen, wie wir uns von vorher erinnern, nennt der Apostel mensch­liche Versuchung, wenn er sagt: ‘Noch ist keine Versuchung über euch gekommen, die den Menschen überfordert. Gott ist nämlich treu; er wird nicht zulassen, daß ihr über eure Kräfte hinaus versucht werdet. Sondern er wird euch mit der Versuchung auch einen Ausweg schaffen, so daß ihr sie bestehen könnt.’ (1 Kor 10,13) Versu­chung wird nämlich im allgemeinen jegliche Neigung der Seele zu irgendeinem Tun genannt, das sich nicht gehört, sei diese [Neigung] Wille oder sei sie Zustimmung. Menschliche Versuchung wird wahrlich all das genannt, ohne das es die menschliche Schwäche kaum oder gar nicht gäbe, also: fleischliche Begierde oder der Wunsch nach einer erfreulichen Speise. Von diesen sich zu befreien gab jener vor, der sagte: ‘Führe mich heraus aus meiner Bedrängnis!’ (Ps 25,17), d. h.: [Führe mich hinaus] aus diesen Versuchungen der Begierden, die gleichsam natürlich und notwendig ge­macht sind, daß sie [mich] nicht zur Zustimmung hinreißen. Oder [anders]: Ich möge, wenn dieses Leben zu Ende geht, das voll von Versuchungen ist, überhaupt frei sein von solchen. Wenn also der Apostel sagt: ‘Noch ist keine Versuchung über euch gekommen, die den Mensch überfordert’, so ist das dasselbe, wie wenn er sagte: Wenn der Geist durch eine Vorfreude geneigt gemacht wird – was wir eben mensch­liche Versuchung genannt haben –, so möge dies uns nicht bis zur Zustimmung hin­reißen, worin ja die Sünde besteht. [Und] weil gleichsam jemand fragte, durch wel­che unserer Tugenden wir diesen Begierden widerstehen können, sagt er [weiter]: ‘Gott ist treu; er wird nicht zulassen, /36/ daß ihr versucht werdet.’ Wie wenn er sagen würde: Eher, als uns etwas anzumaßen, sollten wir ihm vertrauen, der uns Hilfe zusagt und in allen Zusagen die Wahrheit spricht. Das bedeutet ja ‘Gott ist treu’, daß ihm in allem noch mehr vertraut werden soll. Denn wahrlich, er läßt nicht zu, daß wir über das [Maß hinaus] versucht werden, das wir [ertragen] können; des­halb mäßigt er mit seiner Milde diese menschliche Versuchung so, daß er uns nicht mit mehr Sünde drückt, als wir nämlich zu widerstehen ertragen können. Dann aber wendet er darüber hinaus selbst diese Versuchung zu unserem Vorteil, denn durch diese bereitet er uns vor, damit später, wenn uns etwas entgegentritt, uns dies nur wenig belästigen kann und wir den Angriff des Feindes schon weniger fürchten, über den wir schon gesiegt haben und von dem wir wissen, daß wir ihn durchstehen. Jeder Kampf nämlich, in dem wir noch nicht geprüft worden sind, ist schwerer aus­zuhalten und wird uns mehr beängstigen; aber wahrlich beim Gewöhnen an den Sieg vergehen gleichzeitig die Macht [des Feindes] und die Furcht vor ihm.

These 7: Es gibt auch äußere Einflüsse auf das Sündigen

(4. Über die Einflüsterungen der Dämonen)

* Nun gibt es aber nicht nur Einflüsterungen der Menschen, sondern auch der Dä­monen, denn auch diese treiben uns nicht selten zur Sünde – weniger durch Worte als durch Taten. Sie sind vertraut mit der Natur der Dinge und ebenso klug in Spitz­findigkeiten wie aus langer Erfahrung. Daher werden sie Dämonen genannt, das be­deutet Wissende. Sie kennen die natürlichen Kräfte, durch die die menschliche Schwachheit leicht zu Lust oder zu einer anderen Begierde bewegt werden kann. So schicken sie – nicht selten mit Gottes Erlaubnis – manchen in Ermattung, und nach­her geben sie dem Bittenden Heilmittel. Und wenn sie aufhören zu schädigen, wird häufig angenommen, sie heilten. Damals in Ägypten sind viele Dinge gegen Moses erlaubt worden, die von den Magiern – in Wirklichkeit aber durch die natürliche Kraft der Dinge, die sie kannten – wundersam ausgeführt worden sind. (Vgl. Ex 7,11-13) Diese, die das machten, sollten nicht so sehr Urheber als eher Anordner genannt werden – so wie nach der Bezeugung Vergils einer, der Stierenfleisch drischt und durch sein Arbeiten erreicht, daß Bienen entstehen, nicht so sehr Schöpfer der Bienen als Wegbereiter der Natur genannt werden sollte. Und deshalb, aus dieser Kenntnis der Dinge, die sie über die Natur derselben haben, bewegen uns die Dämonen zu Lust oder anderen Leidenschaften des Geistes. Diese tragen sie an uns Unwissende durch irgendeine Kunst heran, entweder durch einen Genuß, oder sie geben [uns] diese im Bett ein oder tragen sie auf irgendeine Art innerlich oder äußerlich [an uns] heran. /38/ Die Kräfte in den Kräutern und Samen, ja sogar in der Beschaffenheit der Bäume und Steine sind nämlich zahlreich und fähig, unseren Geist zu bewegen oder zu beruhigen. Jene, die das alles sorgfältig kennengelernt haben, können leicht damit umgehen.


These 8: Die scheinbar paradoxe Abhängigkeit von Werk, Sünde, Schuld und Strafe

(5. Warum die Werke der Sünde mehr bestraft werden als die Sünde selbst)

* Es gibt ferner welche, die ganz erregt sind, wenn sie uns [einerseits] sagen hören, daß das Werk der Sünde nicht eigentlich Sünde heißt oder daß es nichts zur Vergrö­ßerung der Sünde beiträgt, [andererseits, daß] den Schuldigen schwerere Genug­tuung nicht wegen der Schuld der Sünde auferlegt werden soll, sondern wegen der Ausführung des Werkes.

Denen antworte ich zuerst hiermit: Warum wundern sie sich nicht besonders dar­über, daß nicht selten eine große Strafe zur Wiedergutmachung verhängt worden ist, wo keinerlei Schuld vorgelegen hat, und daß wir manchmal Leute bestrafen müssen, von deren Unschuld wir wissen? Siehe [folgendes Beispiel]: Irgendeine arme Frau hat einen Säugling, aber sie besitzt nicht genug Kleider, daß es sowohl für das Kind in der Wiege als auch für sie reicht. Und so, bewegt von Mitleid für das Kind, legt sie es zu sich, damit es in ihren eigenen Bettüchern gewärmt werde. Aber schließlich, wegen seiner Schwäche von der Kraft der Natur überwunden, ist sie gezwungen zu erdrücken, was sie mit höchster Liebe umfaßt. Bei Augustinus heißt es: ‘Habe Liebe und tu’, was immer du willst.’ Als sie dann aber zur Wiedergutmachung vor den Bischof kommt, wird ihr eine schwere Strafe auferlegt, [allerdings] nicht wegen der Schuld, die sie begangen hat, sondern, damit später in solchen Vorkehrungen sowohl sie selbst wie auch andere Frauen vorsichtiger sein werden. Oft auch geschieht es jemandem, daß er von seinen Feinden beim Richter angeklagt wird. Dabei wird ihm etwas Derartiges vorgeworfen, daß [auch] der Richter merkt, daß dieser unschuldig ist. Weil jene dennoch darauf bestehen und eine Anhörung vor Gericht fordern, be­ginnt am festgesetzten Tag der Prozeß. Und nun rufen sie Zeugen auf, wenn auch falsche, um den zu besiegen, den sie anklagen. Weil nun der Richter diese Zeugen aus keinem offensichtlichen Grund als irrig zurückweisen kann, ist er durch das Ge­setz gezwungen, diese anzuhören. /40/ Und nach der Annahme von deren Beweis bestraft er den Unschuldigen. Er muß also den bestrafen, der nicht bestraft werden sollte. [Der Richter] muß [den Angeklagten] jedenfalls [bestrafen], weil er so gemäß dem Gesetz gerecht handelt – auch wenn jener es nicht verdient. Und so ist es von solchen Fällen her klar, daß oftmals vernünftigerweise jemandem eine Strafe aufer­legt wird, bei dem keine Schuld voranging. Was ist nun aber Besonderes [daran], wenn die erfolgte Handlung, wo eine Schuld vorausging, die Strafe bei den Men­schen in diesem Leben vergrößert, nicht aber bei Gott im folgenden Leben? Die Men­schen richten nämlich nicht über die verborgenen Dinge, sondern über die ersichtli­chen, und sie erwägen nicht so sehr die Schuld der Sünde als die Ausführung des Werkes. Gott allein achtet wahrlich mehr darauf, in welchem Geist sie handeln, als was geschieht; er erwägt wahrlich in unserer Intention die Sünde, und im Richtspruch erwägt er wahrlich die Schuld. Daher wird er ‘Prüfer von Herz und Nie­ren’ (Jer 20,12) genannt und [wird von ihm gesagt,] er sehe im Verborgenen (vgl. Ez 8,12). Dort, wo niemand sieht, sieht er nämlich am meisten, weil er beim Bestrafen der Sünde nicht auf das Werk achtet, sondern auf die Seele. Wir dagegen achten nicht auf die Seele, die wir nicht sehen, sondern auf das Werk, von dem wir Kenntnis haben. Daher bestrafen wir oft aus Irrtum oder, wie gesagt, wegen der Einhaltung des Gesetzes Unschuldige oder sprechen Schuldige frei. Gott wird Prüfer und Ken­ner von Herz und Nieren genannt, d. h.: aller beliebiger Intentionen, mögen sie aus einer Regung oder Schwachheit der Seele oder aus der Vorfreude des Fleisches her­vorgehen.

(6. Über geistige oder fleischliche Sünden)

* Obschon nämlich alle Sünden nur des Geistes und nicht des Fleisches sind – es kann doch nur dort Schuld und Verachtung Gottes bestehen, wo sich Kenntnis von ihm und Vernunft finden –, so werden dennoch gewisse Sünden geistig, gewisse an­dere fleischlich genannt, d. h.: gewisse haben ihre Herkunft aus den Schwächen des Geistes, gewisse aus der Hinfälligkeit des Fleisches. Und wenn auch die Begierde, wie auch der Wille, nur im Geist entsteht – denn wir können nur etwas begehren oder wünschen, wenn wir wollen –, so wird gleichwohl von fleischlicher Begierde wie auch von geistiger Begierde gesprochen. Der Apostel sagt: ‘Denn das Fleisch be­gehrt gegen den Geist und der Geist gegen das Fleisch’ (Gal 5,17), d. h.: die Seele er­strebt aufgrund der Vorfreude, die es im Fleisch gibt, etwas, das sie durch das Urteil der Vernunft meidet oder als etwas beurteilt, was nicht erstrebt werden sollte. /42/

(7. Warum Gott ‘der Prüfer von Herz und Nieren’ genannt wird)

* Wegen diesen beiden nun, der Begierde des Fleisches und der Begierde des Gei­stes, die wir erwähnt haben, wird Gott der Überprüfer des Herzens und der Nieren genannt, das bedeutet: der Prüfer der Intentionen und Zustimmungen jeglicher Her­kunft.

These 9: Es gibt zwei Arten von Rechtsprechung, die irdische und die göttliche

a) ‘Vermeidung öffentlichen Schadens’ und ‘gute Verwaltung’ als Ziele der irdischen Rechtsprechung

Wir aber, die wir dies nicht zu unterscheiden und auseinanderzuhalten vermögen, richten unser Urteil viel mehr auf die Werke; und wir bestrafen nicht so sehr die Schuld als die Werke, und bei irgendeinem trachten wir nicht so sehr zu vergelten, was er seiner Seele an Schaden zufügt, als, was er anderen schaden könnte, wodurch wir eher öffentlichem Schaden zuvorkommen als abgesonderte Vergehen korrigieren – gemäß dem, was auch der Herr zu Petrus sagt: ‘Wenn dein Bruder gegen dich ge­sündigt hat, dann weise ihn unter vier Augen zurecht.’ (Mt 18,15) Was bedeutet [aber]: wenn er ‘gegen dich gesündigt hat’? Ist das nicht dasselbe wie gegen einen anderen? Müssen wir Unrecht, das uns angetan worden ist, mehr korrigieren und bestrafen als das gegen andere? Überhaupt nicht! Es hieß: wenn er ‘gegen dich ge­sündigt hat’ und damit derart heftig handelt, daß er dich durch sein Beispiel verder­ben könnte. Wenn er nämlich nur bei sich sündigt, damit seine verborgene Schuld ihn allein unter Anklage stellt, so verführt er andere nicht auch schon gleich durch sein Beispiel zu einer Freveltat. Aber auch wenn niemand da ist, der seine schlechte Handlung imitieren oder auch davon erfahren könnte, so ist bei den Menschen den­noch die Handlung selbst viel mehr zu tadeln als die Schuld der Seele, weil [die Handlung] mehr an Anstoß erregen könnte und schädlicher als Beispiel wirken könnte als die versteckte Schuld der Seele. Denn alles, was zur gemeinsamen Schand­tat oder zum öffentlichen Nachteil anwachsen kann, ist mit größerem Tadel zu be­strafen, und was mehr Anstoß erregt, das verdient bei uns eine härtere Strafe. Und je mehr Entrüstung bei den Menschen, einer um so größeren Strafe verfällt [die Tat] bei den Menschen, auch wenn eine leichtere Schuld vorlag. Nehmen wir an, irgendeiner vergewaltigt eine Frau in einer Kirche. Wenn dies den Leuten zu Ohren gelangt, ent­rüsten sie sich weniger wegen der Vergewaltigung der Frau und dem wahren Tem­pel Gottes als wegen der Schändung des Gotteshauses, obschon es doch viel schlim­mer ist, eine Frau auszunützen als Wände, und einem Menschen Unrecht anzutun als einer Stätte. Und Brandstiftungen an Häusern bestrafen wir härter /44/ als verübte Unzucht, obschon bei Gott diese [Unzucht] bei weitem härter aufgenommen wird als jene [Brandstiftungen].

* Gewiß, dies geschieht nicht so sehr aus Verpflichtung gegenüber der Gerechtig­keit, als vielmehr aus Mäßigung zwecks einer [guten] Verwaltung. So treffen wir, wie gesagt, Maßnahmen für das Gemeinwohl, indem wir öffentlichen Schandtaten vor­beugen. Oft also bestrafen wir geringere Sünden mit schwereren Strafen; dies nicht so sehr, um durch Ausgleich der Gerechtigkeit [jemanden für] das zu belangen, was an Schuld vorausging, als um mit dem Scharfsinn der Voraussicht daran zu denken, wieviel an Schaden entstehen kann, wenn sie milder bestraft worden wären. Und so bleiben die Schulden der Seele dem göttlichen Urteil vorbehalten, die Ausführung der [Schulden] allerdings, über die wir zu richten haben, verfolgen wir mit unserem Richtspruch; darin streben wir eher nach [guter] Verwaltung, was wir Vernunft der Voraussicht genannt haben, als nach der Reinheit der Gerechtigkeit.

b) Gerechtigkeit als Ziel der göttlichen Rechtsprechung

Wahrlich ist Gott der einzige, der die Strafe eines jeden gemäß der Größe der Schuld zuteilt. Und wer auch immer ihn [, Gott,] in einer bestimmten Weise beleidigt, wird nachher mit der gleichen Strafe bestraft – unter welcher Bedingung [er auch stehen] oder welchen Standes er auch sein mag. Wenn nämlich ein Mönch und ein Laie zur selben Zustimmung zur Unzucht gelangen, und der Geist des Laien so sehr dazu angetrieben ist, daß er, selbst wenn er Mönch wäre, [auch] aus Verehrung Got­tes von dieser Unsittlichkeit nicht abließe, so verdiente er dieselbe Strafe wie der Mönch. Dies gilt auch für jene, von denen der eine öffentlich sündigend viele skan­dalisiert, der andere hingegen nur sich selbst schadet, weil er im Verborgenen sün­digt. Wenn nämlich einer im Verborgenen sündigt, [sonst aber] mit demselben Vor­satz und in der gleichen Verachtung lebt wie der andere, [und sich die Tatsache,] daß er nicht Dritte versucht hat, mehr aus Zufall ergab, als daß er es wegen Gott unterließ – so wie er sich selbst auch nicht wegen Gott mäßigt –, [dann] wird er bei Gott unter die genau gleiche Anklage gestellt. Gott achtet nämlich bei der Vergeltung des Guten und Bösen nur auf die Seele, nicht auf das Ergebnis des Werkes; und er wägt nicht, was aus unserer Schuld oder dem guten Willen hervorgeht. Sondern er beurteilt die Seele selbst im Vorhaben ihrer Intention, nicht anhand der Ausführung eines äuße­ren Werkes.

These 10: Handlung und Intention stellen ein Gut dar

Die Werke nämlich, die, wie wir eben schon gesagt haben, den Bösen und den Auserwählten gemeinsam sind, sind in sich gänzlich indifferent, wenn sie nicht auf Grund der Intention des Handelnden gut oder schlecht zu nennen sind. Es ist näm­lich nicht gut oder schlecht, daß jene geschehen, sondern daß sie gut oder schlecht geschehen, d. h., /46/ daß sie in einer Intention geschehen, die sich gehört oder [eben] nicht gehört. Denn, wie der heilige Augustinus erinnerte, es ist selbst gut, daß das Schlechte ist, zumal auch Gott von ihm guten Gebrauch macht und ihm nicht erlaubt, anders zu sein, auch wenn es [dadurch] dennoch niemals gut ist. Wenn wir so die Intention des Menschen gut nennen und sein Werk ebenfalls, so unterscheiden wir zweierlei: die Intention und das Werk, aber doch [liegt] nur eine Gutheit [vor], die der Intention. Wie wenn wir einen guten Menschen und den Sohn des guten Menschen benennen, stellen wir uns zwar zwei Menschen vor, aber nicht zwei Gut­heiten. Nennen wir also den Menschen gut aus seiner eigenen Gutheit, so geht dar­aus nicht hervor, daß der Sohn des guten Menschen, wie wir gesagt haben, etwas Gutes in sich hat – so auch, wenn die Intention von jemandem in sich gut genannt wird, so wird das Werk nicht von sich aus gut genannt, sondern weil es aus einer guten Intention hervorgeht. Und so ist es die eine Gutheit, von der her sowohl die Intention wie auch die Handlung gut genannt wird, so wie auch die Gutheit ein und dieselbe ist, aus der ein Mensch und der Sohn des guten Menschen gut genannt wer­den, oder dieselbe Gutheit, aus der der Mensch und der Wille des Menschen gut ge­nannt werden.

Diskussion der 10. These

* Jene also, die gewohnt sind einzuwenden, daß auch die Ausführung der Intention der Ver­geltung würdig sei oder zu irgendwelcher Vergrößerung der Vergeltung beitrage, sollen darauf achten, wie leer ihr Einwand ist: Sie behaupten, es gebe zwei Güter: Die gute Inten­tion und die Ausführung der guten Intention – und ein Gut einem anderen zugefügt muß mehr wert sein, als sie es einzeln sind.

Diesen antworte ich: wenn wir annehmen, daß jenes Ganze mehr Wert hat als /48/ die Ein­zelnen, sind wir dann gezwungen zuzugeben, daß [das Ganze] einer größeren Vergeltung würdig ist? Auf keinen Fall. Zwar gibt es viele Dinge, belebter oder unbelebter Natur, die in Masse von größerem Nutzen sind als die je einzelnen [Elemente], die in dieser Masse enthalten sind; und dennoch gebührt ihnen zusammen nicht ein größerer Lohn. Wenn nämlich z. B. ein Ochs mit einem Ochsen oder Pferd zusammengespannt wird oder wenn Holz mit Holz oder Eisen verbunden wird, so sind diese Sachen gewiß gut und sind in der Menge mehr wert als einzeln, und dennoch verdient die [Menge] überhaupt keine größere Vergeltung.

Tatsächlich ist es [in diesen Fällen] so, wirst du sagen, weil es doch Dinge sind, die gar nichts verdienen können, entbehren sie doch der Vernunft.

Aber hat dann unser Werk Vernunft, so daß es etwas verdienen kann?

Keineswegs, wirst du antworten, aber dennoch sagt man, das Werk sei verdienstvoll, weil es macht, daß uns Verdienst zufällt, d. h. uns der Vergeltung, vielleicht gar einer größeren Vergeltung würdig macht.

Aber genau das haben wir oben abgelehnt. Und warum es, abgesehen von dem, was wir schon gesagt haben, abzulehnen ist, das entnimm [dem folgenden]: Da sind zwei [Menschen], die denselben Vorsatz gefaßt haben, nämlich Armenhäuser zu bauen. Dies erfüllt der eine durch die Verwirklichung seines Gelübdes. Da [aber] dem anderen das bereitgelegte Geld gewaltsam entrissen wurde, hat er nicht die Möglichkeit zu erfüllen, was er gelobt hatte – [und zwar] nicht aus eigener Schuld, sondern nur gehindert durch die Gewalttat. Kann nun dieser äußere Einfluß dessen Verdienst bei Gott schmälern? Oder kann die Missetat eines andern ihn bei Gott weniger annehmbar machen, ihn, der für Gott gemacht hat, was immer er vermochte? Übrigens könnte [dann] eine Menge Geldes irgendeinen besser oder würdiger machen, wenn [dieses Geld] selbst vielleicht zum Verdienst oder zur Steigerung des Verdienstes beitragen könnte. Und je reicher Menschen wären, um so besser könnten sie werden, weil sie selbst wegen dem Überfluß des Reichtums ihrem Gelübde in [Form von] Werken mehr dazugeben könnten. Daß nämlich ein irdisches Gut zur wahren Glück­seligkeit oder zur Würde der Seele irgend etwas beiträgt, oder [sein Fehlen] dem Verdienst der Armen irgend etwas abtragen könnte, dies zu meinen ist der Gipfel der Dummheit. Wenn also der Besitz von Sachen die Seele nicht besser machen kann, so kann er einen we­der bei Gott beliebter machen, noch kann irgendwer etwas an Verdienst für die Glück­selig­keit dazu erlangen.

(8. Über die Vergeltung äußerlicher Werke)

* Dennoch wenden wir nichts dagegen ein, daß in diesem Leben diese guten oder bösen Werke irgendwie belohnt werden, so daß wir durch die hiesige Entlohnung, sei sie nun Lohn oder Strafe, /50/ eher zu guten Werken angetrieben als zu bösen verführt werden. Und so mö­gen die einen die Beispiele der andern übernehmen im Tun dessen, was sich gehört oder im Sichhüten vor dem, was sich nicht gehört.

Dogmatischer Exkurs über die eine Gutheit der zwei Naturen Christi

(9. Daß die in Christus vereinte Gott[heit] und Mensch[heit] nichts Besseres ist als Gott selbst)

* Schließlich wollen wir zum Vorangegangenen zurückgehen, wo nämlich gesagt worden ist, daß ein Gut einem Gut hinzugefügt etwas Besseres hervorbringe, als ir­gendeines dieser Güter für sich alleine sei. Gib acht, daß du dadurch nicht dahin ge­führt wirst zu behaupten, daß Christus, d. h. Gott und Mensch gegenseitig miteinan­der in einer Person vereint, etwas Besseres sei als die Gottheit Christi selbst oder daß die Menschheit [etwas Besseres sei, da] Gott selbst mit dem Menschen vereint ist oder der Mensch selbst von Gott aufgenommen wurde.

Es steht doch fest, daß es gut ist, daß in Christus ebensosehr der Mensch aufge­nommen ist wie Gott aufnehmend ist, und daß man beide Substanzen nicht anders als gut verstehen kann – so wie es auch gut ist, daß sich in den einzelnen Menschen sowohl körperliche wie unkörperliche Substanz findet, wenn auch zur Würde oder zum Verdienst der Seele die Güte des Körpers nichts beiträgt. Wer aber wird es wa­gen, jenes Ganze, Christus genannt, das also gleichzeitig Gott und Mensch ist, oder die Vielzahl irgendwelcher Dinge Gott vorzuziehen, wie wenn etwas besser sein könnte als er, der das höchste Gut ist und von dem alle erhalten, was auch immer sie an Gutem haben? Obschon nämlich zu bestimmten Taten einige Dinge so notwendig zu sein scheinen, daß sogar Gott ohne irgendwelche Stützen oder vorrangige Gründe nichts machen kann, so kann doch nichts besser als Gott genannt werden, wie groß die Anzahl der Dinge auch sei. Wenn nämlich feststeht, daß es eine Mehrzahl guter Dinge gibt, so daß die Gutheit in vielen ist, so trifft es nicht zu, daß deren Gutheit größer ist; wie auch, wenn das Wissen bei mehreren vorhanden ist oder die Zahl der Wissenschaften wächst, das Wissen jedes einzelnen nicht notwendigerweise zu­nimmt, so daß das Wissen größer würde als zuvor. Und so ist durch Gott die Gutheit in vielem, da er in sich gut ist und unzählige Dinge erschafft, die weder am Sein noch am Gut-Sein teilhätten ohne ihn; [aber] wieviel größer die Anzahl der guten Dinge [auch] ist, so kann dennoch keine Gutheit seiner Gutheit vorgezogen werden oder sie erreichen. Gewiß ist Gutheit im Menschen und in Gott; und wenn die Substanzen oder Naturen, in denen die Gutheit ist, auch verschieden sind, so kann die Gutheit keiner Sache der göttlichen vorgezogen werden oder sie erreichen. Und /52/ so kann nichts besser als Gott – d. h. als größeres Gut – oder als gleich gut bezeichnet werden.

These 11: Gut ist nur die Intention

(10. Daß eine Menge guter Dinge nicht besser ist als eines der guten Dinge)

* Im Werk und in der Intention scheint es wahrlich nicht eine Anzahl von Guthei­ten oder guten Dingen zu geben. Obschon man nämlich von guter Intention und von guter Handlung, d. h. von etwas, das aus einer guten Intention hervorgeht, spricht, so wird damit nur die Gutheit der Intention bezeichnet und das Wort gut wird nicht [beide Male] in derselben Bedeutung verwendet; wie wenn wir sagen könnten, es gäbe mehrere [Arten von] gut. Denn auch wenn wir von einem Menschen sagen, er sei einfach, oder von einer Rede, sie sei einfach, so gehen wir nicht so sehr davon aus, es gebe mehrere [Arten], einfach zu sein, wenn dieses Wort einfach mal so, mal so verwendet wird. Niemand soll uns also zwingen [anzunehmen], daß, wenn zu einer guten Intention eine gute Handlung kommt, ein Gut einem Gut hinzugefügt wird, wie wenn es mehrere Güter wären, wodurch die Vergeltung größer werden soll. Denn, wie gesagt, wir können eigentlich nicht sagen, daß es verschiedene Güter gebe, weil bei diesen das Wort gut in keiner Weise dieselbe Bedeutung hat.

(11. Daß das Werk gut ist, wenn die Intention gut ist)

* Die Intention nennen wir gut, d. h. in sich richtig. Eine Handlung dagegen nen­nen wir nicht gut, weil sie irgend etwas Gutes in sich aufnimmt, sondern, weil sie aus einer guten Intention hervorgeht. Daher [ergibt sich folgendes]: Wenn derselbe Mensch zu verschiedenen Zeiten dasselbe tut, allerdings mit verschiedenen Intentio­nen, so wird seine Handlung einmal gut, einmal schlecht genannt; und so scheint sie zu variieren zwischen gut und schlecht. Gerade so, wie die Aussage ‘Sokrates sitzt’ bzw. deren Inhalt zwischen wahr und falsch schwankt, je nachdem, ob Sokrates ge­rade sitzt oder steht. Aristoteles meint dazu, daß es sich mit irgendeinem wandeln­den Wechsel zwischen wahr und falsch so verhält: nicht daß jene [Aussagen] selbst, die zwischen wahr oder falsch wechseln, durch den Wechsel etwas erlitten, sondern, daß die vorliegende Sache, also hier Sokrates, in sich selbst bewegt wird, vom Sitzen zum Stehen oder umgekehrt. /54/

These 12: Nicht jede Intention ist gut

(12. Woher die Intention gut zu nennen ist)

* Da gibt es nun welche, die meinen, eine Intention sei dann gut oder recht, wann immer jemand glaubt, er handle gut, oder das, was er mache, gefalle Gott – so wie jene, die die Märtyrer verfolgten und über die im Evangelium steht: ‘Es kommt die Stunde, in der jeder, der euch tötet, meint, Gott einen heiligen Dienst zu leisten.’ (Joh 16,2) Der Apostel bemitleidet solche wegen der Unkenntnis [, wenn er] sagt: ‘Ich be­zeuge ihnen, daß sie Eifer haben für Gott, aber ohne Erkenntnis.’ (Röm 10,2) D. h.: sie verspüren ein großes Feuer und den Wunsch zu diesem Tun, wodurch sie glauben, Gott gefallen zu können. Aber weil dabei durch Eifer oder Fleiß ihre Seelen getäuscht werden, ist ihre Intention irrend, und das Auge des Herzens ist nicht ‘einfach’, so daß es klar zu sehen vermöchte, d. h., sich vor dem Irrtum vorsehen könnte. Wohl­besonnen hat der Herr, da er die Werke gemäß der rechten oder nicht rechten In­tention beurteilt hat, das Auge des Geistes – d. h. die Intention – ‘einfach’ und gleich­sam von Schmutz rein [genannt], womit man klar sehen kann, oder aber als finster bezeichnet, als er gesagt hat: ‘Wenn dein Auge ‘einfach’ ist, wird dein ganzer Körper hell sein.’ (Mt 6,22) Das bedeutet: wenn die Intention richtig gewesen ist, dann wer­den alle Werke, die daraus hervorgehen und die wie körperliche Dinge gesehen werden können, für das Licht würdig, d. h. gut sein. Und so ist es auch mit dem Ge­genteil. Deshalb ist eine Intention nicht gut zu nennen, weil sie gut scheint, sondern weil sie darüber hinaus auch so ist, wie man denkt. So, wie einer sich für etwas an­strengt, weil er meint, daß es Gott gefällt, und sich darüber hinaus in seiner Einschät­zung niemals täuscht. Ansonsten vollbrächten auch die Heiden selbst wie wir gute Werke, da auch sie nicht weniger als wir glauben, durch ihre Werke sich zu retten oder Gott zu gefallen.

These 13: Die Intention kann vor Sünde bewahren, aber nicht die Errettung garantieren

(13. Daß es, außer gegen das Gewissen, keine Sünde geben kann)

* Wenn schließlich jemand fragt, ob jene Verfolger der Märtyrer oder Christi darin gesündigt hatten, worin sie Gott zu gefallen glaubten, oder ob sie davon ohne Sünde hätten ablassen können, was nach ihrer Meinung in keiner Weise ungeschehen gelas­sen werden dufte – präzise nach dem, wie wir weiter oben Sünde definiert haben: Gott verachten oder dem zustimmen, wovon man glaubt, man dürfe nicht zustim­men –, so können wir nicht sagen, jene hätten darin gesündigt. Und weder die Un­wissenheit von irgendwem noch die Ungläubigkeit selbst /56/ kann Sünde genannt werden, wenn auch so niemand gerettet werden kann. Jene nämlich, die Christus nicht kennen und deswegen den christlichen Glauben nicht annehmen, weil sie ihn für gotteswidrig halten: begehen sie in dem, was sie wegen Gott tun und worin sie meinen, gut zu tun, irgendeine Verachtung Gottes? Zumal wenn der Apostel sagt: ‘Wenn das Herz uns nicht verurteilt, haben wir gegenüber Gott Zuversicht.’ (1 Joh 3,21) Das heißt soviel wie: wo wir uns nichts gegen das Gewissen vornehmen, be­fürchten wir vergeblich, von Gott wegen einer Schuld unter Anklage gestellt zu wer­den. Aber: wenn derlei Unkenntnis am wenigsten der Sünde zuzurechnen ist, wieso betet der Herr selber für die ihn Kreuzigenden und sagt: ‘Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun’ (Lk 23,34), oder wieso sagt Stephanus, belehrt durch dieses Beispiel, für die Steiniger bittend: ‘Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an’ (Apg 7,60)? Es scheint nämlich nicht, daß vergeben werden muß, wo keine Schuld vorangegangen ist. Auch sonst ist es nur üblich, daß von Vergebenwerden ge­spro­chen wird, wo eine Strafe gegeben wird, die wegen einer Schuld verdient wurde. Stephanus nennt darüber hinaus offensichtlich Sünde, was aus Unwissenheit ge­schah.

These 14: Das Wort Sünde wird nicht einheitlich gebraucht

(14. Auf wie viele Arten wird das Wort Sünde verwendet?)

* Aber damit wir vollumfänglich auf das Entgegengehaltene antworten können, muß man wissen, daß das Wort Sünde auf verschiedene Arten verstanden wird. Im eigentlichen Sinn wird die Verachtung Gottes selbst oder die Zustimmung zum Bö­sen Sünde genannt – wie wir weiter oben in Erinnerung gerufen haben. Davon sind die Kinder und die geistig Behinderten nicht betroffen, die ja weder Verdienste noch Sünde haben, entbehren sie doch der Vernunft. Sie sind allein durch die Sakramente gerettet.

Auch das Sühneopfer wird Sünde genannt, gemäß dem, was der Apostel von Jesus Christus dem Herrn sagt, daß er zur Sünde gemacht wurde. (Vgl. 2 Kor 5,21)

Auch die Strafe für die Sünde wird Sünde oder Fluch genannt. Dem gemäß sagen wir: die Sünde sei erlassen worden, d. h., die eingeschlossene Strafe. Und: Jesus Chri­stus der Herr habe unsere Sünden getragen, d. h., er habe die Strafen für unsere Sün­den oder die aus diesen hervorgingen ausgehalten.

Aber wenn wir sagen, auch die Kinder hätten teil an der Erbsünde, oder, wir alle hätten gemäß dem Apostel in Adam gesündigt, so bedeutet das soviel, wie wenn er sagte, daß von dessen Sünde ausgehend wir bestraft werden oder uns der Richtspruch der Verdammung trifft. (Vgl. Röm 5,12-21)

Auch die Werke selbst oder etwas, das wir nicht /58/ recht machen oder wollen, nennen wir oft Sünde. Was meint denn ‘jemand hat eine Sünde begangen’ anderes als ‘er hat die Ausführung der Sünde vollendet’? Und da ist es nicht verwunderlich, wenn wir Geschehenes selbst andererseits Sünde nennen, gemäß jenem Wort des Athanasius: ‘Und sie werden Rechenschaft ablegen über die eigenen Taten. Und die, die Gutes getan haben, werden in das ewige Leben eingehen, die aber, die Schlechtes getan haben, in das ewige Feuer.’ Was heißt nämlich ‘über die eigenen Taten’? Wird etwa nur über das gerichtet, was sie im Werk vollbrachten, so daß der mehr Lohn erhält, der mehr Werke vollbracht hat? Oder bleibt jener vor der Verfluchung ver­schont, der das [Böse], das er beabsichtigte, nicht ausführte, oder [bleibt] der Teufel selbst [verschont], wenn er das, was er im Innersten vorhatte, nicht zur Ausführung brachte? Sicher nicht! So meint er mit ‘[Rechenschaft ablegen] über die eigenen Taten’ [eigentlich:] über ihre Zustimmung zu dem, was sie beschlossen haben zu machen, d. h., über die Sünden, die einem beim Herrn statt dem ausgeführten Werk ange­rechnet werden. Denn jener bestraft nämlich die Sünden so, wie wir die Werke.

Auch nannte Stephanus Sünde, was die Juden aus Unwissen ihm gegenüber be­gingen, [und meinte damit] die Strafe selbst, die jemand erleidet wegen der Sünde der ersten Eltern, wie auch aus anderen Gründen – oder er hat ihre ungerechte Handlung, die sie beim Steinigen ausübten, Sünde genannt. Er bat aber, daß sie nicht angeklagt würden, d. h., daß sie deswegen nicht körperlich bestraft werden.

These 15: Gott kann sinnvoll körperliche Strafen auferlegen

Häufig bestraft Gott auf Erden irgendwelche körperlich, auch wenn keine Schuld vorliegt – und dennoch nicht ohne Grund: z. B., wenn er Gerechten einen Stoß ver­setzt zu ihrer Reinigung oder Prüfung oder wenn er zuläßt, daß irgendwelche ge­schlagen werden, damit sie nachher davon befreit werden und er wegen der erwie­senen Wohltat gerühmt wird, so wie es mit jenem Blinden geschah, über den er selbst sagt: ‘Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, daß er blind zur Welt kam, son­dern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden.’ (Joh 9,3) Und wer würde es leugnen, daß manchmal die unschuldigen Söhne [zusammen] mit den bösen Eltern wegen deren Schuld gefährdet werden und schwer zu leiden haben, wie es in Sodom geschah (vgl. Gen 19,25) oder in zahlreichen Völkern oft geschieht, [und wer würde leugnen,] daß, je mehr die Strafe verschärft wird, desto mehr die Schlechten einge­schüchtert werden? Darauf war der heilige Stephanus sorgfältig aufmerksam und er bat, daß ihnen die Sünde – d. h. die Strafe, die er von den Juden ertrug, oder das, was jene zu unrecht taten –, nicht angerechnet werde, d. h., daß sie deswegen nicht kör­perlich bestraft werden.

* Der Meinung war auch der Herr, als er sagte: ‘Vater, /60/ vergib ihnen’ (Lk 23,34), d. h., räche nicht durch körperliche Strafe, was sie an mir tun. Wenn auch kei­nerlei Schuld ihrerseits vorlag, hätte dies freilich vernünftigerweise geschehen kön­nen, damit die anderen dadurch sehen oder sie selbst aus der Strafe hätten erkennen können, daß sie darin nicht recht handelten. Aber es gefiel dem Herrn, durch das Beispiel dieses Gebetes uns aufs äußerste zur Tugend der Geduld und zur Übung größter Liebe aufzumuntern, so daß er uns mit seinem eigenen Beispiel im Werk zeigte, was er selbst mit Worten lehrte, nämlich, daß wir selbst für die Feinde beten sollen. Als er nämlich sagte ‘vergib’, dachte er nicht an die vorange­hende Schuld oder die Verachtung Gottes, die hier vorliegen könnte. Sondern [er dachte] an den Anlaß der kommenden Strafe, die – wie gesagt – nicht ohne Grund hätte folgen kön­nen, auch wenn [zwar] keine Schuld vorangegangen war. So wie es dem Propheten widerfuhr, der, nach Samarien geschickt, etwas aß und damit etwas machte, was der Herr verboten hatte. Obschon er nichts zur Verachtung Gottes tat, sondern von ei­nem anderen Propheten getäuscht wurde, erlitt seine Unschuld dabei gleichwohl den Tod – nicht wegen einer Anklage der Schuld, sondern wegen der Ausführung des Werkes (vgl. 1 Kg 13,11-32). So erinnert der heilige Gregor der Große: ‘Freilich ändert Gott manchmal seine Ansicht, niemals aber seinen Plan.’ Das bedeutet: was Gott aus irgendwelchen Gründen vorzuschreiben oder zu ermahnen beschlossen hat, läßt er oft nicht zu erfüllen zu. Sein fester Plan bleibt wahrlich im­mer bestehen, d. h., was in seinem Vorauswissen geplant ist, das ermangelt niemals der Ausführung. Aber in der Aufforderung Abrahams, seinen Sohn zu opfern (vgl. Gen 22), oder bei der nicht eingehaltenen Drohung gegen Ninive (vgl. Jonas 3) ändert er, wie gesagt, die An­sicht, und so glaubte auch der erwähnte Prophet, dem Gott verboten hatte, unterwegs zu essen, Gottes Ansicht habe sich geändert. Er [befürchtete,] gewaltig zu sündigen, wenn er nicht auf den anderen Propheten hörte, der ihm beteuerte, von Gott zu ihm geschickt zu sein, damit er sich durch eine Speise von der Ermattung erhole. Dieser machte also frei von jeglicher Schuld das, wodurch er meinte, Schuld zu vermeiden. Aber der unvermutete Tod hat ihm nicht geschadet, da er ihn befreit hat vom Jammer dieses Lebens, und zum Voraussehen hat dieses [Beispiel] vielen geholfen, wenn sie so den Gerechten unschuldig bestraft sehen. So wird in ihm das erfüllt, was anderswo vom Herrn gesagt wird: ‘Du Gott, da du ge­recht bist, ordnest du alles gerecht an, auch wenn du den verdammst, der nicht be­straft werden sollte.’ (Weish 12,15) Verdammen zum leiblichen, nicht zum ewigen Tod. Wie nämlich ei­nige ohne Verdienst gerettet werden – wie /62/ die Kinder – und allein aus Gnade das ewige Leben erlangen, so soll es auch nicht absurd sein, daß viele körperliche Strafen erleiden, die sie nicht verdient haben. Wie es z. B. auch von den ungetauft verstorbenen Kindern feststeht, daß sie sowohl zum leiblichen als auch zum ewigen Tod verdammt sind, so schmachten auch [sonst] viele Unschul­dige. Ist es nun be­fremdlich, wenn die Kreuziger Christi aus dieser unrechten Handlung – wenn auch ihre Unwissenheit sie von Schuld befreit – logischerweise einer zeitlichen Strafe ver­fallen könnten? Und so wurde gesagt: ‘Vergib ihnen’, d. h., fordere keine Strafe, der sie zwar logischerweise – wie gesagt – [durchaus] verfallen könnten.

* So wird auch das, was jene aus Unwissenheit begingen, oder gar die Unwissen­heit selbst nicht eigentlich Sünde, d. h. Verachtung Gottes, genannt; und auch der Unglaube nicht, obschon dieser selbst notwendigerweise den Erwachsenen, die von ihrer Vernunft Gebrauch machen können, den Zugang zum ewigen Leben versperrt. Zur Verdammnis reicht es gewiß, glaubt man nicht an das Evangelium; ignoriert man Christus, empfängt man die Sakramente der Kirche nicht – selbst wenn dies nicht so sehr aus Bösartigkeit, sondern aus Unkenntnis geschieht. Darüber spricht auch die Wahrheit: ‘Wer nicht glaubt, ist schon gerichtet.’ (Joh 3,18) Und der Apostel sagt: ‘Wer das nicht anerkennt, wird nicht anerkannt werden.’ (1 Kor 14,38)

These 16: Von Sünde kann nur gesprochen werden, wo auch Glaube ist

* Wenn wir aber sagen, wir sündigen unbewußt, d. h. soviel, wie etwas tun, was sich nicht gehört, so brauchen wir das Wort sündigen nicht [im Sinne von] Verach­tung [Gottes], sondern [im Sinne von] Handlung. Denn auch die Philosophen verste­hen unter sündigen etwas machen oder sagen, das sich nicht gehört, auch wenn dies scheinbar nichts mit einem Angriff auf Gott zu tun hat. Daher sagt Aristoteles [in den Kategorien, im Kapitel] über das Relative, /64/ wo er über die falschen Angaben von Korrelaten spricht: ‘Gleichwohl scheinen [Relativa und Korrelativa] manchmal nicht reziprok zu sein – wenn das, in bezug worauf etwas gesagt wird, nicht nach seiner Eigentümlichkeit angegeben worden ist, sondern der, der es angibt, es verfehlt hat. [Zum Beispiel,] wenn ein Flügel angegeben ist als der eines Vogels, so ist Vogel eines Flügels nicht reziprok.’ Wenn wir also in dieser Art alles Sünde nennen, was wir li­stig betreiben oder was wir haben, das gegen unser Heil [ist], so müssen wir auch den Unglauben und das Mißachten dessen, was wir zum Heil als notwendig er­ach­ten, Sünde nennen, auch wenn dabei keinerlei Verachtung Gottes erscheint.

Deshalb glaube ich, daß eigentlich nur das Sünde zu nennen ist, was niemals ohne Schuld geschehen kann. Gott wirklich mißachten oder nicht an ihn glauben oder Werke [vollbringen], die an sich unrecht sind, [das alles] kann vielen ohne Schuld zustoßen. Wenn nämlich einer nicht an das Evangelium oder Christus glaubt, weil die Verkündigung noch nicht zu ihm gelangt ist, [so kann man] mit dem Apo­stel [fragen]: ‘Wie sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören, wenn niemand verkündigt?’ (Röm 10,14) Welche Schuld kann ihm daraus angerechnet werden, daß er nicht glaubt? Kornelius glaubte nicht an Christus, bis Petrus, zu ihm geschickt, ihn selbst über Christus unterrichtete. (Vgl. Apg 10) Aber er erkannte Gott gleichwohl durch das Naturgesetz immer schon und liebte ihn, wodurch er es verdiente, in seinem Gebet erhört zu werden und von Gott ange­rechnete Almosen zu haben; dennoch, wenn es geschehen wäre, daß er vor dem [Empfang des] Glauben[s] an Christus von diesem Licht hinübergewandert wäre, hätten wir es keineswegs gewagt, ihm das ewige Leben zu versprechen, wie zahl­reich auch seine guten Werke schienen. Wir rechneten ihn nicht zu den Gläubigen, sondern eher zu den Ungläubigen, wie sehr er auch mit Eifer für das Wohl beschäf­tigt gewesen sein mochte. Gewiß, die Urteile Gottes sind von unermeßlicher Tiefe, und nicht selten erwählt er die, die sich widersetzen oder sich wenig um ihr Heil kümmern. (Vgl. Ps 36,7) Und die, die sich anerbieten oder bereiter sind zu glauben, weist er im tiefsten Ratschluß seiner Anordnung von sich. So wies er nämlich jenen zurück, der sich hingab und sprach: ‘Meister, ich will dir folgen, wohin du auch gehst.’ (Mt 8,19) [Während] er von einem anderen, der sich entschuldigte mit der Be­sorgnis, die er für seinen Vater hatte, diese Entschuldigung aus Gründen der Hoch­achtung auch nicht für eine Stunde hinnahm. Schließlich sagte er auch, die Ver­stocktheit gewisser Städte tadelnd: ‘Weh dir, Chorazin! Weh dir, Betsaida! Denn, wenn in Tyrus und Sidon die Wunder geschehen wären, die bei euch geschehen sind, man hätte dort schon längst in Sack und Asche Buße /66/ getan.’ (Mt 11,21) Siehe, jenen brachte er nicht nur seine Predigt, sondern wahrlich auch Demonstrationen von Wundern, auch wenn er schon wußte, daß sie nicht glauben werden. Er wußte, daß diese anderen Städte der Heiden gerne bereit gewesen wären, den Glauben an­zunehmen, dennoch hielt er sie nicht für eines Besuches würdig. Wenn [nun aber] in diesen [Städten] welche untergehen, denen das Wort seiner Predigt vorenthalten wird, auch wenn sie bereit sind, es zu empfangen, wer kann [denen] das als ihre Schuld anrechnen, was ohne jegliche Geringschätzung geschieht, wie wir sehen? Und dennoch sagen wir, daß dieser ihr Unglaube, in dem sie sterben, zur Verdammung reicht, obschon deren Blindheit, in die der Herr sie entließ, uns weniger als Grund erscheinen mag. Wenn nun einer dies ganz und gar zu deren Sünde rechnet – [allerdings] ohne Schuld –, so tut er das vielleicht, weil es ihm absurd erscheinen mag, solche ohne Sünde zu verdammen.

* Wir denken dennoch, daß Sünde im eigentlichen Sinn – wie wir schon oft erinnert haben – nur das genannt wird, was in der Schuld der Geringschätzung besteht, und dies kann bei keinem vorliegen, welchen Alters er auch ist, ohne daß er daraus nicht die Verdammung verdiente. Ich sehe nicht, wie nicht wahrhaft an Christus glauben, also Unglauben – z. B. bei Kindern oder bei denen, denen der Glaube nicht verkün­det worden ist –, oder was auch immer aus unüberwindlichem Unwissen geschieht oder was wir nicht voraussehen können, als Schuld angerechnet werden muß. Wie wenn vielleicht einer im Wald mit einem Pfeil einen Menschen umbringt, den er nicht gesehen hat, während er beabsichtigte, auf Wild oder Vögel zu schießen. Wenn wir dennoch etwas ‘Sündigen aus Unkenntnis’ nennen, so wie wir manchmal sagen, nicht nur in der Zustimmung, sondern auch in Gedanken, Worten oder Werken zu sündigen, so verwenden wir [sündigen] an dieser Stelle nicht eigentlich für die Schuld, sondern nehmen nämlich im weitesten [Sinne] das hinzu, was sich am we­nigsten gehört, daß wir es machen, oder das, was aus Irrtum oder Geringschätzung oder aus irgendeinem Grund geschieht, der sich nicht gehört. Unschuldig tun, was sich für uns nicht gehört, das ist also aus Unwissenheit sündigen. Oder in Gedanken, d. h. im Willen sündigen, [bedeutet] zu wollen, was sich für uns am wenigsten ge­hört; oder in Worten und Werken [sündigen bedeutet], daß wir etwas sagen oder tun, das nicht billig ist, auch wenn uns dies aus Unkenntnis oder unwillentlich ge­schieht. Und so sagen wir, daß jene durch das Werk gesündigt haben, die Christus und die Seinen verfolgten und von ihnen glaubten, daß sie verfolgt werden müssen. Aber sie hätten schwerer aus Schuld gesündigt, wenn sie jene gegen das Gewissen geschont hätten. /68/

These 17: Es gibt zwei Stufen von Sünden

(15. Ob jede Sünde verboten ist)

* Nun wird gefragt, ob Gott uns jede Sünde verbietet. Wenn wir daran festhalten, scheint es, daß er dies unvernünftig getan hat, weil dieses Leben in keiner Weise ohne wenigstens läßliche Sünden gelebt werden kann. Auch wenn er uns nämlich vorgeschrieben hat, uns vor allen Sünden zu hüten, so können wir das nicht; und so hat er uns [mit dieser Vorschrift] keineswegs ein süßes Joch oder eine leichte Last auferlegt, wie er es selbst versprochen hat (vgl. Mt 11,30), sondern eine [Last], die unsere Kräfte bei weitem übersteigt und die wir kaum tragen können. So hat auch schon der Apostel Petrus von dem Joch des Gesetzes gesprochen. (Vgl. Apg 15,10) Wer kann sich nämlich immer vor einem vielleicht überflüssigen Wort vorsehen, so daß er niemals die Vollkommenheit verläßt und hält, was Jakobus sagt: ‘Wer sich im Wort nicht verfehlt, ist ein vollkommener Mann’ (Jak 3,2)? Er hat nämlich vorausge­schickt: ‘Wir alle verfehlen uns in vielen Dingen’(Jak 3,2), und ein anderer Apostel sagt mit großer Präzision: ‘Wenn wir sagen, daß wir keine Sünde haben, führen wir uns selbst in die Irre, und die Wahrheit ist nicht in uns’ (1 Joh 1,8); wie schwierig, ja, unmöglich scheint es da für unsere Schwachheit, frei von jeglicher Sünde zu bleiben – ich denke, daß das niemandem verborgen bleibt. So [ist es], sage ich, wenn wir das Wort Sünde, wie gesagt, weit fassen und auch all das Sünde nennen, was immer wir machen, was sich nicht gehört. Wenn wir aber Sünde im eigentlichen Sinn verstehen und nur die Verachtung Gottes Sünde nennen, dann kann man tatsächlich ohne Sünde dieses Leben verbringen, wenn auch mit größten Schwierigkeiten. Wie oben erinnert, wurde uns von Gott tatsächlich nichts verboten außer der Zustimmung zum Bösen, wodurch wir Gott verachten – wenn es auch scheint, daß auch über Werke Vorschriften erlassen wurden, wie wir oben erläutert haben, wo wir aber an­dererseits auch gezeigt haben, daß [dann] seine Vorschriften in keiner Weise befolgt werden können.

* Von den Sünden werden aber die einen läßlich und gleichsam leicht genannt, an­dere verdammenswert oder schwer. Von den verdammenswerten Sünden werden wiederum die einen verbrecherisch genannt, da sie es beim Bekanntwerden mit sich bringen, daß jemand berüchtigt oder verbrecherisch wird, andere werden allerdings nicht [so eingestuft]. Läßliche oder leichte Sünden liegen vor, wenn wir zu etwas zu­stimmen, von dem wir [eigentlich] wissen, daß man nicht zustimmen sollte, uns dann aber [das], was wir wissen, nicht rechtzeitig in den /70/ Sinn kommt. Wir wis­sen nämlich viele [Dinge], auch wenn wir schlafen oder wenn wir uns derer gerade nicht entsinnen. Wenn wir schlafen, entlassen wir nämlich nicht unser Wissen und werden dumm oder werden weise, wenn wir erwachen. Deshalb stimmen wir bis­weilen leerem Geschwätz, üppigem Essen oder Trinken zu, wovon wir dennoch wis­sen, daß es niemals zu tun ist, aber im Moment erinnern wir uns kaum dessen, was nicht getan werden soll. Deshalb nennt man solche Zustimmungen, die wir aus Ver­gessenheit begehen, läßliche oder leichte Sünden, d. h., wir haben nicht zu fürchten, sie mit einer großen Strafe der Genugtuung gutmachen zu müssen, wie entweder aus der Kirche ausgeschlossen oder mit schwerer Abstinenz gedrückt zu werden.

Nun, für den Erlaß solcher bereuten Unachtsamkeiten sprechen wir häufig die Worte des täglichen Schuldbekenntnisses, bei dem weniger die schweren Schuldtaten in Erinnerung zu rufen sind als eher die leichten. Dort sollen wir ja nicht sprechen: Ich habe gesündigt in Meineid, Mord, Ehebruch und gleichem, was verdammens­würdige und schwere Sünden genannt werden. Diese unterlaufen uns doch wirklich nicht aus Vergeßlichkeit wie jene, sondern wir begehen sie eher aus Eifer und nach reiflicher Überlegung, und sie sind auch für Gott abscheulich gemäß dem [Vers] des Psalmisten: ‘Abscheulich werden sie in ihrem Eifer’ (Ps 14,1), also gleichsam: ver­wünschenswert und sehr hassenswert wegen dem, was sie willentlich wagen. Ge­wisse von diesen [Sünden] werden verbrecherisch genannt: die [nämlich], die durch die Ausführung bekannt werden und die den Menschen mit dem Makel einer gro­ßen Schuld besudeln und dessen Ruf am meisten erniedrigen. [Es sind] die Zustim­mung zu Meineid, Mord und Ehebruch, die der Kirche am meisten ein Ärgernis sind. Wenn wir uns aber wahrlich mehr dem Essen hingeben, als es nötig ist, oder wenn wir uns aus eitler Ruhmes[sucht] mit teurem Schmuck schmücken und wenn wir dies [selbst] wissentlich machen, so ist dies nicht als verbrecherische [Sünde] zu er­achten – von vielen bringt es [einem gar] mehr Lob als Tadel ein. /72/

These 18: Sünden sollen unterschiedslos vermieden werden

(16. Ob es besser ist, sich von leichteren oder von schwereren Schulden zu enthalten)

* Es gibt [Leute], die sagen, es sei deshalb vorteilhafter und um so besser, sich vor läßlichen Sünden vorzusehen als vor verbrecherischen, weil dies als schwieriger er­achtet wird und die Sorge um größeren Eifer benötige.

Diesen antworte ich zunächst ciceronisch dies: ‘Was mühevoller ist, muß nicht ruhmreicher sein.’ Sonst hätten bei Gott die, die das schwere Joch des Gesetzes tra­gen, größeres Verdienst als die, die in evangelischer Freiheit dienen, weil die Furcht Mühen mit sich bringt, die die vollkommene Liebe abweist, und was auch immer aus Furcht gemacht wird, das machen [jene] mit mehr Mühe als diese, die die Liebe zu Spontaneität ermuntert (vgl. 1 Joh 4,18). Daher ermahnt der Herr die Mühseligen und Beladenen, das süße Joch und die leichte Last auf sich zu nehmen (vgl. Mt 11,28-30), damit sie von der Knechtschaft des Gesetzes, durch die sie gedrückt werden, übergehen zur Freiheit des Evangeliums, und daß die, welche durch Furcht etwas in Angriff nehmen, dies durch Liebe annehmen; Liebe, die ohne Schwierigkeit alles er­leidet und erträgt (vgl. 1 Kor 13,7). Nichts fällt dem Liebenden nämlich schwer, vor allem, weil die nicht fleischliche, geistige Liebe Gottes um so stärker ist, je wahrer sie ist. Wer wüßte denn nicht, daß es schwieriger ist, uns vor einem Floh vorzusehen als vor einem Feind oder vor dem Anstoß an einem kleinen Stein als [vor dem] an ei­nem großen? Aber beurteilen wir es nun so sehr als besser oder heilbringender, sich vor dem zu hüten, was schwieriger ist? Wohl nicht! [Und] warum? Weil das, wovor es einfacher ist, sich zu hüten, weniger schaden kann. Auch wenn wir annehmen, daß es schwieriger ist, sich vor läßlichen Sünden zu hüten als vor verbrecherischen, so gehört es sich trotzdem, jene mehr zu meiden, die gefährlicher sind und eine grö­ßere Strafe verdienen und durch die wir glauben, Gott mehr zu verletzen und ihm durch diese mehr zu mißfallen. Je stärker wir nämlich durch Liebe an ihm hängen, um so eifriger müssen wir uns vor den [Sünden] bewahren, durch die er mehr ange­griffen wird und die er am meisten tadelte. Wer nämlich jemanden wahrlich liebt, müht sich nicht so sehr, sich vor der eigenen Verfluchung als vor dem Angriff auf den Freund oder vor [dessen] Verachtung zu hüten; gemäß jenem [Vers] des Apo­stels: ‘Die Liebe sucht nicht das Ihre.’ (1 Kor 13,5) Oder wiederum: ‘Niemand möge suchen, was ihm ist, sondern was dem andern ist.’ (1 Kor 10,24) Wenn wir uns also nicht so sehr wegen unserer Verdammung, sondern wegen des Angriffes auf Gott vor Sünden hüten müssen, so sind tatsächlich jene mehr zu vermeiden, durch die wir mehr angreifen. Wenn wir auch achten auf jenes poetische Wort über die Ehrbarkeit der Sitten: ‘Gute hassen das Sündigen aus Liebe zur Tugend’, so sind irgendwelche Dinge mehr zu hassen, für je /74/ schändlicher sie von sich aus zu halten sind, je mehr sie von der Ehrbarkeit der Tugend abweichen und selbstverständlich je mehr sie anderen schaden.

* Schließlich, um die einzelnen Sünden einander gegenüberstellend sorgfältiger zu unterscheiden, wollen wir läßliche mit verbrecherischen [Sünden], also übermäßiges Essen mit Meineid und Ehebruch vergleichen; und wir wollen fragen, in welcher Überschreitung wir mehr sündigen oder mehr Gott verachten und angreifen.

Diskussion zur 18. These

Ich weiß nicht, wirst du vielleicht antworten, denn viele Philosophen beurteilten alle Sünden gleich.

Aber wenn du dieser Philosophie folgen willst, die eher eine offensichtliche Torheit ist, ist es ebenso gut, sich von verbrecherischen wie von läßlichen Sünden fernzuhalten, weil es auch ebenso schlecht ist, solche und andere zu begehen. Warum wagt aber jemand, das Ablassen von läßlichen [Sünden] dem von verbrecherischen vorzuziehen?

Jemand mag vielleicht fragen, woher wir erraten können, daß wir Gott mehr mißfallen beim Begehen eines Ehebruches als bei maßlosem Essen.

Das göttliche Gesetz, wie ich meine, kann uns lehren, daß zur Bestrafung des zweiten keine Genugtuung als Strafe vorgesehen ist, daß für das erste aber erlassen worden ist, nicht mit irgendeiner Strafe bestraft, sondern zur Todesstrafe verdammt zu werden. Da, wo nämlich die Liebe zum Nächsten, die der Apostel ‘die Erfüllung des Gesetzes’ nennt (Röm 13,10), mehr verletzt wird, geschieht auch mehr gegen [das göttliche Gesetz] und wird mehr ge­sündigt.


* Ich scheue es keineswegs: wenn auf diese Weise einzelne läßliche und verbreche­rische Sünden gegenseitig miteinander verglichen worden sind, dann wollen wir auch gleichzeitig diese insgesamt mit jenen vergleichen, damit wir vielleicht völlig zufriedenstellen können. Nehmen wir also an, daß irgendwer mit großem Eifer sich vor allen läßlichen Sünden hütet, aber sich nicht sorgt, verbrecherische [Sünden] zu vermeiden und, obschon er sich vor all jenen hütet, diese alle vollbringt: wer würde urteilen, daß dieser dabei weniger schwer sündigt? Oder, daß es besser sei, wenn er vor den läßlichen sich hütend den verbrecherischen verfällt? Und so, meine ich, ist nach diesem Vergleich klar, daß es nicht besser oder eine größere Vollkommenheit ist, sich vor läßlichen Sünden mehr in acht zu nehmen als vor verbrecherischen. /76/ Wenn aber einer, nachdem er zuvor die [läßliche Sünde] vermied, anschließend [auch] die [verbrecherischen], wie es sich gehört, vermeiden konnte, so gestehe ich gewiß ein, daß darin dessen Tugend zur Vollkommenheit gelangt ist; dennoch sind weder diese letzteren, in denen die Vollendung der Tugend besteht, den ersten vor­zuziehen, noch sind sie eines größeren Lohnes würdig. Denn beim Bau eines Hauses leisten oft die, die dasselbe vollenden, weniger als die, die zuvor tätig waren; und die, die den obersten Balken zur Vollendung der Arbeit hinzufügen, stellen das Haus fertig, das [eigentlich gar] kein Haus war, solange es unfertig gewesen war.

Methodische Bemerkung 2: Überleitung

* Ich meine, daß uns dies, was wir zum Erkennen der Sünde erarbeitet haben [und] was [uns] in den Sinn gekommen ist, ausreicht, so daß man sich um so besser davor hüten kann, je sorgfältiger man erkannt hat. Die Erwähnung des Übels durfte für den Gerechten nicht fehlen, weil man sich nicht vor Fehlern hüten kann, ohne Kenntnis [von ihnen] zu haben.

II. Die Wiedergutmachung der Sünden

Methodische Bemerkung 3: Einleitung zur zweiten Hälfte

(17. Über die Wiedergutmachung der Sünden)

* Und da wir nun die Wunde der Seele gezeigt haben, eifern wir jetzt danach, das Heilmittel zur Genesung zu zeigen. Gemäß Hieronymus, der sagte: ‘Arzt! Wenn du kundig bist, dann zeige [den Weg zur] Heilung, so wie du den Grund der Krankheit hast finden können.’ Wenn wir also im Sündigen Gott verletzen, bleibt [die Frage], auf welche Weisen wir wieder mit ihm versöhnt werden können. Und so gibt es drei Schritte zur Wiederversöhnung des Sünders mit Gott, nämlich die Reue, das Be­kenntnis und die Genugtuung.

These 19: Es gibt zwei Arten von Reue

(18. Was Reue eigentlich meint)

* Reue im eigentlichen Sinn nennt man den Schmerz der Seele über das, worin ei­ner gefehlt hat: wenn sich also jemand schämt über irgend etwas, das er begangen hat. Diese Reue aber regt sich bald aus Liebe zu Gott und ist fruchtbar, bald wegen irgendeinem Schaden, durch den wir nicht belästigt werden wollen: sie ist gleich je­ner Reue der Verdammten, über die geschrieben wurde: ‘[Die Gerechten] sehend, packt sie entsetzliche Furcht, und sie wundern sich über [deren] unerwartete Ret­tung. /78/ Sie sagen zueinander, von Schuld getrieben und vor Angst im Geist seuf­zend: Diese waren es, die wir einst verlachten ...’ (Weish 5,2-4)

Wir lesen auch über Reue bei Judas [, und zwar Reue] darüber, daß er den Herrn verraten hatte. (Vgl. Mt 27,3) Was ihn, wie wir glauben, nicht so sehr wegen der Schuld der Sünde überkam als wegen der Selbstverachtung, da er sich im Gericht gänzlich verdammt fühlte. Wer nämlich jemanden, durch Geld oder sonst wie besto­chen, ins Verderben gestürzt hat, der ist niemandem weniger wert als dem, der ihn zum Verräter hatte. Und niemand wird sich ihm weniger anvertrauen als der, der dessen Untreue am meisten erfahren hat. Täglich sehen wir nämlich viele, die ver­übte Schandtaten bereuend aus diesem Leben scheiden und vor schwerer Zerknir­schung aufseufzen, [allerdings] nicht so sehr aus Liebe zu Gott, den sie verletzt ha­ben, oder aus Haß vor der Sünde, die sie begangen haben, sondern aus Furcht vor der Strafe, in die sie sich hineinstürzen sehen. Solche [Menschen] bleiben auch darin ungerecht, weil ihnen nicht so sehr das Unrecht der Schuld mißfällt, sondern die Schwere der Strafe, die gerecht ist. Und sie hassen nicht so sehr das, was sie be­gan­gen haben, weil es schlecht war, sondern sie fürchten das gerechte Gericht Gottes wegen der Strafe; sie hassen Gerechtigkeit mehr als Unrecht. Diese wurden lange Zeit erwartet und gerufen, daß sie sich von ihren Übeln abwendeten, und so liefert die göttliche Gerechtigkeit sie endlich einem verwerflichen Geist aus. Und mit Blind­heit geschlagen, schleudert er sie schlichtweg von seinem Antlitz weg, so daß sie we­der von der heilbringenden Reue Kenntnis haben noch erkennen können, wie Ge­nugtuung zu leisten ist.

* Wie viele sehen wir denn täglich sterbend tief seufzen, heftig sich anklagend we­gen Wucher, Raub, Unterdrückung Armer oder wegen irgendwelcher Ungerechtig­keiten, die sie begangen haben, und wegen des Büßens jener [Untaten] den Priester befragen. Wenn diesen, wie es sich gehört, zuerst dieser Rat gegeben wird, daß sie mit dem Verkauf von allem, was sie haben, den andern das zurückerstatten [kön­nen], was sie ihnen entwendet haben – gemäß den Worten des Augustinus: ‘Wenn eine fremde Sache, die zurückgegeben werden kann, nicht zurückgegeben wird, wird nicht /80/ Reue geübt, sondern vorgespielt’ –, [dann] zeigen sie sofort mit ihrer Antwort, wie leer ihre Reue ist. Sie sagen: Wie soll dann mein Hauswesen überleben? Was kann ich meinen Kindern, was meiner Frau hinterlassen? Wie kön­nen sie für ihren Unterhalt aufkommen? Zunächst entgegnet diesen jener Tadel des Herrn: ‘Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast?’ (Lk 12,20)

Predigtartiger Exkurs zur unfruchtbaren und fruchtbaren Reue

Du Armer, wer auch immer du bist, mehr noch, Ärmster aller Armen und Törichtster aller Toren, du siehst dich ja nicht für das vor, was dir bleiben wird, sondern für das, womit du die andern bereicherst. Mit welcher Anmaßung verletzt du Gott, vor dessen schreckliches Gericht du gezerrt wirst, indem du dir Freunde machst, die du mit dem Raub an den Armen bereicherst? Wer soll nicht über dich lachen, wenn er dich hört, daß du hoffst, dir andere geneigter zu machen, als du dir selbst bist? Du vertraust den Almosen [, die du den] Deinen [gibst, und] du setzt diese – weil du glaubst, sie als Nachfolger zu haben – gleichermaßen als Erben deiner Un­gerechtigkeiten ein, da du ihnen durch Raub fremden Besitz zurückläßt. Du ent­reißt den Armen das Leben, indem du ihnen das Ihre wegnimmst, von dem sie sich ernähren, und du trachtest, in ihnen erneut Christus zu töten, gemäß dem, was er selbst sagt: ‘Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.’ (Mt 25,40) Was also erwartest du, der du den Deinen gegenüber un­ge­recht und gleichermaßen dir und Gott gegenüber grausam bist, vom gerechten Richter, dem du, ob du gerichtet werden willst oder nicht, entgegeneilst und der von dir nicht nur über die Raube Rechenschaft fordert, sondern auch über [jedes] überflüssige Wort? (Vgl. Mt 25,31-44) Er hat an der Strafe der ersten Menschen so­fort gezeigt, wie streng er bei der Vergeltung ist. Einmal [nur] hat Adam ge­sün­digt, und, wie der selige Hieronymus erinnert, im Vergleich zu unseren Sünden ist dessen Sünde äußerst leicht gewesen: Weder hat er irgendwen durch Gewalt un­terdrückt noch irgendwem irgendwas gestohlen, er hat nur einmal von einer Frucht gekostet, die nicht unersetzlich war. In diesem auch noch so leichten Ver­gehen, das sich durch die Strafe auch auf die gesamte Nachwelt auswirkt, gedachte Gott zu zeigen, was [erst recht] aus größeren Schulden entstehen wird. Der Reiche, von dem der Herr sagt, er sei zu den Toten hinabgestiegen, nicht weil er Fremdes raubte, sondern weil er von dem Besitz, /82/ von dem er gleichsam zu Recht aß, dem bedürftigen Lazarus nichts hat zukommen lassen. (Vgl. Lk 16,19ff) [Und das] lehrt [uns] klar, mit welcher Strafe die getroffen werden, die Fremdes rauben, wenn [schon] jener, der von seinem eigenen Gut nichts geteilt hat, so verdammt und in der Hölle begraben wird. Während mit dir auch die Erinnerung an dich zu Grabe getragen wird und während die Tränen derer, die bei deinem Begräbnis da­bei waren, schnell trocknen – gemäß dem Spruches des Rhetors Apollonius: ‘Nichts trocknet schneller als eine Träne’ –, hat sich deine Gattin in Bälde zu einer neuen Hochzeit vorbereitet. So wird sie mit dem, was du an Geraubtem ihr hin­terlassen hast, den Freuden des neuen Ehemannes eifrig dienen. Und wie bis jetzt mit der Gegenwart deines Körpers, wird sie das Bett mit einem fremden wärmen, während du Unglücklicher in den Flammen der Hölle für diese Freuden büßt! Das­selbe ist auch von deinen Kindern zu erwarten. Wenn vielleicht jemand die, die sich deiner erinnern, fragt, warum sie nicht mit ihren Almosen dir etwas zugute tun, scheinen sie sich mit vielen Gründen entschuldigen zu können. Weil sie näm­lich so antworten können: Da jener sich selbst nicht hat gnädig sein wollen, wie dumm war es dann zu hoffen, daß die andern ihm gnädig sein werden, und [wie dumm] andern das Heil seiner Seele zu übertragen, wofür er sich am meisten selbst hätte vorsehen müssen. Wen hätte er sich [denn] gnädiger glauben können als sich [seiner] selbst? Er, der grausam war sich selbst gegenüber, wessen Er­bar­men vertraute er sich an? Sie können sodann selbst seinen Geiz als Ent­schuldi­gung vorbringen und sagen: Darüber hinaus wissen wir, daß die Güter, die er selbst uns hinterließ, nicht gedacht sind, daß wir aus denen selbst Almosen zu ma­chen hätten. Alle werden lachen, auch die, die das hören, müssen lachen. Jener ist wahrlich ein Unglücklicher, der die beraubten Armen zu seinen Lebzeiten wei­nen ließ, [denn] er wird dort für immer weinen. Es gibt Leute, die ihre Gering­schät­zung [der Armen] nicht vor Gott, [aber] vor den Menschen verstecken wollen: Sie sagen, um die Entschuldigung für die Sünden zu rechtfertigen, es seien so viele, die sie beraubt hätten, daß sie es überhaupt nicht wissen oder wiedergutmachen können. Da sie darüber keinerlei Besorgnis verspüren, laufen sie nach dem apo­stolischen Wort jenem Gericht entgegen: ‘Wer nicht anerkennt, wird nicht aner­kannt werden.’ (1 Kor 14,38) [Aber] sie finden jene [Beraubten deshalb] nicht, weil sie nicht suchen; die rechte [Hand] Gottes, den sie verachtet haben, wird diese fin­den. [Über seine Hand] steht auch geschrieben: ‘Deine Rechte wird alle finden, die dich hassen.’ (Ps 21,9) Derselbe Prophet, der dies gesagt hat, erschreckt um so mehr und denkt, daß es keinen Ort gibt, um [der Rechten] zu entgehen; er sagt an­derswo: ‘Wohin werde ich fliehen vor deinem Geist, wohin mich vor deinem An­gesicht flüchten? Steige ich hinauf in den Himmel, so bist du dort; /84/ steig ich hinab in die Unterwelt, bist du zugegen.’ (Ps 139,7f) Und weil der Geiz vieler Prie­ster nicht geringer ist als der des Volkes – gemäß jener Stelle beim Propheten Ho­sea: ‘Und die Priester werden sein wie das Volk’ (Hosea 4,9) –, verführt die Gier der Priester viele der Sterbenden. Sie versprechen ihnen eine falsche Sicherheit, wenn sie ihren Besitz in Opfern darbringen und [damit] Messen kaufen, die [die Priester] niemals umsonst lesen. Bei diesem Handel steht gewiß fest, daß bei ihnen ein festgelegter Preis besteht: für eine Messe ein Denar, für Messen und alle Stun­dengebete während dreissig Tagen fünf Solidi und während einem Jahr sech­zig Solidi. Sie beraten die Sterbenden nicht, das Geraubte zurückzuerstatten, sondern, daß sie jenes Opfer darbringen, obschon das Gegenteil geschrieben steht: ‘Wer ein Opfer darbringt vom Gut der Armen, der schlachtet gleichsam den Sohn vor den Augen des Vaters.’ (Jes Sir 34,24) Es ist nämlich schwerer für den Vater, wenn die Hinrichtung des Sohnes vor seinen Augen ausgeführt wird, als wenn er sie nicht sieht. Und der Sohn wird praktisch durch ein Opfer umgebracht, wenn das Gut ei­nes Armen, worin sein [ganzes] Leben bestand, als Opfer dargebracht wird. Und die Wahrheit, die Erbarmen dem Opfer vorzieht, spricht: ‘Geht und lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer.’ (Mt 9,13/Hosea 6,6) Schlechter als keine Barmherzigkeit zu üben ist es, Geraubtes zurückzuhalten, d. h., [es ist schlechter,] den Armen das Ihre vorzuenthalten als das Unsere nicht zu geben, wie wir auch oben bei der Verurteilung des Reichen schon in Erinnerung gerufen ha­ben.

(19. Über die fruchtbare Reue)

* Und weil wir über die unfruchtbare Reue gesprochen haben, [so] wollen wir um so sorgfältiger die fruchtbare beschauen, die um so heilbringender ist. Zu ihr lädt der Apostel jeden Verstockten ein und [auch] jeden, der das Gericht Gottes ohne Furcht erwartet. Er sagt: ‘Verachtest du etwa den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, daß die Güte Gottes dich zur Umkehr treibt?’ (Röm 2,4) Mit diesen Worten zeigt er nämlich klar, was fruchtbare Reue ist, und daß sie vielmehr aus Liebe zu Gott als aus Furcht entsteht, so daß wir [es] nämlich mehr bedauern sollen, Gott beleidigt oder verachtet zu haben, weil er [so] gut ist, [als ihn zu fürchten,] weil er [so] gerecht ist. Je länger wir ihn nämlich verachten, weil wir nicht glauben, er richte seine Verachtung sofort – [ganz] im Gegenteil zu den welt­lichen Fürsten, die sich nicht zurückzuhalten wissen, wenn sie beleidigt werden, und die Rache für ihre Beleidigung nicht aufschieben –, um so gerechter erlegt er uns für die Verachtung eine schwere /86/ Strafe auf; und um so schärfer ist er bei der Rache, je geduldiger er beim Warten gewesen ist. Dies zeigt der erwähnte Apostel etwas weiter, wenn er sagt: ‘Wegen deiner Härte aber und [weil] dein Herz nicht bereut, sammelst du Zorn gegen dich für den ‘Tag des Zornes’.’ (Röm 2,5) Dann [wird] Zorn [herrschen, wo] jetzt Milde [ist], weil dann Vergeltung [geschieht, wo] jetzt Geduld [waltet]. Während dort Gerechtigkeit waltet, wird er seine Verachtung um so mehr rächen, je weniger er hätte verachtet werden sollen, und je länger er es geduldet hat. Wir fürchten, Menschen zu beleidigen, und deren Beleidigung fliehen wir nicht aus Furcht, sondern wir meiden sie aus Achtung. Wir verstecken uns, wenn wir Unzucht betreiben, damit wir von den Menschen nicht gesehen werden, und wir könnten dann den Blick keines einzigen Menschen ertra­gen. [Aber] wir wissen, daß Gott gegenwärtig ist und vor ihm nichts verborgen werden kann. Gesehen werden von ihm und von der ganzen himmlischen Kurie bei der Ausübung jener Schandtat, das läßt uns, die wir vor dem Anblick eines ein­zigen Menschleins beschämt würden, nicht erröten. Aufs größte fürchten wir vor einem irdischen Richter irgend etwas zu begehen, obschon wir uns von ihm nur mit einer zeitlichen Strafe gerichtet wissen, nicht mit einer ewigen. Fleischliche Re­gung zwingt uns, vieles zu tun oder zu erleiden, geistliche wenig. Würden wir doch für Gott, dem wir alles schulden, soviel tun oder erleiden wie für die Gemah­lin oder die Kinder oder für irgendeine Dirne.

* Ich beschwöre [dich]: Mit welcher Strafe wird dieses Unrecht zu bestrafen sein, daß wir auch eine Dirne ihm selbst vorziehen? Er selbst klagt durch den Propheten, daß ihm weder die Liebe für einen Vater entgegengebracht, noch die Furcht vor einem Herrn erwiesen wird. Er sagt: ‘Der Sohn ehrt seinen Vater, und der Knecht fürchtet seinen Herrn. Wenn ich der Vater bin – wo bleibt dann die Ehrerbietung? Wenn ich der Herr bin – wo bleibt dann die Furcht vor mir?’ (Mal 1,6) Er beklagt sich, daß ihm der Vater oder der Herr vorgezogen wird. Nun überlege, wie sehr er entwürdigt wird, daß ihm selbst eine Dirne vorgezogen wird, und wenn er wegen der ganzen Geduld seiner Güte, weswegen er mehr hätte geliebt werden müssen, noch mehr verachtet wird. Jene, die heilbringende Reue üben, weil sie nämlich jene Güte und Langmütigkeit der Geduld beachten, werden nicht so sehr durch Furcht vor Strafen, sondern durch Liebe zu ihm zur Zerknirschung bewegt. Gemäß der erwähnten Ermahnung des Apostels, wo er die heilbringende Reue sorgfältig be­schrieben hat, indem er vom Gegenteil her sagte: ‘Den Reichtum seiner Güte’ – d. h. die reiche und reichliche Güte oder die überströmende Gefälligkeit seiner langmütigen Geduld, durch die er dich solange machen ließ – ‘verachtest du die­sen etwa’ – weil er dich nämlich nicht sofort straft – ‘nicht wissend’ – d. h. nicht be­achtend – ‘wie sehr dessen Güte zur Reue’ – soviel sie in ihr ist – /88/ ‘dich führt?’ – d. h., bewirkt, daß du, weil du auf diese Reue aufmerksam wirst, bekehrt werden mußt [und dich] ob soviel Güte [fragst], warum du [ihn] verachtet hast. Und diese ist [nun] wahrlich die fruchtbare Reue für die Sünde, weil dieser Schmerz und diese Zerknirschung der Seele mehr aus Liebe zu Gott, den wir als so gütig erfah­ren, als aus Furcht vor Strafe hervorgeht.

These 20: Die fruchtbare Reue wirkt unmittelbar

* Mit diesem Seufzer aber und der Zerknirschung des Herzens, die wir die echte Reue nennen, dauert die Sünde, d. h. die Verachtung Gottes oder die Zustimmung zum Übel, nicht mehr an, denn Gottes Liebe, die diesen Seufzer einhaucht, läßt keine Schuld weiterbestehen. Sogleich sind wir durch diesen Seufzer mit Gott versöhnt, und wir erfahren Verzeihung für die vorgefallene Sünde, gemäß jenem [Wort] beim Propheten: Zu welcher Stunde der Sünder [auch immer] seufzen wird, er wird erret­tet werden (vgl. Ez 33,12), d. h., daß er sich würdig erweist für das Heil seiner Seele. Er sagt nicht, in welchem Jahr oder welchem Monat, auch nicht, in welcher Woche oder an welchem Tag, sondern zu welcher Stunde, wodurch er zeigt, daß [jener] ohne Zö­gern der Gnade würdig ist und daß ihm nicht eine ewige Strafe aufgebürdet wird, worin die Verurteilung für die Sünde bestanden hat. Und wenn einer nämlich, den im Moment etwas Unvorhergesehenes ereilt, keinen Ort findet, um zur Beichte zu kommen oder die Wiedergutmachung auszuführen, so wird er keineswegs in sol­chem Seufzer aus diesem Leben scheiden und zur Hölle fahren, sondern [ihm] wird von Gott die Sünde nachgesehen. Das heißt: ihm widerfährt, daß er nicht mehr wie zuvor würdig ist, wegen jener vorgefallenen Sünde von Gott ewig bestraft zu wer­den. Gott, wenn er den Sündern die Sünde vergibt, vergibt ihnen nämlich nicht die ganze Strafe, sondern ausschließlich die ewige. Denn viele Sünder, die vom Tod überrascht wurden, haben die Genugtuung für das Vergehen in diesem Leben nicht geleistet; sie werden fortan bei reinigenden Strafen verwahrt und nicht verdammt werden. Weil da am letzten Tag des Gerichtes schnell viele Gläubige bestraft werden, ist ungewiß, über wieviel Zeit es sich erstreckt, obschon die Auferstehung ‘plötzlich, in einem Augenblick’ (1 Kor 15,52) geschieht; denn dort leisten sie für ihre Schulden, für die sie es aufgeschoben haben oder wofür es ihnen nicht erlaubt war zu büßen, soviel Genugtuung, wie Gott entschieden hat. /90/

These 21: Die fruchtbare Reue tilgt alle Sünden

(20. Ob jemand für eine Sünde bereuen kann, ohne für eine andere [zu bereuen])

* Es gibt einige, die fragen, ob einer für eine einzelne Sünde bereuen könne, für eine andere aber nicht: also vielleicht für einen Mord und nicht für die Unzucht, von der er bis jetzt nicht abgelassen hat.

Aber wenn wir unter fruchtbarer Reue jene verstehen, die die Liebe Gottes sendet und von der Gregor beschreibend sagt: ‘Reue ist, Begangenes zu beweinen und Be­dauernswertes nicht zu begehen’, so kann man niemals von Reue, zu der uns die Liebe Gottes treibt, reden, solange eine Verachtung zurückbleibt. Wenn nämlich die Liebe Gottes, wie es sich gehört, mich dazu führt und meine Seele dahin zieht, daß ich wegen dieser Zustimmung leide – und zwar nur, weil ich darin Gott beleidige –, so sehe ich nicht, wie dieselbe Liebe aus demselben Grund einen nicht dazu zwingt, auch eine andere Verachtung zu bereuen. D. h., [ich sehe nicht,] weshalb [die Liebe Gottes] meinen Geist nicht zu demselben Vorsatz bringt, daß jedes meiner Vergehen mir in Erinnerung kommt, ich darüber ebenso leide und zur Genugtuung bereit werde. Wo immer sich nämlich wahre Buße findet, die ja alleine aus der Liebe Gottes hervorgeht, [da] bleibt überhaupt nichts an Beleidigung Gottes zurück. Wie die Wahrheit spricht: ‘Wenn jemand mich liebt, wird er meinem Wort dienen, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen.’ (Joh 14,23) Wer also auch immer in der Liebe Gottes ausharrt, der muß gerettet werden. Diese Rettung betrifft keineswegs [nur] eine einzelne Sünde, d. h., daß [noch] eine Beleidigung Gottes zurückbleibt. Wenn nun aber Gott beim Bereuer keine Sünde mehr feststellt, findet er dort keinen Grund zur Verdammung. Und somit ist es not­wendig, daß nach Beseitigung der Sünde, keine Verdammung, also die Peinigung mit einer unvergänglichen Strafe, bestehen bleibt. Und dies ist es, wenn die vor­ge­fallene Sünde von Gott vergeben wird: vor der verdienten ewigen Strafe von Gott, wie gesagt, behütet werden. Auch wenn Gott nun beim Bereuenden gar nichts findet, was er auf unvergängliche Weise bestrafen müßte, so sagt man gleichwohl, er ver­gebe die Strafe für eine vorgefallene Sünde, wenn er dadurch ihn der Nachsicht würdig gemacht hat, daß er ihm einen Seufzer der Reue eingehaucht hat – d. h.: [er machte aus ihm] einen, den daher keine ewige Strafe treffen darf und der, wenn er in diesem Zustand aus diesem Leben scheidet, gerettet werden muß! Aber wenn er vielleicht in dieselbe Beleidigung zurückfällt und er so wieder sündigt, so wird er auch wieder unter die nötige Strafe fallen, so daß jener wiederum bestraft werden muß, der durch früheres Bereuen verdiente, nicht bestraft zu werden. /92/

* Wenn [nun] vielleicht [jemand] sagt, ‘eine Sünde wird von Gott vergeben’ be­deute soviel wie: ‘Gott wird den Menschen wegen dem, was vorgefallen ist, niemals verdammen’, oder: ‘Gott hat bei sich beschlossen, daß er diesen deswegen nicht ver­dammen wolle’, so scheint man sicher auch dem zustimmen zu müssen: [schon] be­vor der Bereuende gesündigt hatte, hat Gott diese Sünde vergeben, d. h., bei sich hatte er beschlossen, daß er deswegen jenen nicht verdammen werde. Nichts ent­scheidet oder plant Gott nämlich bei sich neu, sondern seit Ewigkeit ist in seiner Vor­aussicht festgelegt, was auch immer er machen wird; und in seiner Vorsehung ist festgelegt, was geschieht, sowohl mit der Vergebung der Sünde von irgendwem als auch mit [jener] der anderen.

Uns scheint es deshalb besser zu sein, [die Sache] so zu verstehen: Gott vergibt die Sünden einem jeden – wie gesagt – durch die Einhauchung eines Seufzers der Reue, der ihn der Nachsicht würdig macht. So macht der Seufzer, daß er nicht verdammt werden muß und auch niemals später [verdammt wird], wenn er in diesem Vorsatz ausharrt. Und so vergibt Gott eine Sünde, wenn er selbst jemandem einhauchend Reue bewirkt, dem Strafe hätte widerfahren müssen, weshalb dieser schon nicht mehr bestraft werden kann.

These 22: Gott belohnt, wann er will

(21. Es ist nicht unrecht, daß dem würdigen Menschen der Lohn vorenthalten wird)

* Aber vielleicht fragst du, ob jener, der bereut, jetzt des ewigen Lebens würdig sei, da er nicht der Verdammung würdig ist? Wenn wir das zugäben, würde uns entgegengehalten, daß auch der, der nach der Reue [ein zweites Mal] gefallen ist und untergeht, des ewigen Le­bens würdig gewesen war, solange er reuig war, und daß [somit] Gott scheinbar des Un­rechts getadelt werden sollte, der die Belohnung, derer jener damals würdig war, ihm nicht zukommen ließ, um so dessen Verdammung zuvorzukommen. Wie er mit dem Vorsatz, mit dem er damals des ewigen Lebens würdig war, errettet worden wäre, wenn er damals ge­storben wäre, so ist er auch im selben Geist, den er zuerst hatte, würdig, gerettet zu wer­den, wenn er nachher gefallen ist.

Aber ich sage: Weil viele oft der Verdammung würdig sind, aber dennoch nicht in dieser ihrer Torheit sterben und von Gott die verdiente Verdammung erhalten, ist Gott dennoch nicht wegen des Unrechts zu tadeln, denen nicht die verdiente Strafe gegeben zu haben. Und so [ist er] auch nicht [beim Unterlassen] des Belohnens [zu tadeln], das denen, die durchhiel­ten, versprochen wurde, [wie ja] die Wahrheit attestiert: ‘Wer bis zum Ende ausharrt, der wird gerettet werden.’ (Mt 10,22 und 24,13) Folglich werden wir nicht gezwungen zu­zu­geben, daß jemand daher würdig oder gerecht sei, von Gott [bestraft oder belohnt zu wer­den], weil er einmal einer Belohnung oder Strafe würdig gewesen ist, denn Gott hat vorge­sehen, daß dieser auf einem anderen Weg /94/ ihm nützlich sein möge; er verwendet nämlich auch die Übel zum Guten und gerade das Schlechteste legt er zum Besten an.

Wenn [nun] jemand vielleicht sagt, daß jener, der einmal aus echter Liebe zu Gott wahrhaftig bereut hat, aber dennoch nicht in dieser Reue oder Liebe ausharrte und daher der Beloh­nung mit dem Leben nicht würdig gewesen ist, [so ist das] richtig – da er damals aber auch nicht als der Verdammung würdig gegolten hatte, so wird es scheinen, daß er damals weder ein Gerechter noch ein Sünder war!

These 23: Es gibt auch eine unverzeihliche Sünde

(22. Über die unerläßliche Sünde)

* Da aber, wie wir gesagt haben, jegliche Sünde durch das Bereuen sofort Erlaß er­fährt, fragt sich, weshalb die Wahrheit eine gewisse Sünde als unerläßlich bezeichnet oder daß sie selbst niemals Erlaß – und somit Vergebung – haben wird. Dies ist die Sünde der Lästerung über den heiligen Geist, über die Matthäus so gesprochen hatte: ‘Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben werden, die Lästerung ge­gen den Geist aber wird nicht vergeben. Auch dem, der etwas gegen den Menschen­sohn sagt, wird vergeben werden; wer aber etwas gegen den Heiligen Geist sagt, dem wird nicht vergeben, weder in dieser noch in der zukünftigen Welt.’ (Mt 12,31f) Warum er dies gesagt hatte, eröffnet Markus, wenn er sagt: ‘Sie hatten nämlich ge­sagt, er sei von einem unreinen Geist besessen.’ (Mk 3,30) Gewisse nennen diese Sünde Aussichtslosigkeit auf Vergebung, wenn [nämlich] einer vielleicht wegen der Größe seiner Sünden gegenüber der Güte Gottes, die durch den heiligen Geist er­kannt wird, gänzlich Mißtrauen hegt, so daß er weder durch Reue oder irgendeine Genugtuung Vergebung erlangen kann. Aber wenn wir dies ‘sündigen’ oder ‘lästern gegen den Geist’ nennen, was nennen wir dann ‘sündigen gegen den Menschen­sohn’? Soviel es mir wahrlich scheint, wird an dieser Stelle sündigen oder lästern ge­gen den Menschensohn das Abstreiten der Erhabenheit der Menschheit Christi ge­nannt – wie wenn wir es ablehnten, daß [die Menschheit Christi] ohne Sünde emp­fangen wurde oder von Gott angenommen wurde wegen der sichtbaren Schwä­che des Fleisches. Dies konnte nämlich durch keine menschliche Vernunft in Erfah­rung gebracht werden, es kann nur dem sich offenbarenden Gott geglaubt werden. Somit bedeutet, wenn er sagt: ‘Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen verge­ben werden, die Lästerung gegen den Geist aber wird nicht vergeben’, soviel, wie wenn er sagt: Von keiner anderen Lästerung hat Gott festgelegt, daß sie keinem Menschen vergeben werden soll, außer von dieser. ‘Auch dem, der etwas gegen den Menschen­sohn sagt, wird vergeben werden’ /96/ bedeutet: Keiner, der die Würde des ange­nommenen Menschen, wie wir gesagt haben, ablehnt, wird deswegen ver­dammt werden, wenn nicht andere Gründe zur Verdammung vorfallen. Es kann nämlich darin keine Verachtung Gottes festgestellt werden, wenn einer der Wahrheit aus Irr­tum widerspricht und nicht gegen sein Gewissen handelt; vor allem, weil es sich mit der [Menschwerdung Gottes] so verhält, daß sie mit menschlicher Vernunft nicht erforscht werden kann, sondern gar im Gegensatz zur Vernunft zu stehen scheint. Lästern über den Geist aber bedeutet, Werke der offensichtlichen Gnade Got­tes zu verleugnen, so daß sie behaupten, die [Werke], die sie als durch den heiligen Geist, d. h. durch die göttliche Güte gnädig geschehen glauben, [seien] dennoch durch den Teufel ausgeübt worden. Als ob sie sagen würden, jener, den sie für den Geist Gottes halten, sei ein nichtswürdiger Geist, und so [sagten]: Gott sei der Teufel. Wer auch immer also so gegen Christus gesündigt hat, gegen das Gewissen nämlich sagend, daß jener in Beelzebub, dem Fürsten der Dämonen, Dämonen austreibe, der ist ganz und gar aus dem Reich Gottes verbannt und von dessen Gnade völlig ausgeschlos­sen, daß er später durch die Reue keine Nachsicht verdient. Wir leugnen gewiß nicht, daß er errettet werden könnte, wenn er bereute, sondern wir sagen nur, daß dieser einen Akt der Reue nicht erlangen wird.

Methodische Bemerkung 4: Querverweis zur Theologia

(23. Ob die Bereuenden den Seufzer ihres Schmerzes mit sich von hier hinübertragen)

* Vielleicht fragt jemand, ob die, welche bereuend aus diesem Leben scheiden, in diesem Seufzer des Herzens und in der Zerknirschung des Schmerzes, worin Gott ein wahres Opfer dargebracht wird – gemäß diesem [Psalmvers]: ‘Ein zerknirschter Geist ist für Gott ein Opfer’ (Ps 51,19) –, ob [also], wie gesagt, die, die aus diesem Licht scheiden, diesen Seufzer und Schmerz mit sich hinübertragen, daß sie auch in jenem himmlischen Leben über das, was sie begangen haben, leiden – dort, wo, wie ge­schrieben steht, ‘Kummer, Seufzer und Trauer entfliehen.’ (Jes 35,10) Aber genau wie Gott und den Engeln unsere Sünden ohne irgendein Schmerzensgefühl mißfallen, deshalb nämlich, weil sie nicht billigen, was sie für schlecht halten, so werden dann auch uns jene [Sünden] mißfallen, in denen wir gefehlt haben. Aber ob wir wollen, daß wir diese gemacht haben, da wir wissen, was von Gott zum Guten angeordnet ist und das auch uns zum Guten verhalf – gemäß jenem [Wort] des Apostels: ‘Wir wissen, daß bei denen, die Gott lieben, alles zum Guten geführt wird’ (Röm 8,28) –, ist eine andere Frage, die wir mit [all] unseren Kräften im dritten Buch unserer Theologie gelöst haben. /98/

These 24: Es gibt gute Gründe für die Beichte, auch wenn Gott nicht auf das Bekenntnis angewiesen ist

(24. Über die Beichte)

* Nun drängt es sich auf, daß wir über die Beichte der Sünden handeln: ‘Bekennt einander eure Sünden und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet. Viel vermag das inständige Gebet eines Gerechten.’ (Jak 5,16) Es gibt Leute, die meinen, daß man Gott alleine beichten müsse, was viele den Griechen zuschreiben. Aber ich sehe nicht ein, welchen Wert eine Beichte bei Gott hat – weiß er [doch schon] alles – oder welche Vergebung uns unsere Zunge erlangen soll, wenn auch der Prophet sagt: ‘Da be­kannte ich dir meine Vergehen und verbarg nicht länger meine Schuld vor dir.’ (Ps 32,5) Aus vielen Gründen bekennen Gläubige sich gegenseitig ihre Sünden, gemäß dem oben zitierten Apostelvers: bald nämlich wegen des erwähnten Grundes, daß uns mit den Gebeten jener, denen wir beichteten, mehr geholfen wird, bald auch, weil in der Erniedrigung der Beichte ein großer Teil der Genugtuung geleistet wird und wir größeres Erbarmen finden durch die Erleichterung durch Buße. So steht auch über David geschrieben: als er, vom Propheten Nathan angeklagt, geantwortet hatte: ‘Ich habe gesündigt’, hat er plötzlich von demselben Propheten die Antwort vernommen: ‘Auch der Herr hat deine Sünde von dir genommen.’ (2 Sam 12,13) Je größer nämlich die Erhabenheit des Königs war, um so annehmbarer war für Gott die bekennende Erniedrigung. Schließlich haben die Priester, denen die Seelen der Beichtenden anvertraut sind, jenen Genugtuungen für das Bereute aufzuerlegen, damit die, die ihre Urteilskraft schlecht und stolz gebraucht haben – [nämlich] um Gott zu verachten –, durch das Urteil einer fremden Macht zurechtgewiesen werden; und um so sicherer werden sie dies tun, je besser sie ihren Kirchenfürsten gehorchen und nicht so sehr ihrem eigenen Willen als dem jener folgen. Wenn die Kirchenfür­sten vielleicht nicht richtige Vorschriften machen, obschon jener bereit ist zu gehor­chen, so ist das mehr jenen als diesem anzurechnen. Der Apostel sagt: ‘Wir kennen sehr wohl’ die Listen des Satans (vgl. 2 Kor 2,11), und auch seine Nichtsnutzigkeit darf an dieser Stelle nicht vernachlässigt werden, die uns zur Sünde antreibt und von der Beichte abhält. Zur Sünde ermuntert er uns nämlich, [indem] er uns gleichzeitig Furcht und Skrupel entzieht, so daß nichts bleibt, was uns von der Sünde zurückru­fen würde. Denn vieles wagen wir nicht zu begehen aus Furcht vor der Strafe; vieles schämen wir uns zu unternehmen wegen der Zerstörung unseres guten Rufes, /100/ auch wenn wir es ungestraft [tun] könnten. Jeder, der also mit diesen beiden – sagen wir – Haltetauen schlecht ausgerüstet ist, ist schnell bereit, irgendeine Sünde zu ver­üben. Unter dieser Bedingung hat [der Satan] ihm zunächst dasselbe weggenommen, daß er sündige, was er ihm nachher wieder verliehen hat, um ihn von der Beichte abzuhalten. Dann fürchtet er zu beichten oder ist beschämt, was er, wie es sich zuerst gehört hätte, nicht fürchtete oder worüber er sich nicht schämte. Er fürchtet sehr, durch die Beichte entlarvt von Menschen bestraft zu werden, er, der sich nicht ge­fürchtet hat, von Gott bestraft zu werden. Er schämt sich, daß die Menschen etwas erfahren, worüber er sich vor Gott nicht schämt, es begangen zu haben; aber wer für eine Wunde Heilung sucht, muß sie vor dem Arzt enthüllen, wie schmutzig oder übelriechend sie auch sein mag, damit ihr die passende Pflege zukommen kann. Der Priester hat tatsächlich die Aufgabe eines Arztes, da von ihm, wie gesagt, die Genug­tuung aufzuerlegen ist.

These 25: In bestimmten Situationen kann die Beichte schaden

(25. Daß manchmal die Beichte erlassen werden kann)

* Dennoch muß man wissen, daß manchmal aufgrund einer heilbringenden Er­laubnis die Beichte unterlassen kann, so wie wir das von Petrus glauben, von dessen Tränen über seine Verleugnung wir wissen, über eine andere Genugtuung oder eine andere Beichte wir aber tatsächlich nichts lesen. Daher sagt auch Ambrosius in [seinem Kommentar] über Lukas über dieselbe Verleugnung des Petrus und deren Beweinen: ‘Ich finde nicht, was er gesagt hat, [aber] ich finde, daß er geweint hat. Ich lese über seine Tränen, nicht über seine Genugtuung. Die Tränen waschen das Ver­gehen ab, das mit Worten zu bekennen beschämend wäre, und Weinen und Scham helfen zur Verbesserung. Die Tränen sprechen ohne Schauder die Schuld aus, ohne Anstoß [zu erregen] bekennen sie die Scham. Die Tränen fordern nicht die Verge­bung, sie verdienen sie. [So] finde ich, warum Petrus geschwiegen hat, daß er näm­lich nicht so schnell um Vergebung bittend [den Herrn] noch mehr verletzt.’ Es muß untersucht werden, was genau diese Scham oder Zurückhaltung bei der Beichte war, so daß Petrus durch Weinen mehr als durch ein Bekenntnis büßte. Wenn er nämlich aus dem einen [Grund] sich schämte zu beichten, daß er nicht durch das Bekannt­werden seiner Sünde mehr verachtet würde, so war er wahrlich stolz, und die Ehre seines Ruhmes zählte ihm mehr als das Heil seiner Seele. Wenn anders er nicht so sehr durch seine Scham als durch die [Scham] für die Kirche zurückgehalten wurde, so ist dies nicht zu verwerfen. /102/ Vielleicht sah er [schon] voraus, daß er vom Herrn zum Fürsten über sein Volk eingesetzt würde, und er befürchtete, daß die Kir­che, wenn diese dreifache Verleugnung durch seine Beichte zu schnell beim Volk bekannt würde, sich heftigst auflehnte und unter heftiger Scham zuschanden würde, weil ihr der Herr einen vorgestellt hatte, der so leicht verleugnet und so kleinmütig ist. Wenn er also aufschob zu beichten, nicht so sehr um seine eigene Ehre, sondern um die ge­samte Kirche vor Scham zu bewahren, so hat er das aus Voraussicht, nicht aus Stolz gemacht. Auch war aus vernünftigem Grund die Furcht vor einem Schaden der Kir­che größer als die vor der Zerstörung des eigenen Rufes. Er wußte nämlich, daß ihm vom Herrn ausdrücklich die Kirche anvertraut war, da [der Herr] ihm ge­sagt hatte: ‘Und wenn du dich wieder bekehrt hast, dann stärke deine Brüder.’ (Lk 22,32) Wenn also, nachdem er durch seine eigene Beichte überführt worden wäre, dieser abscheu­liche Fehler von ihm der Kirche zu Ohren gelangt wäre, wer hätte dann nicht gleich gesagt: ‘Wir wollen nicht, daß dieser Mann über uns herrscht’ (Lk 19,14); und [wer] hätte nicht leicht den Entschluß des Herrn mißbilligt, daß er zur Bestärkung der Brü­der den ausgewählt hatte, der zuerst abgefallen ist? – Aus genau dieser Voraussicht können viele die Beichte aufschieben oder gänzlich unterlassen ohne zu sündigen, wenn sie nämlich glauben, der Kirche mehr zu schaden als zu nützen, da wir [ja] keine Beleidigung Gottes aus Schuld begehen in dem, worin wir ihn niemals verachten. Petrus hat es, da er bisher einen zarten Glauben hatte und die Kirche noch schwach war, aufgeschoben, die Sünde zu beichten, bis die Stärke des Petrus durch seine Predigt oder Wunder erwiesen war. Nachher allerdings, als das schon feststand, hat selbst Petrus ohne jeglichen Schaden für die Kirche gegen die Hoffnungslosigkeit der Gefallenen dies bekennen können, so daß es uns auch schriftlich von den Evangelisten hinterlassen worden ist.

These 26: Der Beichtvater muß nicht hierarchisch höher stehen

* Vielleicht mag es einigen scheinen, daß Petrus – der allen Übrigen vorstand und der keinen Höheren hatte, dem seine Seele anvertraut war – es in keiner Weise nötig hatte, einem Menschen seine Sünde zu beichten, wie wenn von jenem ihm Genugtu­ung hätte auferlegt werden müssen und er dessen Vorschrift wie der eines Vorge­setzten hätte gehorchen müssen. Aber wenn er nicht wegen der Auferlegung von Genugtuung bei jemandem hätte beichten müssen, wegen der Fürbitte des Gebetes hätte er es gleichwohl machen können. Daher ist nämlich, wo gesagt wird ‘bekennt einander eure Sünden’, angefügt ‘und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet.’ (Jak 5,16) Auch hindert nichts daran, daß Kirchenfürsten Untergebene für das Ab­legen der Beichte oder zum Auferlegen von Genugtuung auswählen, so daß /104/ dieses Vorgehen von Gott um so mehr angenommen wird, je mehr es von ihnen de­mütig getan wird. Wer will auch irgendwem verbieten, bei solchen [Angelegen­hei­ten] einen besonders frommen oder besonnenen Menschen auszuwählen, dessen Ur­teil er seine Genugtuung anvertraut und durch dessen Gebete ihm mehr geholfen wird? Daher ist auch, wo es heißt ‘und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet’, gleich angefügt ‘viel vermag das inständige Gebet eines Gerechten.’ (Jak 5,16)

These 27: Beichtväter sind mit gutem Grund sorgfältig auszuwählen

Wie es nun viele unerfahrene Ärzte gibt, denen Kranke anzuvertrauen gefährlich oder sinnlos ist, so finden sich auch unter den Kirchenfürsten viele, die weder fromm noch besonnen und darüber hinaus gerne bereit sind, die Sünden der Beichtenden zu verraten, so daß es scheint, ihnen zu beichten sei nicht nur nutzlos, sondern wahrlich schädlich. Diese beabsichtigen nämlich weder zu beten, noch verdienen sie, in ihren Gebeten erhört zu werden. Und weil sie weder die Anweisungen der Kanones ken­nen noch beim Auferlegen von Genugtuungen abzuwägen wissen, versprechen sie dabei häufig falsche Sicherheit und täuschen mit leerer Hoffnung die Beichtenden selbst – gemäß jener Wahrheit: ‘Es sind blinde Blindenführer’, und wiederum: ‘Wenn ein Blinder einen Blinden führt, werden beide in eine Grube fallen.’ (Mt 15,14) Wenn sie nun auch, wie wir gesagt haben, leichtfertig die Geständnisse verkünden, die sie entgegengenommen haben, entrüsten sie die Beichtenden; und jene, die von Sünden heilen müßten, reißen neue Wunden bei den Sündern auf, und die, die vorhatten zu beichten, schrecken sie davon ab.

* Manchmal schädigen sie auch die Kirche schwer, wenn sie aus Zorn oder Leicht­sinn Sünden weitererzählen. Zudem bringen sie jene, die die Beichte ablegten, in große Gefahr.

Daher sind die keineswegs zu tadeln, die aus diesen Unannehmlichkeiten ent­schieden haben, ihre Kirchenfürsten zu meiden und dafür andere auszuwählen, die sie dazu für geeigneter halten; sondern dies ist vielmehr gutzuheißen, weil sie sich an einen geschickteren Arzt wenden. Wenn sie aber dabei die Zustimmung der Kir­chenfürsten erlangen können, so daß sie von jenen zu anderen geschickt werden, so tun sie dies um so mehr, wie es sich gehört, als sie dies demütiger aus Gehorsam ma­chen. Wenn aber stolze Kirchenfürsten ihnen dies verbieten, da sie sich geringer ein­geschätzt [sehen], wenn bessere Ärzte aufgesucht werden, so soll ein Kranker über seine Gesundheit beunruhigt dennoch mit größerer Besorgnis suchen, was er für bes­sere Medizin hält, und vor allem dem besseren Rat nachgehen. Niemand muß näm­lich einem Führer, dem er von irgendwem /106/ anvertraut wurde, in die Grube folgen, wenn er bemerkt, daß der Führer blind ist. Es ist besser, dafür einen Sehen­den auszuwählen, damit man dort ankommen kann, wo man will, als einem, dem man schlecht anvertraut wurde, in den Sturz zu folgen. Wenn nun aber einer jeman­den einem solchen Führer anvertraut hat, um ihm den Weg zu zeigen, so hat er dies entweder willentlich aus Bosheit oder unschuldigerweise aus Unwissenheit getan. Tat er es aus Bosheit, so ist darauf zu achten, daß sich dessen Bosheit nicht erfüllt; tat er es aus Unwissenheit, so handelt man in keiner Weise gegen seinen Willen, wenn wir jenem, den er selbst uns zur Führung übergeben hatte, nicht in die Gefahr folgen. Dennoch ist es nützlich, daß wir uns zuerst mit denen beraten, denen wir unsere Seele anvertraut wissen, und auch, daß wir nach dem Vernehmen ihres Rates die heilbringendere Medizin – wenn es das ist, worauf wir hoffen – nicht ablehnen; vor allem, wenn wir glauben, daß jene das Gesetz nicht kennen und sich nicht nur nicht darum kümmern, was sie tun sollen, sondern nicht einmal wissen, was sie lehren. Diese sind geringer zu schätzen [als] die, über die die Wahrheit sagt: ‘Die Schriftge­lehrten und die Pharisäer haben sich auf den Stuhl des Mose gesetzt. Tut und befolgt also alles, was sie euch sagen, aber richtet euch nicht nach dem, was sie tun.’ (Mt 23,2f) Was soviel heißt, wie wenn sie sagte: Das Lehramt des Gesetzes halten solche inne, die – sind deren Werke auch schlecht und deswegen zu mißbilligen – dennoch das Wort Gottes verkünden, das von dem Stuhl des Mose, d. h. vom Lehramt des Gesetzes, zu empfangen ist, damit wir gleichzeitig ihre Werke verwerfen und Gottes Wort befolgen.

These 28: Einem schlechten Beichtvater zu gehorchen, vergrößert die Schuld nicht,
erspart aber auch spätere Strafen nicht

* Also ist deren Lehre nicht zu verachten, die gut predigen, obschon sie schlecht le­ben, die mit dem Wort belehren, obschon sie nicht mit dem Beispiel wirken, und ei­nen Weg zeigen, dem sie [selber] nicht folgen wollen. Sie sind nicht so sehr wegen der Blindheit der Unkenntnis, als wegen der Schuld der Nachlässigkeit zu verur­teilen. [Was] wahrlich [ist zu sagen über jene,] die nicht fähig sind, ihren Untertanen den Weg zu zeigen; [mit Untertanen meine ich] jene, die sich ihrer Führung anver­trauen und bei ihnen, die nicht zu lehren wissen, Unterweisung suchen müssen? Auf alle Fälle sollen die Untertanen nicht an dem Erbarmen Gottes zweifeln, wenn sie gänzlich zur Genugtuung bereit sich dem Urteil ihrer – wenn auch blinden – Kir­chenfürsten übergeben. Und was ihnen jene aus Irrtum zuwenig auferlegen, sollen sie aus Gehorsam sorgfältig ausführen. Der Irrtum der Kirchenfürsten peinigt näm­lich nicht die Untertanen, noch klagt der Fehler jener diese an. Und bei den Unter­tanen bleibt keine Schuld zurück, in der sie sterben müssen, da sie, wie gesagt, schon vorher [ihre] Reue mit Gott wieder versöhnt hat, noch bevor /108/ sie nämlich zur Beichte gekommen sind oder die Auferlegung der Genugtuung empfangen haben. Wenn aber weniger an Strafe der Genugtuung auferlegt worden ist, als es sich ge­hörte: Gott, der keine Sünde ungestraft läßt und jede einzelne vergilt, wie er muß, wird die Gerechtigkeit für das Ausmaß der Genugtuung der Sünde aufsparen: nicht, indem er den Bereuenden selbst ewige Strafen vorbehält, sondern indem er sie in diesem oder im zukünftigen Leben mit reinigenden Strafen peinigt – wenn wir, wie gesagt, in unserer Genugtuung nachlässig gewesen sind. Daher sagt der Apostel: ‘Wenn wir mit uns selbst ins Gericht gingen, dann würden wir nicht gerichtet.’ (1 Kor 11,31) Das bedeutet: Wenn wir selbst unsere Sünden bestraften oder wieder­gutmachten, sie wären von ihm selbst in keiner Weise schwerer zu bestrafen. Wahr­haft groß ist die Barmherzigkeit Gottes, da er uns mit unserem Richtspruch entläßt, um uns nicht selbst mit Schwererem zu bestrafen. Diese Strafen des gegenwärtigen Lebens aber, mit denen wir für die Sünden Genugtuung leisten, [also] Fasten oder Beten, Wachen oder auf irgendeine Weise das Fleisch kasteien oder den Armen schenken, was wir uns vorenthalten, [diese Strafen] nennen wir Genugtuung: im Evangelium werden sie, wie wir wissen, mit einem anderen Namen ‘Frucht der Buße’ genannt, [dort] nämlich, wo gesagt wird: ‘Bringt Früchte hervor, die der Buße würdig sind.’ (Mt 3,8) [Das bedeutet soviel,] wie wenn offen gesagt würde: Ihr wer­det hier – durch würdige Genugtuung gutmachend, was ihr begangen habt – mit Gott so versöhnt, daß er später nichts mehr findet, was er selbst bestrafen soll; und [so] kommt [ihr] mit milderen den schwereren Strafen zuvor. Wie nämlich der selige Augustinus beigefügt hat: ‘Die Strafen des künftigen Lebens – und sind sie auch rei­nigend – sind schwerer als alle diese [Strafen] des jetzigen Lebens.’ Deshalb ist diesen große Beachtung zu schenken und viel Sorge zu tragen, daß gemäß den Be­stim­mungen der heiligen Väter hier soviel Genugtuung empfangen wird, daß dort nichts zu reinigen bleibt. Wenn also die Priester [so] liederlich waren, aus Un­kenntnis jener kanonischen Bestimmungen weniger an Genugtuung aufzuerlegen als es gebührt, so treffen daher die Bereuenden große Unannehmlichkeiten, da sie im schlechten Ver­trauen auf jene später mit schwereren Strafen geschlagen werden, wofür sie hier durch leichtere hätten büßen können.

* Es gibt aber einige Priester, die die Untertanen nicht so sehr aus Irrtum als aus Gier täuschen, so daß sie durch die auferlegte Abgabe von Münzen die Strafen der Genugtuung vergeben oder erleichtern und nicht so sehr darauf achten, was Gott will, als was die Münze wert ist. Über diese sagt der Herr selbst durch den Prophe­ten klagend: ‘Meine Priester /110/ haben nicht gefragt: Wo ist der Herr?’ (Jer 2,8), als wollte er sagen: Sondern, wo ist das Geld? Aber nicht nur von den Priestern, sondern auch von den Ersten unter den Priestern selbst, d. h. von den Bischöfen, wissen wir, daß sie schamlos in dieser Gier entbrennen: sie sind beim Erlassen von Strafen ver­schwenderisch, wenn bei Kirchweihen, bei Einsegnungen von Altären, bei Segnun­gen von Friedhöfen oder bei irgendwelchen Festlichkeiten [viele] Landleute zu­sammenkommen, weshalb sie sich eine reiche Abgabe erhoffen. Sie erlassen allen gemeinsam den dritten oder vierten Teil der Strafe – unter einem gewissen Anschein der Liebe nämlich, aber in Wahrheit aus höchster Gier. Diese spielen sich mit ihrer Macht auf, die sie, wie sie sagen, von Petrus oder den Aposteln erhalten haben, da jenen [nämlich] vom Herrn gesagt wurde: ‘Welchen ihr die Sünden vergebt, denen sind sie vergeben’ (Joh 20,23), oder [auch]: ‘Alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein.’ (Mt 18,18) Dann rühmen sie sich besonders für das, was sie tun können, wenn sie diese Güte den Untertanen schenken – wenn sie dies doch wenigstens für diese selbst und nicht für Geld machen würden, so daß statt Gier eher irgend etwas an Güte zu sehen wäre. Aber wahrlich, wenn das Erlassen des dritten oder vierten Teils der Strafe [ihrer] Güte in Ehren anzurechnen ist, so wäre ihr Ruhm noch mehr zu verkünden, wenn sie die Hälfte oder völlig die ganze Strafe er­lassen hätten, wie es ihnen ihrer Meinung nach erlaubt und vom Herrn zuge­standen ist, [da] ihnen gleichsam der Himmel in die Hände gelegt wurde, gemäß dem oben erwähnten Zeugnis über den Nachlaß der Sünden und die Erlösung von den Sünden. [Ganz] im Gegenteil scheint es, daß sie wegen großer Pflichtvergessen­heit getadelt werden müssen: warum erlassen sie [denn] nicht allen Untertanen alle Sünden, um nicht zuzulassen, daß ein einziger von ihnen verdammt würde – wenn es [schon] so in ihrer Macht liegt, Sünden zu vergeben oder zurückzuhalten, wenn sie wollen, oder den Himmel denen zu öffnen oder zu schließen, für die sie sich entschieden haben? Jedenfalls wären sie dann glückselig zu preisen, wenn sie diesen, falls sie wollten, sich selbst aufschließen könnten. Wenn sie das aber wahrlich weder können noch [zu tun] verstehen, [dann] trifft für sie, soviel ich das entscheiden kann, sicher jener [Klage] des Dichters zu: ‘Dem Herrn nützen die Künste nicht, die sonst allen nützen.’ Suche, wer will – ich tue es nicht! – nach jener Macht, die anderen eher nützen kann als einem selbst, so daß es einer in seiner Macht hat, fremde Seelen eher zu retten als die eigene, obschon jeder, der klug ist, das Gegenteil empfindet! /112/

These 29: Die Gewalt, zu binden und zu lösen, steht nicht allen Bischöfen zu

(26. Ob es generell allen Kirchenfürsten zukommt, zu lösen und zu binden)

* Wenn nämlich gefragt wird, was denn jene Macht sei oder jene Schlüssel des Himmelreiches, die der Herr den Aposteln übergeben hat und [die er] gleichfalls de­ren Stellvertretern, nämlich den Bischöfen, zugestanden habe, wie zu lesen ist, so scheint das keine leichtzunehmende Frage zu sein. Es gibt nämlich viele Bischöfe, die weder Frömmigkeit noch Besonnenheit haben, obschon sie die bischöfliche Gewalt besitzen. Wie können wir sagen, daß auch für sie wie für die Apostel gilt: ‘Welchen ihr die Sünden vergebt, denen sind sie vergeben, und welchen ihr sie nicht vergebt, denen sind sie nicht vergeben’ (Joh 20,23)? Wenn nämlich ein Bischof unbesonnen oder maßlos eine Sündenstrafe vergrößern oder verringern wollte, liegt dies in seiner Macht? So daß Gott nämlich nach des Bischofs Entscheid die Strafen anlegt? Und so straft Gott selbst den mehr, der schwächer zu bestrafen wäre und umgekehrt, ob­schon er mehr auf die Gerechtigkeit einer Sache achten müßte als auf den Willen der Menschen? Oder [liegt es in seiner Macht,] wenn ein Bischof aus Zorn und Haß, den er auf jemanden hat, beschließt, ihn für leichte Sünden ebenso büßen zu lassen wie für schwere oder dessen Strafe in die Ewigkeit auszudehnen? Oder wenn er be­schlossen hat, jenem niemals zu vergeben, wieviel jener auch büßen mag: Wird wohl der Herr diese seine Entscheidung bestätigen? Deshalb scheint, daß der Herr, was er den Aposteln sagt – ‘Welchen ihr die Sünden vergebt, denen sind sie vergeben’ etc. –, ihnen selbst sagte und nicht allgemein allen Bischöfen. Wie auch, wenn er ihnen sagt: ‘Ihr seid das Licht der Welt’ und ‘Ihr seid das Salz der Erde’ (Mt 5,13f) oder vieles anderes, ausschließlich für die [Apostel] zu verstehen ist. Dieselbe Weisheit und Hei­ligkeit, die der Herr den Aposteln verliehen hat, hat er nämlich nicht gleichfalls ihren Nachfolgern zugesprochen. Und gewiß hat er auch nicht allen gesagt: ‘Selig sind die Augen, die sehen, was ihr seht’ (Lk 10,23) und weiter: ‘Euch aber habe ich Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.’ (Joh 15,15) Und ferner: ‘Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch die ganze Wahrheit lehren.’ (Joh 16,13)

* Wenn jemand vielleicht dem entgegenhalten würde [, was denn] mit Judas [sei], der auch einer der Apostel war, als diese Worte gesprochen wurden, der muß wis­sen, daß der Herr nicht unwissend war, an wen das /114/ gerichtet werden mußte, was er sagte. So wie man auch nicht meinen soll, dieses, sein Gebet – wenn er sagt: ‘Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun’ (Lk 23,34) – sei für alle seine Verfolger zu verstehen. Wenn nämlich gesagt wird: ‘diese’ oder ‘ihr’, was Demon­strativpronomen sind, ist die Rede gemäß der Absicht des Sprechers entweder in gleicher Weise an alle gerichtet, die dabei sind, oder an irgendwelche von diesen, die er ausgewählt hat. So sind auch jene erwähnten [Sätze] nicht allgemein auf alle Apo­stel zu beziehen, sondern nur auf die auserwählten. So ist scheinbar auch über jene [Stelle] zu entscheiden, die lautet: ‘Was du auch immer auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein.’ (Mt 16,19)

* Dies überlegte auch sorgfältig der selige Hieronymus, als er bei der Matthäus­auslegung zu den Worten kommt, wo der Herr zu Petrus sagt: ‘Was auch immer du auf Erden binden wirst’. ‘Wird diese Stelle’, so sagt [Hieronymus], ‘von Bischöfen und Priestern nicht [richtig] verstanden, so haben sie etwas von dem Hochmut der Pharisäer, wenn sie entweder Unschuldige verdammen oder meinen, Schuldige frei­sprechen zu können; aber bei Gott wird nicht nach dem Entscheid der Priester ge­fragt, sondern nach dem Leben des Angeklagten. Wir lesen in Levitikus über die Aussätzigen: dort wird ihnen befohlen, sich den Priestern zu zeigen. Und wenn sie Lepra haben, werden sie von den Priestern zu Unreinen gemacht – nicht weil die Priester rein oder unrein machen, sondern weil sie Kenntnis über Aussätzige und nicht Aussätzige haben und unterscheiden können, wer unrein oder rein sei (vgl. Lev 13). In gleicher Weise wie also dort der Priester den Aussätzigen unrein [oder rein] ‘macht’, so bindet oder löst auch hier der Bischof oder Priester nicht jene, die schul­dig oder unschuldig sind, sondern er weiß, da er [im Rahmen] seiner Pflicht schon verschiedene Arten von Sünden gehört hat, wer zu binden und wer zu lösen sei.’ Wenn ich mich nicht täusche, wird aus diesen Worten des Hieronymus klar, daß das, was zu Petrus oder gleichfalls zu den übrigen Aposteln gesagt wurde über die zu bindenden oder zu lösenden Fesseln der Sünden, mehr für die [Apostel] zu ver­ste­hen ist als allgemein für alle Bischöfe. Außer vielleicht gemäß dem, was Hiero­nymus selber sagt, [wenn] wir diese Binde- und Lösegewalt durch den erwähnten Entscheid als allgemein allen zugestanden verstehen, so daß nämlich /116/ [die Bi­schöfe] selbst zu entscheiden haben, welche von Gott gebunden und welche gelöst werden müssen, und so zwischen Reinen und Unreinen entscheiden.

Hier auch das, was Origenes über dieselbe Stelle bei Matthäus [schreibt]. Die aus­erwählten Bischöfe, die diese Gnade verdienen, die Petrus zugestanden worden ist, von den übrigen unterscheidend, sagt er [bezüglich dem Vers] ‘Was auch immer du auf Erden bindest’: ‘Weil jene, die die Stelle des Bischofsamtes verteidigen, von die­sem Text in der gleichen Weise wie Petrus Gebrauch machen und lehren, die Schlüs­sel des Himmelreiches von Christus erhalten zu haben, [behaupten sie,] wer von ih­nen gebunden worden ist, werde es auch im Himmel sein, und wer von ihnen los­gelöst worden ist, d. h. Erlaß empfangen habe, werde auch im Himmel erlöst sein. – Man muß sagen, daß sie das richtig sagen, wenn sie solche Werke geleistet haben, derentwegen zu Petrus gesagt wurde: ‘Du bist der Fels [...]’ (Mt 16,18), und wenn sie so sind, daß auf ihnen die Kirche Christi gebaut werden kann, und wenn [schließlich] die Wege zur Unterwelt sie nicht überwältigen können (vgl. Mt 16,18). Andernfalls wäre es lächerlich zu sagen, daß jener, der mit den Fesseln seiner Sünde gebunden ist und seine Sünde wie ein langes Seil und seine Ungerechtigkeit wie den Riemen eines eingespannten Kalbes nach sich zieht, nur wegen [der Tatsache, daß] er Bischof ge­nannt wird, derartige Macht haben soll, daß auch im Himmel gelöst sei, wer von ihm auf Erden gelöst worden ist, oder wer von ihm auf der Erde gebunden worden ist, auch im Himmel gebunden bleibt. Ein Bischof, der einen anderen bindet oder löst, soll also untadelhaft und würdig sein, im Himmel zu binden und zu lösen; er soll also nur der Mann einer Frau sein, enthaltsam, keusch, geehrt, gastfreundlich, ge­lehrt, nicht trunksüchtig, kein Verbrecher, sondern bescheiden, nicht zänkisch, nicht geldgierig und ein guter Leiter seines Hauses sein und gehorsame Söhne in ganzer Sittenreinheit haben. Wenn er so gewesen ist, wird er nicht zu unrecht auf Erden binden und auch nicht ohne Urteil lösen. Deswegen wird auch im Himmel gelöst sein, was immer einer lösen wird, der so ist, und was immer auf Erden gebun­den werden wird, wird es auch im Himmel sein. Wenn aber einer sozusagen Petrus ge­wesen ist, der nicht [die Eigenschaften] besessen hat, die in dieser [Bibel-]stelle Petrus zugeschrieben werden, und der gemeint hat, er könne binden und lösen, daß es im Himmel gebunden und gelöst sei, der hat sich selbst getäuscht. Er hat den Willen der Schrift nicht verstanden, und stolz wird er dem Gericht des Teufels verfallen.’

* So zeigt Origenes offensichtlich, wie es auch die Vernunft gezeigt hat, /118/ daß das, was Petrus, wie gesagt, zugestanden worden ist, in keiner Weise vom Herrn auf alle Bischöfe übertragen wurde, sondern nur auf die, die Petrus nicht in der Macht des Stuhles, sondern durch die Würde der Verdienste nachahmen. Indem sie ihrem eigenen Willen folgen und sich vom Willen Gottes abwenden, vermögen sie nämlich nichts gegen die Geradheit der göttlichen Gerechtigkeit, noch können sie durch ir­gendwelches ungerechtes Handeln Gott zu einer Ungerechtigkeit geneigt machen, so daß sie ihn gleichsam sich selbst gleichmachen. Solche selbst heftig anklagend und sie scharf bedrohend sagt [Gott]: ‘Du meinst, daß ich ungerecht sei wie du. Ich tadle dich und halte es dir vor Augen. Begreift es doch, ihr, die ihr Gott vergeßt’ etc. (Ps 50,21f) Von wem ist mehr zu sagen, er habe Gott vergessen und er sei einem verwor­fenen Denken ausgeliefert (vgl. Röm 1,28), als von dem, der für sich eine solche Macht beansprucht zu behaupten, der göttliche Richtspruch unterwerfe sich ihm, wenn er die Untertanen nach seiner Meinung bindet und löst – so daß also das, was er zu unrecht behauptet hat, die höchste Gerechtigkeit Gottes verdrehen könnte, er [also] gleichsam Schuldige oder Unschuldige machen könnte, wie er will? Daß sie solches niemals beanspruchen [sollen], dagegen wehrt sich in seiner sechzehnten Predigt jener große Gelehrte der Kirche und selbst unter den eigenen Bischöfen be­rühmte Augustinus, indem er über die Worte des Herrn [folgendes] sagt: ‘Du hast begonnen, deinen Bruder wie einen Zöllner zu behandeln: Du bindest ihn auf Erden; aber sieh zu, daß du ihn zu Recht bindest. Denn die Gerechtigkeit zerreißt unge­rechte Fesseln.’ Auch der selige Gregor [der Große] fügt unübersehbar hinzu und beweist mit Beispielen des Herrn, daß die kirchliche Macht beim Binden und Lösen nichts vermag, wenn sie sich von der Billigkeit der Gerechtigkeit entfernt und nicht mit dem göttlichen Urteil übereinstimmt. Daher sagt er dies in der 25. Predigt über die Evangelien: ‘Oft geschieht es, daß einer den Platz des Richters innehat, dessen Leben am wenigsten mit diesem Platz übereinstimmt. Und oft geschieht es, daß er, der selbst gebunden ist, welche verdammt, die es nicht verdient haben, oder andere löst. Oft folgt er beim Lösen oder Binden von Untergebenen seinem Willen, nicht aber den Verdiensten ihrer Fälle. So kommt es, daß er sich gar der Macht zu binden oder zu lösen beraubt, [wenn] er diese Macht nach seinem Willen und nicht für die Sitten der Untergebenen ausübt. Oft geschieht es, daß ein Hirte gegen irgendeinen Nachbarn durch Haß oder Gunst bewegt wird. Würdig richten /120/ über Unter­gebene kann nicht, wer bei den Fällen der Untergebenen durch seinen Haß oder seine Gunst geleitet wird. Daher [spricht der Herr] durch den Propheten: ‘Ihr habt Seelen getötet, die nicht sterben sollten, und ihr habt Seelen verschont, die nicht am Leben bleiben sollten.’ (Ez 13,19) Wer einen Gerechten verdammt, tötet nämlich ei­nen, der nicht sterben soll. Und wer versucht, den Angeklagten von der Strafe zu befreien, trachtet danach, einen am Leben zu erhalten, der nicht leben soll. Die Fälle sind also genau abzuwägen und [erst] dann ist die Macht zu binden oder zu lösen auszuüben. Es ist zu sehen, welche Schuld vorliegt oder welches die Reue ist, die der Schuld folgte, so daß der Spruch des Hirten [nur] den löst, den der Allmächtige durch die Gnade der Reue besucht hat. Dann nämlich ist die Erlösung durch den Vorsteher wahr, wenn sie dem Richtspruch des inneren Richters folgt. Dies zeigt gut jene Erweckung dessen, der [schon] vier Tage tot war: Sie zeigt nämlich, wie zuerst der Herr den Toten gerufen hat und ihn zum Leben erweckend sagte: ‘Lazarus, komm heraus!’ (Joh 11,43); und nachher wurde jener, der lebendig herauskam, von den Jüngern losgebunden.’ Und ebenso [sagt Gregor der Große]: ‘Siehe, nun binden die Jünger jenen los, den der Herr von den Toten erweckt hat. Wenn die Jünger näm­lich den toten Lazarus losgebunden hätten, hätten sie eher Totengestank freigesetzt als ihre Kraft gezeigt. Mit dieser Betrachtung wird uns vor Augen geführt, daß wir durch die Hirtengewalt jene lösen müssen, bei denen wir erkennen, daß unser Urhe­ber sie durch die Gnade der Wiedererweckung belebt. Allerdings kann diese Wie­derbelebung vor der Ausführung richtigen Handelns allein schon im Bekenntnis der Sünde erkannt werden. Daher wurde auch dem Toten in keiner Weise gesagt: Lebe wieder!, sondern: Komm heraus! Wie wenn für jeden in Schuld Verstorbenen offen gesagt würde: Komme durch das Bekenntnis schon hinaus, der du dich bei dir wegen einer Nachlässigkeit versteckst. Deshalb möge der Sünder herauskommen. Wahrlich herauskommend mögen die Jünger lösen, so wie die Hirten der Kirche dem die Strafe nachlassen, der sich nicht geschämt hat zu bekennen, was er begangen hat.’ Ferner: ‘Aber ob [nun] der Hirte zu Recht oder zu Unrecht bindet, der Spruch des Hirten ist dennoch von der Herde zu fürchten, so daß nicht jener, der untergeben ist und vielleicht zu Unrecht gebunden wurde, denselben Spruch der Bindung wegen einer andern Schuld verdient.’ Schließlich: ‘Wer in der Macht eines Hirten steht, hat zu fürchten, zu Recht oder zu Unrecht gebunden zu werden; und er soll den Richtspruch seines Hirten nicht übereilt kritisieren, daß er nicht, auch wenn er zu Unrecht gebunden wurde, durch den Stolz der stürmischen Kritik schuldig wird, was er nicht war.’

* Aus dem von Gregor Gesagten und durch die Beispiele der göttlichen Autorität wird klar, /122/ daß der Richtspruch der Bischöfe nichts wert ist, wenn er von der göttlichen Gerechtigkeit abweicht; gemäß jenem Propheten[wort]: Sie wollen tot ma­chen und Leben geben, was sie nicht können (vgl. Ez 13,19). Wenn sie beanspruchen, den Untergebenen zu Unrecht ihre Kommunion vorzuenthalten, so ist auch ihnen die Kommunion vorenthalten [, und zwar] durch einen Entscheid von Bischöfen selbst. Daher [sagt] das Afrikanische Konzil im [Kanon] 210: ‘Daß ein Bischof irgendwem nicht voreilig die Kommunion verbiete und daß – solange der Bischof mit dem Ex­kommunizierten nicht kommuniziert – andere Bischöfe mit diesem Bischof nicht kommunizieren, damit sich jeder Bischof sehr hüte, über irgendwen etwas zu sagen, was er mit anderen Dokumenten nicht beweisen kann.’

* Schließlich trägt sowohl, was [von Augustinus] gesagt wurde – ‘Denn die Gerech­tigkeit zerreißt ungerechte Fesseln’ –, als auch [, was von Gregor dem Großen gesagt wurde] – ‘Wer in der Macht eines Hirten steht, hat zu fürchten, zu Recht oder zu Un­recht gebunden zu werden; und er soll den Richtspruch seines Hirten nicht übereilt kritisieren, daß er nicht, auch wenn er zu Unrecht gebunden wurde, durch den Stolz der stürmischen Kritik schuldig wird, was er nicht war’ –, etwas zur Frage bei und öffnet den Weg der Lösung, wie ich meine.

These 30: Gott schafft schließlich Gerechtigkeit

Wer muß denn fürchten, zu Unrecht gebunden zu werden, wenn dies zu Unrecht auf keinen Fall geschehen kann, da ja ‘die Gerechtigkeit ungerechte Fesseln’ zerreiße? Wenn nun beide [Stellen] authentisch bewahrt werden sollen, kann es also sein, daß jemand durch ein menschliches Urteil zu Unrecht gebunden wird, daß aber die gött­liche Gerechtigkeit diese ungerechten Fesseln zerreißt. Denn zu Unrecht gebunden ist irgendeiner, wenn ihm eine Exkommunikation widerfährt, die er nicht verdient hat; er ist von der Kirche abgetrennt [mit dem Ziel], daß ihm der Beistand der Gläu­bigen nicht mehr gewährt ist. Aber diese bannenden Fesseln zerreißt Gott, weil er dieses Urteil des Hirten ungültig macht, so daß [Gott] jenen nicht von seiner Gnade ausschließt, den [der Hirte] von der Kirche ausgeschlossen hat.

Wenn aber jemand das, was den Aposteln über die Macht zu binden oder zu lösen oder über das Erlassen oder Nichterlassen von Sünden gesagt wurde, allen ihren Stellvertretern, also den Bischöfen, gleichermaßen zugestanden haben will, so scheint mir, sei dies so zu verstehen: /124/ Deren Macht im Urteilsspruch beim Exkommu­nizieren oder Wiederaufnehmen besteht darin, daß es diesen nämlich erlaubt ist, die Untertanen nach Belieben von der gegenwärtigen Kirche – wie gesagt – auszuschlie­ßen oder wieder in sie aufzunehmen. Wenn also den Aposteln gesagt wird: ‘Alles, was ihr auf Erden binden werdet‘ etc. (Mt 18,18), und wir dies als allgemein allen Bischöfen zugestanden verstehen, so ist das meiner Meinung nach so zu verstehen: wie die Hirten der Kirche hier auf irgendeine Weise – wie gesagt – jene binden oder lösen, so bestätigt die himmlische Macht deren gerechtes oder ungerechtes Urteil, auf daß dieses von den Untertanen aus Demut bewahrt werden soll. Daher kommt näm­lich auch das, was über abtrünnige Kirchenfürsten steht: ‘Tut und befolgt, was sie euch sagen.’ (Mt 23,3) Und der selige Gregor [der Große im] oben [erwähnten Text] schreibt vor, daß das Urteil des Hirten, selbst wenn es ungerecht ist, dennoch von den Untergebenen zu fürchten und nicht zu übertreten ist – auch wenn er sagt, daß der, der seine Untertanen zu Unrecht bindet, sich selbst der Macht zu binden und zu lösen beraubt, d. h., sich dadurch unwürdig macht. So nämlich, daß niemand, aus welchem Grund er auch immer durch Exkommunikation aus der Kirche ausge­schlossen worden ist, gegen den Willen des Bischofs darauf besteht, eingeschlossen zu sein, oder wagt, starrköpfig weiterhin in ihr zu bleiben, und ihm daraus nicht eine Schuld erwächst, die er zuvor nicht hatte.

Unter den Schlüsseln des Reiches der Himmel also, die den Aposteln oder Petrus übergeben wurden, verstehen wir die Macht, den Untertanen das Reich der Himmel, d. h. die gegenwärtige Kirche – wie gesagt – aufzuschließen oder zu verschließen. Denn einer der Schlüssel ist zum Aufschließen, der andere zum Zuschließen. Was wir jetzt über die Macht zu binden oder zu lösen sagen, die allen gleich zugestanden wurde, das kann vielleicht auch über das Erlassen oder das Zurückhalten von Sün­den verstanden werden: Es steht in deren Ermessen, wenn wegen Sünden die Strafe der Exkommunikation auszusprechen ist, sie ihren Untertanen aufzuerlegen oder sie davon zu befreien. Wenn der Herr nämlich sagt: ‘Alles, was ihr binden werdet’ und nicht: ‘Wen auch immer’, meint er, daß Sünden gebunden oder gelöst werden. So bedeutet, eine Sünde werde gelöst: sie werde vergeben. Und ebendieselbe werde ge­bunden: sie werde zurückgehalten, d. h., sie bleibe bestehen.

* Wenn wir dennoch sorgfältig über die Schenkung dieser und jener Macht nach­denken, werden wir sehen, daß so, wie der Zeitpunkt [der Verleihung der Mächte] verschieden war, auch diese Geschenke verschieden sind. Vor der Auferstehung nämlich ist dem Petrus und den anderen jene Macht zugesagt worden – wie Matthäus ge­schrie­ben hat. Diese wahrlich am Tag der Auferstehung selbst, wie uns Johannes in Erinne­rung ruft. Und schließlich hat der Herr noch vor der Auferstehung, wie Lukas be­richtet, ‘die Jünger zusammengerufen und /126/ zwölf unter diesen ausgewählt, die er auch Apostel nannte’ (Lk 6,13); und denen sagte er: ‘Ihr seid das Salz der Erde. ... Ihr seid das Licht der Welt.’ (Mt 5,13f) Auch schickte er diese zur Verkündigung und erteilte ihnen Macht zu binden und zu lösen, und so machte er sie schon ebenso sehr zu Bischöfen wie auch zu Aposteln. Wenn er sie aber nach der Auferstehung an­haucht und zu ihnen sagt: ‘Empfanget den Heiligen Geist. Wessen Sünden ihr ver­gebt’ etc. (Joh 20,22f), muß man sehen, daß dieses Geschenk des Heiligen Geistes gleichsam neu war und ausdrücklich ihnen zugestanden worden ist oder vielmehr nur jenen seiner Stellvertreter, die dieser Gnade nicht unwürdig waren: sie sind eher geistige als körperliche Wesen zu nennen, und in dem, was sie tun, erscheint jenes Urteilsvermögen, das wir oben [als vom] Geist [her stammend] bezeichneten. Da weder Judas, der Verräter, der schon tot war, noch der noch ungläubige Thomas da­bei waren, waren damals [nur] jene gegenwärtig, die des Empfangs dieser Gnade würdig waren.

Wenn nach all dem Erläuterten jemand gleichwohl festhält, daß allen Bischöfen gleichermaßen wie den Aposteln diese Gnade zugesprochen worden ist, so wollen wir niemandem mißgönnen [zu glauben], daß soviel Gnade allen gleich verteilt wurde, noch wollen wir hartnäckig jenen Widerstand leisten, die die Fülle der apo­stolischen Macht [beanspruchen] wollen.

Methodische Bemerkung 5: Schlußbemerkung zum ersten Buch

Mir reicht es, in allem, was ich schreibe, eher meine eigene Meinung darzulegen, als die Formulierung der Wahrheit zu versprechen. Auch wird in dieser Zeit genug deutlich: die Vernünftigkeit der Wahrheit entzündet selbst die zu Neid oder Haß, welche im Namen der Religion herausragen.

* Hier endet das erste Buch. /128/

Hier beginnt das zweite Buch.

III. Die Lehre vom guten Handeln

Methodische Bemerkung 6: Vorbemerkung zum zweiten Buch

* Das vorangehende kleine Büchlein unserer Ethica hatte die Aufgabe, bekanntzu­machen oder zu korrigieren, was Sünde heißt, und unterschied die Sünde selbst von den Lastern, die man das Gegenteil der Tugenden nennt. Damit ich mit der Abfolge jenes [Verses] des Psalmisten übereinstimme: ‘Meide das Böse und tu das Gute’ (Ps 37,27a), bleibt jetzt wahrlich, daß wir, nachdem wir darüber gehandelt haben, wie man sich vom Bösen abwendet, die Feder unserer Lehre zuwenden, wie das Gute zu tun ist.

These 31: Einteilung und Definition der Tugenden

* Die Klugheit, d. h. die Unterscheidung von Gut und Böse, ist eher die Mutter der Tugenden als eine Tugend. Ihr steht es zu, je nach Zeit, Ort oder Würde der Personen Erlasse zu gewähren.

* So wie wir aber Fehler von Sünden unterschieden haben, so scheinen die Tugen­den, die jenen Fehlern entgegengesetzt sind, gewisse Unterschiede zu haben zu jenen Gütern, durch die wir die Glückseligkeit verdienen und die im Gut des Gehorsams bestehen. So, wie nämlich Tugenden den Fehlern entgegengesetzt sind, so scheint auch die Sünde, wie eigentlich die Verachtung Gottes genannt wird, dem Gut des Gehorsams, d. h. dem bereiten Willen, Gott zu gehorchen, entgegengesetzt. Es kann sein, daß dieser Wille [nur] manchmal existiert: wenn er, empfangen für eine Zeit, noch nicht so fest und schwer zu ändern ist, als daß er verdient, Tugend genannt zu werden, [so entspricht dies] den Philosophen, denen es nämlich beliebte, nichts in uns Tugend zu nennen, wenn es nicht ein fester Habitus des Geistes ist oder der Habitus eines gut beschaffenen Geistes. Was sie wahrlich Habitus oder Neigung nannten, das hat Aristoteles als erste Art der Qualität [im achten Kapitel seiner ‘Kategorien’] sorgfältig unterschieden. Er lehrte nämlich, daß jene Qualitäten, die nicht natürlicherweise in uns sind, sondern die wir uns durch Anwendung aneignen, Habitus oder Neigungen genannt werden: Habitus, wenn sie schwierig zu ändern sind, wie [etwa, so] sagt er, Wissen und Tugend. Neigungen dagegen, wenn sie leicht zu ändern sind. Wenn also demnach jegliche Tugend von uns Habitus genannt wird, scheint es nicht abartig zu sein, den bisweilen zu Gehorsam bereiten Willen – da er, bevor er nicht bestärkt ist, leicht zu ändern ist – in keiner Weise Tugend und auch nicht Habitus zu nennen. Dennoch: Wer auch immer im Vorsatz dieses Willens das Leben beendet, ist in keiner Weise als Verdammter zu erachten. Von einem solchen Fall lesen wir im Buch der Weisheit: ‘Er gefiel Gott und wurde von ihm geliebt. Und da er mitten unter Sündern lebte, wurde er entrückt. Er wurde weggenommen, da­mit nicht Schlechtigkeit seine Einsicht verkehrte und Arglist seine Seele täuschte. [...] Früh vollendet, hat der Gerechte doch ein volles Leben gehabt; da seine Seele dem Herrn gefiel, enteilte sie /130/ aus der Mitte des Bösen.’ (Weish 4,10-11.13-14a) Unter den Gläubigen gibt es tatsächlich viele, die nicht von solcher Ausdauer sind, daß sie die Kämpfe des Martyriums aushalten könnten und bei feindseligen Gesin­nungen leicht abfallen würden. Die Schwäche dieser vorhersehend hat der Herr nicht erlaubt, daß sie über das [Maß] versucht werden, dem sie widerstehen könnten, und er hat jene nicht mit Feindlichem geprüft, die er für kleinmütig oder schwach hielt (vgl. 1 Kor 10,13). Auch leben jene, die einer solchen Wohltat eingedenk sind und daher Gott nicht nur kleinen Dank abstatten, um so demütiger, je mehr sie ihre Schwäche erkennen; und sie, die wegen solcher Wohltaten nicht undankbar bleiben, können von der Liebe Gottes nicht unbeachtet bleiben; sie wähnen sich um so mehr in der Schuld dessen, von dem sie noch mehr erhalten zu haben scheinen.

* Ende gemäß dem Exemplar.


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