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Die Ethik des Peter Abaelard

Unter moralischer Gesittung verstehen wir solche Schwächen oder Vollkommenheiten des Charakters, die uns zu bösen oder guten Werken geneigt machen. Doch gibt es nicht nur Schwächen oder Vorzüge des Charakters, sondern auch des Leibes, wie z. B. körperliche Hinfälligkeit oder Stärke, was wir Kraft nennen: Trägheit oder Schnelligkeit, hinkendes oder aufrechtes Gehen, Blindheit oder Sehen. Zum Unterschied davon wollen wir deshalb von Anfang an, wenn wir von Schwächen reden, Schwächen des Charakters verstanden wissen. Diese Schwächen aber, wie gesagt Schwächen des Charakters, stehen zu den entsprechenden Vorzügen in Gegensatz wie Ungerechtigkeit zur Gerechtigkeit, Feigheit zur Standhaftigkeit und Zügellosigkeit zur Selbstbeherrschung.

1. ÜBER DIE MORALISCHE CHARAKTERSCHWÄCHE

Nun gibt es aber auch gewisse Schwächen oder Vorzüge eines Charakters, die mit dem Moralischen nichts zu tun haben; denn wie geistige Stumpfheit oder rasche Aufnahmefähigkeit, Vergesslichkeit oder gutes Gedächtnis, Unwissenheit oder Bildung, machen auch sie das menschliche Leben weder tadelns- noch lobenswert. Weil diese Eigenschaften aber bekanntlich bei schlechten und guten Menschen gleichermaßen vorkommen, können sie keinen Einfluss auf die moralische Bildung haben und dem Leben weder zu Schimpf noch Ehre gereichen. Um solche Fälle auszuschließen, haben wir daher zu Beginn der Einführung des Begriffs Schwäche des Charakters gleich angefügt, die uns zu bösen Werken geneigt machen, d. h. die unser Wollen auf etwas richten, das man nicht tun oder lassen darf.

2. WAS DER UNTERSCHIED IST ZWISCHEN SÜNDE UND SCHWÄCHE, DIE UNS ZUM BÖSEN VERLEITET

Eine derartige Schwäche des Charakters ist aber nicht gleichbedeutend mit Sünde, und Sünde ist nicht gleichbedeutend mit einer bösen Tat. Z.B. jähzornig, d.h. zu einem Zornesausbruch geneigt oder bereit sein, ist eine Schwäche und verleitet den Sinn, irgend etwas, was sich nicht ziemt, aufbrausend und unüberlegt zu tun. Aber diese Schwäche ist eine Wesenseigenschaft, so dass einer zum Jähzorn veranlagt ist, auch wenn kein Anlass zum Zorn besteht: Genau wie das Hinken, wonach einer hinkend benannt wird, im Menschen selbst auch dann liegt, wenn er gar nicht geht, weil die Schwäche auch vorhanden ist, wenn die Äußerung fehlt. So macht auch viele zur Schwelgerei wie zum Zorn ihre eigene Natur oder ihre körperliche Veranlagung geneigt; aber dennoch sündigen sie nicht darin, dass sie so veranlagt sind, sondern sie haben dadurch einen Anlass zu kämpfen, um kraft der Tugend ihrer Selbstbeherrschung über sich selbst zu triumphieren und nach jenem Wort Salomons die Krone davonzutragen: "Ein Geduldiger ist besser als ein Starker, und der seines Mutes Herr ist, als der Städte gewinnet (Spr. Sal. 16,32)." Denn nach unserer Glaubensauffassung ist nicht von Menschen, sondern von seiner eigenen Schwäche besiegt zu werden schimpflich, wozu allerdings auch gute Menschen neigen, denn in diesem Punkt halten wir nicht stand. Zu solchem Sieg ermahnt uns aber der Apostel, wenn er sagt: "Keiner wird gekrönt, er kämpfe denn recht (2. Tim. 2,5)." Er kämpfe, wiederhole ich, nicht mit Menschen, sondern im Streit mit der eigenen Schwäche, damit sie uns nicht zu schlechter Neigung treibe: denn wenn auch die Menschen aufhören, uns nachzustellen, lassen sie doch nicht ab, uns zuzusetzen, damit ihr Kampf, je hartnäckiger er geführt würde, desto bedrohlicher, und der Sieg, je mühseliger errungen, desto rühmlicher sei. Wie viel die Menschen aber auch vermögen, können sie unserem Leben doch keinerlei Schande bringen, es sei denn, sie überwinden uns durch unsere Fehler, und, nachdem wir gleichsam in unsere Schwächen verstrickt sind, durch schimpfliche Neigung. Doch mögen jene Schwächen auch den Leib bezwingen: Solange der Sinn noch frei ist, ist nichts, was wahre Freiheit heißt, in Gefahr, und wir können keiner schimpflichen Knechtschaft verfallen. Denn nicht dem Menschen, sondern einer Schwäche zu dienen ist schimpflich; und nicht leibliche Knechtschaft, sondern Unterwerfung unter eigene Schwächen schändet die Seele; was nämlich guten und schlechten Menschen ohne Unterschied gemeinsam ist, kann weder mit Vollkommenheit noch mit Schwäche zusammenhängen.

3. WAS CHARAKTERSCHWÄCHE UND WAS SÜNDE IM EIGENTLICHEN SINNE HEISST

Schwäche ist etwas, wodurch wir zum Sündigen verleitet werden, d.h. wodurch wir verführt werden, unsere Zustimmung zu einer unziemlichen Sache zu geben, was natürlich soviel heißt, wie diese auszuführen oder sie zu lassen. Diese Zustimmung nun nennen wir im eigentlichen Sinn Sünde, d. h. eine Schuld der Seele, durch die sie Verdammnis verdient oder vor Gott angeklagt wird. Denn was ist eine solche Zustimmung anderes als Verachtung und Beleidigung Gottes selbst? Gott lässt sich nicht durch eine Übeltat, sondern nur durch Missachtung beleidigen; ist er doch jene höchste Machtvollkommenheit, die durch irgendeine unserer Untaten zwar nicht beeinträchtigt werden kann, aber jede Verachtung bestraft. So ist unsere Sünde Verachtung des Schöpfers, und Sündigen heißt den Schöpfer verachten, d. h. seinetwegen das nicht tun, was wir seinetwegen glauben, tun zu müssen - oder seinetwegen das nicht lassen, was wir glauben, lassen zu müssen. Wenn wir in dieser Weise Sünde etwa so negativ definieren: nicht tun oder nicht lassen, was sich gehörte, dann bringen wir damit klar zum Ausdruck, dass es eine Wesenheit einer Sünde, die im Nichtsein mehr als im Sein bestünde, nicht gibt, wie wenn wir eine Definition der Dunkelheit so formulieren wollten: Kein Licht, wobei das Licht doch Sein hatte. Doch vielleicht wirst du sagen, dass auch der Wille zu einem bösen Werk, der uns vor Gott einer Schuld zeiht, schon Sünde sei, gleichwie uns der Wille zu einem guten Werk gerecht macht; dass also, wie die Tugend in einem guten Willen, die Sünde im bösen Willen bestehe, aber nicht nur in einem Nichtvorhandensein, sondern wahrlich auch in demselben Grad von Sein wie der Wille selbst. Denn in demselben Maße, wie wir Gott gefallen, wenn wir etwas tun wollen, was Gott unserem Glauben nach gefällig ist, missfallen wir ihm auch und beleidigen wir ihn oder scheinen wir ihn zu verachten, wenn wir etwas tun wollen, was Gott unserem Glauben nach missfällt. Ich aber sage, dass darüber, wenn man genauer sein will, weit anders zu denken ist, als es scheint. Gerade weil wir bisweilen ohne jeden bösen Willen sündigen, und weil gerade der böse Wille, wenn er gezügelt, nicht ganz beseitigt ist, dem, der gegen ihn ankämpft, den Sieg verspricht, ihm Anlass zum Kampf gibt und die Krone des Ruhmes aufsetzt, darf er selbst nicht Sünde, sondern vielmehr eine gewisse, sogar notwendige Schwachheit genannt werden. Ist doch auch irgendeiner unschuldig, gegen den sein grausamer Herr in blinder Wut so aufgebracht ist, dass er ihm mit dem blanken Schwert nach dem Leben trachtet. Dieser flieht zwar lange vor ihm und meidet nach Möglichkeit sein Verderben, wird aber endlich dazu gezwungen, ihn wider seinen Willen umzubringen, um nur von ihm nicht getötet zu werden. Wer du auch bist, sage mir nun, welchen bösen Willen er bei dieser Tat hatte? Wenn er dem Tod entgehen wollte, wollte er das eigene Leben retten. War nun dieser Wille schlecht? Das glaube ich nicht, wirst du antworten; aber jener war es, der ihn den rasenden Herrn töten ließ. Und ich antworte: gut und schlau gesprochen, wenn man nur den Willen so auffassen könnte, wie du es meinst. Aber wie bereits gesagt, tat er es doch gezwungen und wider seinen Willen, weil er dessen Leben, solange wie irgendmöglich, nicht antastete; er wusste ja, dass aus den Folgen des Mordes auch ihm Lebensgefahr drohte. Wie sollte er also jene Tat, die ihn auch in eigene Lebensgefahr brachte, vorsätzlich verübt haben? Antwortest du aber, dies sei mit Willen geschehen, wenn auch erwiesen ist, dass er von dem Willen, dem Tod zu entgehen, nicht seinen Herrn zu morden, dazu getrieben wurde: so weisen wir diesen Einwand keineswegs zurück; sicher ist aber dieser Wille, der ihn, wie du sagst, dem Tod entfliehen, nicht den Herrn umbringen ließ, nicht als bösartig zu verwerfen. Und dennoch beging er einen Fehler, weil er seine Zustimmung gab; wenn es auch aus Furcht vor ungerechtem Tod geschah, hätte er den Mord doch eher an sich geschehen lassen sollen, statt ihn zu verüben. Denn er greift eigenmächtig zum Schwert, dessen Gebrauch ihm von der Obrigkeit nicht übertragen war. Die göttliche Wahrheit sagt dazu: Wer das Schwert anrührt, der soll durchs Schwert umkommen (Matth. 26,52), d.h. diese Verwegenheit machte ihn der Aburteilung und der Todesstrafe schuldig. Er wollte also dem Tod entrinnen, nicht seinen Herrn umbringen; weil er aber seine Zustimmung zu dem Mord gab, was er nicht gedurft hätte, so war diese unberechtigte Zustimmung, die dem Mord vorausging, eine Sünde. Wenn nun aber einer sagte, dass er seinen Herrn deshalb hat töten wollen, um dem Tod zu entgehen, kann deshalb nicht einfach behauptet werden, dass er ihn zu töten wünschte; wenn ich zu einem spreche, ich will, dass du meine Mütze besitzest, damit du mir fünf Münzen gibst, oder ich möchte gern, dass sie um diesen Preis in deinen Besitz übergeht, gebe ich ja auch noch nicht zu, ich wollte, sie sei sein. Aber auch gesetzt den Fall, einer, der im Gefängnis festsitzt, wollte seinen Sohn dorthin als Geisel stellen, um persönlich um seine Freilassung nachsuchen zu können; dürfen wir deshalb einfach zugeben, dass er seinen Sohn ins Gefängnis bringen wollte, was er doch unter vielen Tränen und schweren Seufzern unternehmen musste? Auf keinen Fall darf, um es so auszudrücken, ein Wille, der mit so großem seelischem Schmerz verbunden ist, noch anders als Leiden genannt werden. Und in Wahrheit verhält es sich so, dass jener das eine um eines ändern willen wünschte, oder dass er, wie man noch sagen könnte, das, was er nicht wollte, um eines ändern willen, das er wünschte, geschehen ließ. Es ist genau der gleiche Fall, wie wenn ein Kranker gebrannt oder geschnitten wird, damit er gesundet; so sollen ja auch die Märtyrer leiden, um zu Christus zu gelangen, so soll Christus selbst gelitten haben, damit wir durch sein Leiden gerettet würden. Dennoch dürfen wir nicht ohne weiteres behaupten, dass dies alles nach Wunsch geschehe. Nirgends kann es Leiden geben, wenn nicht in irgend einem Punkt etwas wider den Willen geschieht. Ganz bewusst erwähnt daher derselbe Apostel, der schon sagt: "Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christus zu sein (Phil. l, 23)", an einer anderen Stelle: "Wir wollen nicht entkleidet, sondern überkleidet werden, auf dass das Sterbliche würde verschlungen von dem Leben (2. Kor. 5,4)". Und der selige Augustin wies darauf hin, dass der gleiche Sinn auch vom Herrn in Worte gefasst wird, wo er zu Petrus spricht: "Du wirst deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hin willst (Joh. 21, 18)". Christus selbst aber ruft aus der Schwäche heraus, die er zusammen mit der menschlichen Natur angenommen hatte, zu seinem Vater: "Wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber, doch wahrlich, nicht wie ich will, sondern wie du willst (Matth. 26,39)". Sicher bangte auch seine Seele naturgemäß vor dem großen Leiden des Todes und was er als qualvoll kannte, konnte ihm nicht willkommen sein. Wenn über ihn irgendwo die Schrift sagt "er ist geopfert worden, weil er es selbst gewollt hat (Jes.53,7)", so muss dies entweder nach dem Wesen der Gottheit, nach deren Willen er in Menschengestalt leiden sollte, ausgelegt werden, oder es ist parallel zu jener Stelle des Psalmisten "Was er wollte, führte er aus (PS. 115,3)." "Was er wollte" ist im selben Sinn wie "was er beschloss" gebraucht. Daraus geht hervor, dass mitunter eine Sünde ohne wirklich bösen Willen verübt wird, und man sieht, dass Sünde nicht Wille genannt werden darf. Allerdings ist es so, wirst du sagen, wo wir zu sündigen gezwungen werden, aber nicht so, wo wir es mit Willen tun, wenn wir etwas tun wollen, von dem wir wissen, dass wir es auf keinen Fall tun dürfen. In diesem Fall scheint doch böser Wille und Sünde eins zu sein. Es sieht z.B. einer eine Frau, beginnt ihrer zu begehren und wird so heftig von der Lust des Fleisches ergriffen, dass er zu schimpflicher Tat entbrennt. Ist dann dieser Wille und dieser schändliche Trieb etwas anderes als Sünde? sagst du. Und ich antworte dagegen: Was aber, wenn dieser Wille von vorbildlicher Selbstbeherrschung im Zaum gehalten (nicht ganz ausgemerzt wird), ständiger Anlass zum Kampf bleibt und stets zur Überwindung anspornt, ohne sich besiegen zu lassen und davon abzustehen? Denn wo gibt es Kampf, wenn kein Anlass dazu vorhanden ist? Oder wie sollten wir große Belohnung verdienen, wenn wir nicht Schweres durchmachen müssen? Wenn kein Streit stattfindet, bleibt nichts übrig, als die Belohnung ohne Kampf zu nehmen; hier kämpfen wir aber, um irgendwo als Überwinder des Streits die Krone zu erlangen. Zu einem richtigen Kampf gehört ein Feind, der sich wehrt, nicht einer, der gleich beigibt. Dies ist aber unser böser Wille, über den wir triumphieren, wenn wir ihn dem göttlichen Willen unterwinden, nicht aber, wenn wir ihn gleich völlig ausmerzen, damit wir stets einen Feind haben, gegen den wir ankämpfen können. Was leisten wir schon Großes für Gott, wenn wir immer nur unseren Willen erfüllen, statt etwas gegen diesen zu ertragen? Wer hält es uns auch zugute, wenn wir bei dem, was wir angeblich zu seiner Ehre tun, nur unserem eigenen Willen folgen? Oder, wirst du sagen, welches Verdienst haben wir bei Gott an Dingen, die wir mit oder gegen unseren Willen tun? Keines, muss ich antworten; denn bei der Belohnung rechnet er wahre Gesinnung mehr an als ein Werk, das das Verdienst nicht um ein Kleines erhöht, mag es nun aus gutem oder bösem Willen hervorgehen, wie ich späterhin zeigen will. Achten wir aber seinen Willen höher als unseren, d. h. folgen wir jenem eher als unserem, so haben wir nach jenem Wort der Göttlichen Wahrheit: "Ich bin gekommen, nicht dass ich meinen Willen tue, sondern des, der mich gesandt hat (Joh.6,38)" großes Verdienst daran. Eben dazu ermahnt uns Christus ja auch, wenn er sagt: "So jemand zu mir kommt und hasset nicht seinen Vater, seine Mutter... dazu auch sein eigenes Leben, der ist meiner nicht würdig (Luk. 14,26)", natürlich wofern er nicht deren Einflüsterungen oder dem eigenen Willen entsagt und sich vollständig meinen Befehlen unterwirft. Wie wir aber den Vater hassen, nicht umbringen sollen, so sollen wir auch mit unserem Willen tun, dass wir ihn nicht etwa völlig abtöteten, sondern dass wir nicht danach handeln. Wer nämlich spricht: "Tu nicht nach deinen Begierden (Jes. Sir. 18,30)" und "Lass ab von deinem Willen (ebenda)", heißt uns damit nur, im Gegensatz zu völlig frei davon zu sein, unsere Begierden nicht zu erfüllen. Wie jenes fehlerhaft wäre, so ist dieses unserer Schwachheit unmöglich. Es ist auch nicht eine Frau zu begehren, sondern in die Begierde einzustimmen Sünde; und nicht der Wille, bei ihr zu liegen, sondern die Zustimmung dazu ist verdammenswert. Was wir über die sinnliche Genusssucht gesagt haben, sehen wir auch an der leiblichen bestätigt. Einer geht am Garten eines anderen vorbei, bemerkt da verlockende Früchte, und es befällt ihn große Begierde danach, ohne dass er jedoch seiner Begierde freien Lauf ließe, davon etwas diebisch oder räuberisch zu entwenden, wenn auch sein Sinn durch die verlockende Speise zu heftigem Verlangen gereizt ist. Wo aber Verlangen ist, da ist zweifellos auch ein Wille vorhanden. Deshalb begehrt er dessen Früchte zu essen und zweifelt nicht, dass darin ein Genuss liegt. Natürlich wird er durch das Wesen seiner Schwachheit selbst dazu getrieben, das zu begehren, was er ohne Wissen und Erlaubnis seines Herrn nicht nehmen darf. Er hält jedoch sein Verlangen zurück (tilgt es nicht ganz), weil er sich aber nicht verleiten lässt, darein einzustimmen, begeht er keine Sünde. Wozu aber dies alles? Damit es anhand solcher Beispiele endlich klar wird, dass man eben nicht das Wollen oder Wünschen einer unerlaubten Tat selbst, sondern wie gesagt eher die Zustimmung dazu Sünde nennt. Dann ganz besonders aber geben, wir einer Sache, die nicht erlaubt ist, unsere Zustimmung, wenn wir uns nicht ständig von ihrer Ausführung gewaltsam abhalten; bis ins Innerste sind wir nämlich bereit, sie bei der ersten Gelegenheit auszuüben. Deshalb trägt, wer sich über diesem Vorsatz entdeckt, noch nichts zu seiner Schuld oder Vermehrung der Sünde bei, mit Recht ist aber vor Gott bereits schuldig, wer sich anstrengt, dies mit allen Mitteln zu verwirklichen, - und es mit aller Kraft betreibt, als sei er, wie der selige Augustin erwähnt, auf dieser Tat bereits ergriffen. Wenn aber der Wille noch keine Sünde ist, und wir bisweilen, wie wir dargestellt haben, wider unseren Willen sündigen, behaupten manche doch, jede Sünde sei etwas Willensmäßiges; allein auch die sehen einen gewissen Unterschied zwischen Sünde und Willen darin, wenn man einen Unterschied zwischen Willen und Willkür macht, d.h. zwischen Willen und einer Tat, die willensmäßig geschieht. Wenn wir aber wirklich Sünde nennen, was wir oben als Sünde im eigentlichen Sinn bezeichnet haben, nämlich eine Verachtung Gottes oder Einstimmung in etwas, was wir glauben, um Gottes Gebot willen unterlassen zu müssen: wie können wir dann sagen, Sünde sei etwas Willensmäßiges, oder wir wünschten Gott zu verachten, was sündigen hieße, zu Lästerern zu werden oder sich die Verdammnis zuzuziehen? Denn wenn wir auch etwas tun wollten, dessentwegen wir, wie wir wissen, bestraft werden müssen, oder eine andere Strafe verdienen, wünschen wir deshalb doch nicht, bestraft zu werden; gerade darin zeigt sich aber, wie unbillig wir handeln, weil wir das, was nicht recht ist, tun, uns aber doch der Gerechtigkeit einer angemessenen Strafe nicht unterziehen wollen. Eine gerechte Strafe erregt unser Missfallen, während eine unrechte Handlung gefällt. Oft kommt es auch vor, dass wir wünschen, mit einer, von deren Reiz wir uns angezogen fühlen, das Bett zu teilen, dennoch aber an ihr nicht zum Ehebrecher werden wollen, wie sehr wir auch wünschten, sie sei unverheiratet. Umgekehrt gibt es aber viele, die nur zu ihrem Ruhm angesehener Leute Frauen noch mehr, als wenn sie unverheiratet wären, deshalb begehren, weil sie solcher Frauen sind; sie wünschen eher, die Ehe auseinander zubringen, als selbst den Genuss davon zu haben, d. h. sie ziehen das größere Vergehen dem kleineren noch vor. Doch gibt es auch solche, die sich sehr darüber ärgern, sich zur Einstimmung in eine Begierde oder zu einem bösen Willen haben hinreißen zu lassen, und solche, die von der Schwachheit ihres Fleisches gezwungen werden, das zu wollen, was ihnen zu wollen widerstrebt. Wie man demzufolge diese Einstimmung, die man gar nicht geben will, willensmäßig nennen kann, um dann wie jene zu behaupten, jede Sünde sei etwas Willensmäßiges, sehe ich durchaus nicht ein, wenn man nicht unter Freiwilligkeit alles, was nicht gerade notwendig ist, verstehen will, weil es keine Sünde gibt, die sich nicht vermeiden ließe; oder wir müssten so nennen, was überhaupt Folge irgend eines Willens ist. Denn wenn jener, der seinen Herrn gezwungen umbrachte, auch nicht den Willen zum Mord hatt e, tat er es doch aus irgend einem Willen heraus, da er doch sicherlich dem Tod entgehen oder ihn wenigstens hinauszögern wollte. Manche erregen sich nicht wenig, wenn sie uns sagen hören, dass die Ausführung einer Sünde weder den Anklagezustand noch die Verdammnis vor Gott verschärft. Sie wenden ein, dass doch das Tun einer Sünde einen gewissen Genuss vermittle, der die Sünde vermehre, wie die Begattung oder das Verzehren von Speisen, wovon wir sprachen. Darin hätten sie gar nicht unrecht, wenn sie genau beweisen könnten, dass ein derartiger leiblicher Genuss eine Sünde sei, und etwas Derartiges nur in Form einer sündigen Handlung begangen werden könne. Nehmen sie aber dies wirklich an, so darf sich freilich keiner solchem fleischlichen Genuss hingeben; dann sind weder Gatten frei von Sünde, wenn sie sich nach Brauch und Sitte gemeinsam diesem fleischlichen Genuss hingeben, noch jener, der sich an einem ergötzlichen Mahl rechtlich erworbener Früchte gütlich tut. Ferner wären alle Kranken schuldig, die zur Stärkung, um sich von der Krankheit wieder zu erholen, manche Leckerbissen schmausen, weil sie diese sicherlich nicht ohne Genuss zu sich nehmen, oder es müsste dabei die gute Wirkung ausbleiben. Endlich wäre der Herr selbst, der Schöpfer der Speisen wie unseres ganzen Leibes, nicht ohne Schuld, wenn er solche Leckereien erschuf, die den Unwissenden durch den Genuss unvermeidlich zu sündigen zwingen. Wie würde er denn solches zu unserer oder unserer Körper Nahrung erschaffen, wenn es uns unmöglich sei, dies, ohne zu sündigen, zu verzehren, und wie kann man nur behaupten, dass durch etwas, was erlaubt ist, gesündigt würde? Denn auch wenn später gestattet und damit erlaubt wird, was dann und wann nicht erlaubt und verboten war, geschieht dies nunmehr ganz ohne Sünde; heute sind uns doch ohne Zweifel der Genuss von Schweinefleisch und die meisten anderen Dinge, die den Juden einstmals verboten waren, gestattet. Wenn wir also sehen, dass auch Juden, die zu Christus bekehrt sind, gerne derartige, vom Gesetz verbotene Speisen genießen, wie dürften wir dann ihre Unschuld verteidigen, wenn wir nicht glaubten, dass ihnen das jetzt von Gott erlaubt ist? Wenn also bei solchem Genuss, der ihnen wohl einst verboten war, heute aber erlaubt ist, die Erlaubnis selbst die Sünde entschuldigt und dadurch eine Verachtung Gottes ausschließt, wer möchte da noch behaupten, dass man in einer Sache, die durch göttliche Erlaubnis gestattet ist, eine Sünde begeht? Wenn uns somit ein gemeinsames Lager mit der Gattin, oder das Verzehren einer erfreulichen Speise seit dem ersten Tage unserer Schöpfung, als man im Paradies noch ohne Sünde lebte, erlaubt ist, wer dürfte uns dann einer Sünde zeihen, solange wir die Grenzen des Erlaubten nicht überschreiten? Aber wiederum sagen sie, dass sich die Erlaubnis des rechtmäßigen Geschlechtsverkehrs und die, eine angenehme Speise zu verzehren, nicht auf den Genuss selbst erstrecke, sondern nur bewirken solle, dass dies gänzlich ohne diesen vor sich gehe. Doch wahrlich, wenn dies so ist, so ist es in einer Weise erlaubt, wie es unmöglich verwirklicht werden kann; und die Erlaubnis auf eine Weise zu geben, wie es sicherlich nicht geschehen kann, war unvernünftig. Außerdem verpflichtete einst das Gesetz in solchem Maß zur Ehe, dass in Israel jeder eine Nachkommenschaft hinterlassen musste; oder lässt etwa umgekehrt der Apostel Eheleute für eine Schuld büßen, wenn dies nun einmal nicht ohne Sünde begangen werden könnte? Wie könnte er auch von Schuld reden, wenn Sünde geradezu etwas Notwendiges wäre? Oder wie sollte man gezwungen sein, etwas zu tun, woraus Gott eine Beleidigung erwächst? Wie ich glaube, geht hieraus hervor, dass kein natürlicher fleischlicher Genuss als Sünde zu buchen sei, und dass nicht als Schuld zu rechnen sei, wenn man Genuss in einem Zustand findet, worin ein solcher notwendigerweise verspürt werden muss. Wenn man einen gewissenhaft religiösen Menschen fesselt und zwingt, zwischen Frauen zu liegen, und er unter der Einwirkung des weichen Lagers und durch die Berührung mit den ihn umgebenden Frauen in Verzückung, nicht in Zustimmung, gerät: wer möchte sich da anmaßen, diesen Genuss, den die Natur als Notwendigkeit schafft, Schuld zu nennen? Wenn du hier einwendest, dass, wie es gewissen Leuten scheint, selbst in legitimem geschlechtlichem Verkehr der Genuss als Sünde gilt, weil David sagt: "Siehe, in sündlichem Wesen bin ich empfangen (PS. 51, 7)"; und der Apostel, nachdem er gesagt hatte: "Kommet wiederum zusammen etc. (1. Kor. 7, 5)", endlich fortfährt: "Dieses sage ich euch aus Vergunst, nicht als Gebot (ebenda)": so scheint es, dass sie uns mehr durch ihre Autorität als durch die Vernunft dazu verpflichten wollen, zu bekennen, eben dieser fleischliche Genuss sei Sünde. Ist es doch anerkannt, dass David nicht in wilder, sondern in rechtmäßiger Ehe empfangen wurde; es kann also nicht, wie jene glauben, von Vergunst, d. h. milder Nachsicht, geredet werden, wo nicht die geringste Schuld vorliegt. Soweit es mir scheint, spielte David, weil er sagte, in sündlichem Wesen oder in Sünden sei er empfangen, und nicht hinzufügte, in wessen Sünde, hier auf den Fluch der Erbsünde an, auf Grund dessen er jenem Wort entsprechend, das irgendwo geschrieben steht, durch die Schuld seiner eigenen Väter der Verdammung unterworfen ist: Keiner ist vollständig rein, nicht einmal das Kind, wenn es erst einen Tag auf Erden gelebt hat. Denn auch nach der Auffassung des seligen Hieronymus sowie der Befürwortung durch die Vernunft ist die Seele, die noch im Kindesalter steht, frei von Sünde. Wenn sie also ohne Sünde ist: wie könnte sie da überhaupt vom Schmutz der Sünde befleckt sein, wenn man es nicht etwa als frei von Schuld, aber nicht der Strafe ledig auslegen müsste. Denn auch dem kann keine Verachtung Gottes zur Schuld gemacht werden, der noch nicht verstandesmäßig erfassen kann, was er tun muss, und dennoch ist er von der sündigen Befleckung seiner Vorväter nicht rein, deren Strafe - nicht Schuld - er sich zuzieht, und deren schuldhafte Missetaten er büßen muss. Wenn so David sagt, in sündlichem Wesen oder in Sünden sei er empfangen, so bekennt er damit, dass er durch die Schuld der eigenen Väter dem generellen Urteil der Bestrafung unterworfen ist, und schreibt diese Vergehen weniger seinen nächsten Eltern, als den Vorvätern überhaupt zu. Wenn nun der Apostel von Vergunst sprach, so darf man das nicht so verstehen, wie es jene wollen, als meinte er damit die Vergunst der Erlaubnis, also Verzeihung der Sünde. Wenn er nämlich spricht: "Aus Vergunst, nicht als Gebot", so ist das so aufzufassen, als sagte er damit: "Aus Erlaubnis, nicht als Zwang". Wenn nämlich Gatten, die sich in beiderseitiger Zustimmung dazu entschlossen haben, es wünschen, können sie sich des fleischlichen Verkehrs vollständig enthalten, ohne dass sie dann durch irgend ein Gebot dazu gezwungen werden könnten. Wollen sie das nicht, so haben sie die Vergunst, d. h. die Erlaubnis, im Gegensatz zu einem vollkommeneren Leben von den Gewohnheiten einer gelockerteren Lebensführung Gebrauch zu machen. An dieser Stelle meinte also der Apostel mit Vergunst nicht Vermeidung der Sünde, sondern Erlaubnis einer gelockerteren Lebensführung, welche zur Vermeidung unzüchtigen Verkehrs und einer Menge von Sünden dienen sollte: damit ein weniger guter Wandel lieber an Verdienst einbüße als an Sünde zunehme. Ich habe dies darum angeführt, dass keiner, nur weil er gerade will, dass jeder fleischliche Genuss Sünde sei, behaupte, durch einen äußeren Vorgang würde die Sünde selbst vermehrt - wobei er natürlich eine innere Zustimmung auch auf die Ausübung einer Handlung überträgt - so dass man nicht allein durch die Zustimmung zu einer Schimpflichkeit, sondern auch durch die Schande, die deren Ausführung mit sich bringt, befleckt würde, gleich als ob die Seele beflecken könnte, was getrennt von ihr im Körper vor sich geht. Also hat jegliche Ausführung irgendwelcher Taten mit Vermehrung der Sünde nichts zu tun, und nichts schändet die Seele als das, was von ihr selbst ausgeht; d.h. nur die Zustimmung, die, wie gesagt, mit unserem Willen der Ausführung eines Werkes vorangeht, oder mit ihr unmittelbar zusammenfällt, ist Sünde. Wenn wir nämlich auch wünschten oder täten, was sich nicht schickt, begehen wir dabei doch noch keine Sünde, weil das häufig allein und ohne Sünde vorkommt. Wie eine Zustimmung ohne jenes dazu das Gegenstück bildet, haben wir ja einigermaßen dargelegt: Wille z. B. ohne Zustimmung bei dem, der in Verlangen nach einer Frau gerät, die er irgendwo gesehen hat, oder nach eines anderen Frucht, und sich trotzdem nicht zur Zustimmung hinreißen ließ; böse Zustimmung, aber ohne schlechte Begierde an jenem, der wider Willen seinen Herrn tötete. Wie oft auch etwas, was an sich nicht geschehen dürfte, doch ohne Sünde - weil etwa gezwungen oder aus Unwissenheit - geschieht, weiß wohl jeder Bescheid: etwa wenn einer Gewalt widerführe, bei dem Mann einer anderen zu liegen; oder auch wenn jemand so vollständig getäuscht wird, dass er mit der geschlafen hätte, die er für seine Gattin hielt; oder wenn einer irrtümlich jemanden getötet hätte, weil er glaubte, ihn an Richters statt töten zu müssen. Nicht eines andern Weib zu begehren oder bei ihr zu liegen ist also Sünde, sondern eher dieser Begierde oder Handlung zuzustimmen, was auch das Gesetz eindeutig Begierde nennt, wenn es sagt: "Du sollst nicht begehren... (5. Mose 5. 21)". Denn nicht das zu begehren, was wir nicht vermeiden können, oder worin wir, wie gesagt, keine Sünde begehen, sondern jener anderen Begierde zuzustimmen, sollte verhindert werden. So ist auch jenes Wort des Herrn zu verstehen: Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren... (Matth. 5, 28)"; denn es ist gemeint: "Wer ein Weib ansieht, um sich zur Zustimmung seiner Begierde verleiten zu lassen, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen (Matth. 5, 28)", wenn er auch in der Tat keine Ehe brach; d.h. er wird schon einer Sünde geziehen, die er noch nicht ausgeführt hat. Wo nur immer Werke durch Vorschrift oder Verbot begrenzt scheinen, müssten diese doch, genauer betrachtet, eher auf den Willen oder die Zustimmung dazu als auf die Werke selbst bezogen werden; ohnehin kann ja eigentlich nichts, was mit Verdienst zusammenhängt, unter Vorschrift gebracht werden, und je weniger dies in unserer Macht steht, desto schlechter ist auch eine Vorschrift am Platze. Es gibt ja vieles, was man uns zu tun verbietet, und doch tragen wir Willen und Zustimmung dazu stets in unserem Planen. Denn siehe, Gott spricht: "Du sollst nicht töten, du sollst kein falsches Zeugnis reden (5. Mos. 5,17,20)". Wenn wir dies nach dem Klang der Worte nur auf die Handlung beziehen, wird in keiner Weise das Widerrechtliche untersagt, auch nicht eigentlich die Schuld, sondern die damit verbundene Tat verboten. Denn einen Menschen zu töten ist keine Sünde, auch nicht bei fremder Gattin zu schlafen, was ab und zu ohne Sünde geschehen kann; und auch jener ist nach dem Gesetz nicht schuldig, der falsches Zeugnis reden will oder seine Zustimmung dazu gibt, solange er es nicht wirklich tut, wobei völlig gleichgültig ist, aus welchem Grunde er schweigt - wenn man, wie die Worte tönen, ein derartiges Verbot nur auf die Tat bezieht. Heißt es doch nicht, wir sollten kein falsches Zeugnis reden oder unsere Zustimmung nicht geben wollen, sondern einzig: Wir sollen es nicht reden. Oder wenn uns das Gesetz verbietet, unsere Schwestern zu heiraten oder uns mit ihnen zu paaren, könnte doch keiner dies Gebot halten, wenn er etwa seine Schwestern einmal nicht wieder erkennen kann; niemand könnte es, sage ich, wenn sich das Verbot gegen die Handlung statt gegen die Zustimmung richtete. Wenn es also vorkommt, dass einer aus Unkenntnis seine Schwester heiratet: überschreitet er damit die Vorschrift, weil er tat, was das Gesetz zu tun verbot? Er überschreitet sie nicht, wirst du sagen, weil er zu dem, was er unwissend vollführte, seine Zustimmung nicht gab. So wie man also nicht sagen darf, der überschreitet das Gesetz, der wider ein Verbot handelt, sondern wer seine Zustimmung zu einer als verboten bekannten Sache gibt, so kann auch das Verbot nicht auf die Tat, sondern nur auf die Zustimmung bezogen werden. Wenn es also heißt: "Du sollst dies oder jenes nicht tun, so bedeutet das natürlich: "Du sollst dieser oder jener Tat deine Zustimmung nicht geben, gleich als ob gesagt wäre: du sollst dies nicht mit Wissen tun. Der selige Augustin, der dies sorgfältig erwog, bezog daher alle Sünde oder deren Verbot auf die Nächstenliebe oder den Egoismus und sprach: "Das Gesetz befiehlt nichts als Nächstenliebe, und nichts verbietet es als Egoismus. So meint auch der Apostel mit dem Wort: "Das ganze Gesetz besteht aus dem einen Satz: du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (Röm. 13,8,10)". Und nochmals: "Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung (ebenda)". Denn, wenn du nur dem Bedürftigen dein Mitleiden zeigst und dich die Nächstenliebe dazu treibt und der Wille bereit ist, so ändert nichts am Verdienst, wenn auch die Mittel fehlen, solange du nicht an dich hältst trotz allem, was dich daran hindern mag, zu tun, was in deinen Kräften steht. Denn bekanntlich werden gute und weniger gute Werke von guten und schlechten Menschen in gleicher Weise verrichtet, wobei diese allein die Absicht scheidet. Sehen, wir doch auch Gott Vater, den Herrn Jesus Christus und den Verräter Judas, wie der genannte Lehrer erwähnt, bei ein und demselben Beginnen. Denn die Überantwortung des Sohnes geschah durch Gott, den Vater, sie geschah auch durch den Sohn und durch jenen Verräter. Sowohl der Vater gab seinen Sohn dahin als auch der Sohn sich selbst, wie der Apostel erwähnt (Röm. 8, 32; Gal. 2, 21), und ebenso Judas seinen Meister. Der Verräter tat also dasselbe wie Gott; tat er aber recht daran? Denn wenn er auch Gutes tat, tat er doch nicht gut daran oder so, dass es zum Nutzen ausschlagen musste. Gott wägt ja nicht was, sondern wie etwas geschieht, und nicht in der Handlung, sondern in der Absicht des Handelnden besteht Verdienst oder Lob. Denn häufig entspringt ein und dieselbe Tat verschiedenen Absichten, bei dem einen aus Gerechtigkeit, bei dem anderen aus Schlechtigkeit: wie wenn von zweien, die einen Angeklagten verurteilen, es jener aus einem Gerechtigkeitsdrang, dieser aus Hass wegen eines früheren Streites tut; und wenn bei der Verurteilung auch dieselbe Tat zu Grunde läge und beide natürlich täten, was Recht und Gerechtigkeit verlangt, so geschieht ein und derselbe Vorgang dennoch entsprechend der Verschiedenheit der Absichten von verschiedenen Standpunkten aus, wobei der eine schlecht, der andere gut handelt. Wer wüsste schließlich nicht, dass selbst der Teufel nur tun kann, was ihm von Gott erlaubt wird, etwa wenn Gott einen Übeltäter nach Verdienst bestraft oder erlaubt, irgend einen Gerechten zur Läuterung oder zur Probe seiner Geduld heimzusuchen? Weil ihn aber zu dem, was ihm Gott erlaubt, seine eigene Schlechtigkeit treibt, kann seine Macht ebenso gut oder sogar gerecht genannt werden, wie sein Wille immer ungerecht ist. Diese erhält er nämlich von Gott, über jenen verfügt er von sich aus. Wer selbst von den Auserwählten könnte, was nur die Werke anbelangt, den Heuchlern gleichkommen? Und endlich wer wüsste nicht, dass bisweilen, was Gott verbietet, doch wohl geschieht oder geschehen muss: wie er im Gegenteil bisweilen manches vorschreibt, was doch eigentlich kaum getan werden darf? Denn wir wissen ja, dass er bei manchem seiner Wunder, wo er Krankheiten heilte, natürlich aus Bescheidenheitsgründen verbot, es bekannt zu machen, dass sich keiner, dem solche Gnade ohne Verdienst zuteil wurde, ihrer rühme. Nichtsdestoweniger ließen aber jene, an denen solche Wohltaten geschahen, nicht davon ab, sie allenthalben zu verkünden, und sie (freilich zur Ehre dessen, der sie getan, aber auch verboten hatte) bekannt zu machen; von jenen Leuten steht geschrieben: "Je mehr er es ihnen zu verkündigen verbot, umso mehr redeten sie davon (Mark. 7,36)". Wirst du nun solche, die gegen die Vorschrift, und dazu mit Wissen, verkündeten, was sie erhalten hatten, ihrer Übertretung halber schuldig sprechen? Wer möchte sie sonst davon freisprechen, wenn nicht die Tatsache, dass sie nichts zur Verachtung dessen sagten, der es ihnen aufgetragen hatte, sondern vielmehr zu seinen Ehren zu handeln dachten? Sage mir nun bitte, ob Christus etwas vorschrieb, was nicht vorgeschrieben werden durfte, oder ob jene versäumten, was befolgt werden musste? Mit Recht war vorgeschrieben, was nicht mit Recht ausgeführt werden durfte. Du willst wohl den Herrn auch beschuldigen, weil er Abraham zuerst geboten hatte, seinen Sohn zu opfern, was er ja danach selbst verhinderte? War es etwa nicht recht, dass Gott zu tun befahl, was nicht mit Recht geschehen konnte? Denn, wenn es recht war, warum wurde es dann wieder verboten? Wenn es aber recht ist, ein und dasselbe vorzuschreiben und wieder zu verbieten, denn Gott lässt nichts ohne bestimmten Grund zu und lässt auch nichts geschehen - so siehst du daraus, dass nicht die Ausführung einer Tat, sondern allein die Absicht bei einer Vorschrift Gott entschuldigt, wenn er also etwas vorschreibt, was nicht mit Recht ausgeführt werden kann. Denn Gott wollte oder befahl nicht, dass Abraham seinen Sohn opfern sollte, sondern, um dadurch seinen Gehorsam, seine Glaubenstreue oder Liebe gegen ihn genauestens zu prüfen, und uns das in diesem Beispiel zu überliefern. Bekennt doch Gott das selbst später offen, wenn er sagt: "Nun erkenne ich, dass du Gott fürchtest (1.Mos.22,12)", was so viel ist, als sagte er: Das, wozu du dich bereit gezeigt hast, habe ich dir deshalb aufgetragen, damit auch andere einst erkennen, was ich selbst vor Jahrhunderten an dir erkannt habe. Also war Gottes Absicht zu einer schlechten Tat gut; und so war auch das Verbot recht, das er ihm wie gesagt nicht um des Verbotes willen erteilte, sondern, um uns Schwachen ein Beispiel zu geben, leeren Ruhm zu meiden. Also schrieb Gott etwas vor, was nicht mit Recht geschehen konnte, wie er in jenem anderen Fall verbot, was mit Recht hätte geschehen können. So wie ihn hier die Absicht entschuldigt, entschuldigt sie auch jene, die in der Tat sein Gebot nicht gehalten haben. Denn sicher wussten sie, dass er diese Vorschrift nicht gegeben hatte, dass sie erfüllt würde, sondern nur, um ein rühmliches Vorbild seiner Bescheidenheit zu geben. Wenn also der Wille dessen, der das Gebot gegeben hatte, nicht verletzt wurde, verachteten sie ihn auch nicht, da sie sich darüber klar waren, seinem Willen nicht zuwider zu handeln. Wenn wir also mehr Gewicht auf die Werke als auf die Absicht legen, sehen wir, dass manchmal nicht nur der Wille besteht, Gottes Vorschrift zuwider zu handeln, sondern dass so tatsächlich auch mit vollem Wissen gehandelt wird, ohne dass irgend eine Sündenschuld darin läge; auch darf man das deshalb weder bösen Willen noch böse Tat nennen, wenn einer auf solche Weise Gottes Gebot nicht hält, solange die Absicht dessen, dem das Gebot gilt, vom Willen des Gebietenden nicht abweicht. Dann entschuldigt ihn nämlich die Absicht des Gebietenden, der etwas vorschreibt, was dem Täter doch wenig ziemt; also entschuldigt den, dem das Gebot gilt, Absicht und Gottesliebe. Um nun das bereits Besprochene noch einmal kurz zusammenzufassen, sind vier Hauptpunkte, die wir anführten, sorgfältig voneinander zu unterscheiden: erstens natürlich die Charakterschwäche, die uns zu sündigen geneigt macht; darauf die Sünde selbst, die wir in der Zustimmung zu einem Übel oder in der Verachtung Gottes erkannt haben; drittens der Wille zu einer bösen Tat und letztens die Handlung einer solchen selbst. Wie aber etwas zu wollen nicht dasselbe ist wie seinen Willen zu erfüllen, so ist auch Sündigen nicht gleichbedeutend mit der Ausführung einer Sünde. Denn jenes ist als eine innere Übereinstimmung mit der Sünde, dieses als Ausführung und Tat zu verstehen, d. h. als tätliche Ausführung dessen, wozu wir vorher unsere Zustimmung gegeben haben. Wenn wir nun sagen, dass die Sünde oder Versuchung auf dreifachem Wege vor sich geht, nämlich auf dem Wege der anziehenden Regung, des lustvollen Verlangens und der Zustimmung, so ist daraus zu sehen, dass wir auf diesem dreifachen Wege häufig zur Sünde verleitet werden, wie es auch unseren Vätern seit alters her erging. Die Einflüsterung des Teufels ging voran, als er uns im Genuss des verbotenen Baumes Unsterblichkeit versprach; das Verlangen stellte sich ein, als das Weib beim Anblick des schönen Baumes daran dachte, dass die Frucht süß schmecken müsste, und als sie überwältigt von dem Genuss, den Sie darin vermutete, in Begierde danach entbrannte. Obwohl sie, um Gottes Gebot zu halten, ihre Begierde hätte unterdrücken sollen, ließ sie sich dennoch durch ihre Zustimmung zur Sünde hinreißen. Wenn sie auch diese Sünde reuig wieder gut machen musste, um Verzeihung zu verdienen, so hat sie sie letzten Endes doch wirklich begangen; und so war auch ihr Weg zur Ausführung der Sünde ein dreifacher. Ebenso gelangen wir häufig - zwar nicht zum Sündigen - aber doch zur Ausführung einer Sünde durch eben diese Affekte, nämlich erstens durch Einflüsterung, d.h. durch das Drängen eines Wesens, das uns nicht äußerlich dazu veranlasst, etwas Unziemliches zu tun. Sobald wir dann gemerkt haben, dass dies mit Genuss verbunden ist, spüren wir jenen Genuss schon vor der Tat in unserer Vorstellung und werden gerade durch diese Vorspiegelung des Genusses in Versuchung geführt. Sobald wir aber letztlich in voller Überzeugung jenem Genuss zustimmen, sündigen wir eben: Über diese drei Stufen gelangen wir dann zur Ausführung einer Sünde. Manche wollen auch solche Einflüsterungen des Fleisches, wobei die einflüsternde Person fehlt, zum Begriff der Überredung rechnen, wenn etwa einer beim Anblick eines Weibes beginnt, sie zu begehren. Aber solche Überredung darf wohl auch nur Lust genannt werden; denn diesen geradezu notwendigen und ähnlich geartete weitere Genüsse, die wir in unserer vorigen Feststellung von der Sünde getrennt haben, nennt auch der Apostel eine menschliche Versuchung, wenn er sagt: "Es hat euch noch keine denn menschliche Versuchung betreten; aber Gott ist getreu, der euch nicht lässt versuchen über euer Vermögen, dass die Versuchung so ein Ende gewinne, dass ihr es könnt ertragen (1. Kor. 10,13)". Gewöhnlich nennt man ja Versuchung jede innere Neigung, etwas Unziemliches zu tun, sei sie nun Wille oder Zustimmung. Menschliche Versuchung aber heißt die, die außer in Verbindung mit unserer menschlichen Schwäche kaum, oder überhaupt nicht vorkommt, etwa fleischliche Begierde oder Verlangen nach verlockender Speise; davon wollte auch jener, der rief: "Herr, reisse mich aus meinen gemeinen Begierden! (PS. 25,17)" befreit werden. Er hätte ja auch sagen können: Befreie mich von den Versuchungen unserer Lüste, mögen sie auch natürlich und geradezu notwendig sein, auf dass sie mich nicht zur Zustimmung verleiten oder ich kein Leben führe, das in lauter Versuchungen vollständig verstrickt ist. Wenn also der Apostel sagt: "Euch kann nur menschliche Versuchung betreten", so ist dieser Satz fast so zu verstehen, als sagte er: Wenn auch der Sinn durch einen Genuss verleitet wird, der, wie gesagt, eine menschliche Versuchung ist, so soll diese ihn doch nicht bis zur Zustimmung hinreißen, worin die Sünde besteht. Wenn nun einer etwa fragte, welche Tugend wir jenen bösen Lüsten entgegenstellen könnten, antwortet der Apostel: "Gott ist getreu, der euch nicht lässt versuchen, gleich als ob er sagte: eher als aus eigener Kraft etwas zu erwarten, muss man ihm vertrauen, der uns Hilfe verspricht und in allen Versprechen wahrhaftig d. h. getreu ist, so dass sich seine Treue auf alle ergießen muss. Ganz besonders lässt er uns dadurch nicht über unsere Kraft versuchen, dass er in seinem Erbarmen diese menschliche Versuchung so mäßigt, dass sie uns - natürlich nicht ohne Kampf - nicht weiter zur Sünde treibt, als unsere Kräfte ausreichen. Dazu aber wendet er uns die Versuchung sogar zum Guten und stärkt uns durch sie so, dass sie uns ein ander Mal weniger anhaben kann, wie wir auch den Angriff eines Feindes, den wir schon einmal besiegt haben, weniger fürchten, weil wir ihm standzuhalten wissen. Denn jeden Kampf, in dem wir noch unerfahren sind, fürchten wir mehr und halten wir schwerer aus. (Sobald er aber dem Sieger zur Gewohnheit geworden ist, schwindet mit der Furcht zugleich auch der Mut.)

4. ÜBER DIE EINFLÜSTERUNGEN DER DÄMONEN

Nun gibt es indessen nicht nur menschliche, sondern auch dämonische Suggestionen; denn auch die verleiten uns bisweilen zwar weniger durch Worte als durch Taten zur Sünde. Durch die Feinheit ihres Ingeniums wie durch lange Erfahrung mit dem Wesen der Natur vertraut (schon ihr Name nennt sie Dämonen, d.h. Wissende), kennen sie die wesentlichen Kräfte der Dinge, durch die menschliche Schwäche leicht zu Leidenschaft und Laune erregt werden kann. So umstricken sie bisweilen manche - mit Gottes Erlaubnis - in Schwermut, bringen auf deren dringende, an sie gerichtete Bitten Heilung und gelten, sobald sie nur ablassen einem zuzusetzen, als heilkundig. Schließlich ward ihnen ja auch in Ägypten erlaubt, in Gestalt von Zauberern viel Wunderbares gegen Moses zu verrichten; doch sind sie auch aufgrund der natürlichen Kraft der Dinge, die sie erkannt haben, weniger Schöpfer der Taten, die sie verrichten, als deren Ausführer zu nennen: denn auch einer, der nach der Anweisung Vergils das Fleisch eines Stiers hämmert und dadurch die Entstehung von Bienen bewirkt (Vergils Georgica Buch 4 V. 281 -314, bes. 285), darf weniger Schöpfer der Bienen, als nur Vorbereiter eines natürlichen Vorgangs genannt werden. So treiben uns die Dämonen mittels ihrer Kenntnis des Wesentlichen, die schon in ihrer Natur liegt, dadurch zur Begierde oder den übrigen menschlichen Leidenschaften, dass sie diese durch irgend eine uns unbekannte Kunst hervorrufen, sei es, dass sie sie in irgendeinen Geschmack oder ein weiches Bett bannen, oder sie sonst irgendwie auf dem Weg der Empfindung oder Wahrnehmung in uns wachrufen. Denn in den Kräutern oder Samen oder der Natur der Bäume wie der Steine ruhen viele Kräfte, die unseren Sinn erregen oder beschwichtigen können, wozu auch der leicht imstande ist, der genaues Wissen darüber hat.

5. WARUM DIE WERKE DER SÜNDE MEHR ALS DIESE SELBST BESTRAFT WERDEN

Manche geraten nicht wenig in Erstaunen, wenn sie uns sagen hören, ein sündhaftes Werk werde eigentlich gar nicht zur Sünde gerechnet oder trage nichts zur Vermehrung der Sünde bei; auch verstehen sie uns nicht, wenn wir fragen, warum den Reumütigen schwerere Buße für eine begangene Tat als für den Befund ihrer Schuld auferlegt wird. Denen antworte ich zunächst mit der Gegenfrage, warum sie sich nicht besonders darüber wundern, dass oft schwere Strafe und Bußleistung verhängt wird, wo gar keine Schuld vorliegt, und dass wir zuweilen solche bestrafen müssen, von deren Unschuld wir überzeugt sind. Es hat z. B. irgend ein armes Weib ein noch kleines, unbeholfenes Kind und nicht so viel Kleidung, dass es für das Kind in der Wiege oder gar für sie selbst reichen könnte; wenn sie auch aus Mitleid mit dem Kinde ihre eigenen Lumpen ablegt, um sie wärmend darüber zu breiten, schließlich aber durch des Kindes Schwäche doch gezwungen wird, alle inneren Widerstände zu überwinden und das so oft in heißer Liebe umarmte Kind zu töten, so sagt zwar auch Augustin: "Übe die Nächstenliebe und tue sonst, was du willst; doch kommt sie vor den Bischofsstuhl, so wird ihr als Genugtuung schwere Strafe auferlegt, allerdings nicht für die Schuld, die sie auf sich geladen hat, sondern deshalb, dass ein zweites Mal sie selbst oder andere Frauen in Voraussicht solcher Strafe bedachtsamer würden. Manchmal kommt es auch vor, dass einer von seinen Feinden bei einem Richter verklagt und so plump beschuldigt wird, dass der Richter erkennt, dass jenen solche Schuld nicht trifft. Weil jene anderen aber dennoch darauf bestehen und sich vor Gericht Gehör zu verschaffen wissen, bringen sie an einem festgesetzten Tag den Fall vor und führen Zeugen auf, die natürlich falsch sind, um ihren Beschuldigten zu überführen; weil nun der Richter selbst diese Zeugen nicht mit beweiskräftigen Gründen widerlegen kann, ist er nach dem Gesetz gezwungen, ihnen Glauben zu schenken, und nachdem ihre Zuverlässigkeit somit erwiesen ist, muss er einen Unschuldigen bestrafen, der nicht bestraft werden dürfte. Also muss ihn der Richter bestrafen, und mag es auch nicht nach Verdienst geschehen, so tut er doch als Diener des Gesetzes recht daran. Daraus ersieht man denn, dass nach dem Paragraphen manchmal auch der bestraft wird, bei dem gar keine Schuld vorliegt. Was Wunder dann, dass eine Tat, die der vorausgegangenen Schuld folgt, bei den Menschen in diesem Leben die Strafe zwar vermehrt, nicht aber desgleichen vor Gott in einem künftigen Leben? Denn die Menschen urteilen nicht nach verborgenen, sondern nur nach offenkundigen Beweisen, und sie messen weniger nach dem Maß der Schuld, als nach dem Ausgang einer Tat. Einzig und allein Gott, der mehr auf das Motiv einer Tat als auf diese selbst sieht, misst unsere Schuld wahrheitsgemäß nach der Absicht und erforscht sie nach wahrer Einsicht, weshalb er auch der "Erforscher des Herzens und der Nieren (Jer.20,12)" genannt wird, der "auch im Verborgenen sieht (Matth.6,4)". Denn da sieht er am besten, wo niemand sieht, und darum fragt er bei der Bestrafung einer Sünde nicht nach dem Werk, sondern nach der wahren Gesinnung, wie wir im Gegenteil nicht nach der Gesinnung, die wir nicht sehen, sondern nach dem Tatbestand fragen, der uns bekannt ist. Daher bestrafen wir irrtümlich oft Unschuldige oder sprechen Schuldige auf Zwang des Gesetzesbuchstabens frei. Erforscher und Kenner des Herzens und der Nieren wird Gott genannt, d. h. Erforscher und, Kenner jeglicher Absicht, mag sie nun aus irgend einer Gemütsverfassung, aus Schwäche oder unter dem Einfluss fleischlicher Genüsse entstehen.

6. ÜBER GEISTIGE UND FLEISCHLICHE SÜNDEN

Wenn auch im Grund alle Sünden rein geistiger und nicht fleischlicher Art sind, weil nur, wo Wissen um Gott
und Vernunft besteht, Schuld, d. h. Gottesverachtung, bestehen kann, so spricht man doch von speziell geistigen und fleischlichen Sünden, d. h. von solchen, die aus Charakterschwächen, und solchen, die aus fleischlicher Schwachheit entstehen. Und mag auch böse Lust - wie der Wille - rein geistiger Art sein, weil wir nur willensmäßig etwas begehren oder wünschen können, so redet man doch von einer Begierde des Geistes, wie von einer solchen des Fleisches. "Das Fleisch", so sagt nämlich der Apostel, "gelüstet wider den Geist, und den Geist wider das Fleisch (Gal.5,17)"; d.h. um eines fleischlichen Genusses willen wünscht der Geist manches, oder hält es doch für wünschenswert, wenn er es auch nach dem Urteil der Vernunft scheut.

7. WARUM GOTT ERFORSCHER DES HERZENS UND DER NIEREN HEISST

Ganz im Sinne dessen, was wir vorausgeschickt haben, nämlich dass man von fleischlichen und geistigen Begierden spricht, ist Gott Erforscher des Herzens und der Nieren genannt, also Durchschauer derjenigen Absichten und Einverständnisse, die hier ihren Ausgang nehmen. Weil wir aber nicht imstande sind, dies zu untersuchen und zu beurteilen, bilden wir unser Urteil vorzüglich nach den Werken, strafen weniger die Schuld als die Werke und sind auch nicht so sehr darauf bedacht, den Schaden zu strafen, den einer seinem eigenen Seelenheil zufügt, als das, was anderen Schaden bringen könnte, steuern also einem Übel lieber vor aller Öffentlichkeit, als dass wir es persönlich unter vier Augen wieder berichtigen, wie es der Herr dem Petrus empfiehlt. "Sündigt dein Bruder an dir, so stelle ihn zwischen dir und ihm allein zur Rede (Matth. 18,15)". Heißt aber "wenn er an dir sündigt" und nicht etwa "an einem andern", dass wir ein Unrecht, das uns geschehen ist, genauer berichtigen oder ahnden sollen, als eines, das andere betrifft? Das sei ferne! "Wenn er an dir sündigt", damit meinte er, wenn er etwas eindeutig darum tut, um dich durch sein Beispiel zu verführen. Sündigt er aber so bei sich selbst, dass seine Schuld nicht zutage tritt, sondern ihn allein schuldig spricht, so kann er natürlich, wie er sich auch bemüht, durch sein Beispiel die Schuld nicht auch auf andere übertragen. Doch selbst in einem Fall, wo niemand da ist, der dessen böse Tat nachahmen oder auch nur anerkennen könnte, ist in menschlichem Interesse die Tat doch mehr zu rügen als die innere Schuld, weil sie mehr Unheil anrichten und sich verderblicher auswirken könnte als eine verborgene innere Schuld. Denn alles, was der Allgemeinheit zum Verderb oder der Öffentlichkeit zur Last werden kann, ist demgemäß härter zu strafen; was größeres Unheil anrichtet, verdient bei uns entsprechend größere Sühne, und größeres Ärgernis der Menschen zieht sich vor den Menschen ein umso härteres Verfahren zu, wenn auch die vorangegangene Schuld geringer ist. Nehmen wir einmal den Fall an: einer hat in der Kirche ein Weib geschändet; kommt dieser Vorfall vor die Ohren des Volkes, entrüstet es sich weniger über die moralische Schändung des Weibes oder Gottes heiligen Tempels als vielmehr über die Verletzung eines fleischlichen Tempels, weil es trotz allem schwerer wiegt, sich gegen Fleisch und Blut als gegen vier Wände zu vergehen, oder einer Frau als einem Gebäude unrecht zu tun, mögen wir auch bei schwerer Brandstiftung härter als bei begangener Hurerei strafen, was natürlich bei Gott weitaus schwerer wiegt. Solches geschieht allerdings weniger, weil man es der Gerechtigkeit schuldete, als zur Aufrechterhaltung rechtlicher Ordnung, um, wie bereits gesagt, einem der Öffentlichkeit drohenden Übel im Sinne des Gemeinnutzes zu steuern. So strafen wir also oft kleinste Vergehen mit fast zu harten Strafen, wobei es uns weniger um angemessene Gerechtigkeit geht, welche Schuld vorausgegangen sein könnte, als vorsorglich und bedacht zu erwägen, welches Unheil aus zu geringer Strafe entstehen könnte. Indem wir also die zugrunde liegende Schuld göttlichem Urteil vorbehalten, beschäftigen wir uns nach unserem Urteil mit der Behandlung ihrer Auswirkungen und Schlichtung, weit sie es sind, mit denen wir uns rechtlich zu befassen haben, d. h. wir sind weniger auf Unverfälschtheit rechtlichen als klugen Denkens, das wir Vernunft nennen, bedacht. Gott aber bestimmt die Strafe jedes Einzelnen nach dem Maß seiner Schuld, und alle, die ihn vollkommen missachten, werden einst ohne Rücksicht auf Rang und Stellung entsprechend bestraft. Wenn nämlich ein Mönch und ein Laie in gleicher Weise ihr Einverständnis zur Hurerei geben, und der Sinn des Laien ebenso sehr danach steht, dass auch er, wäre er Mönch, aus Ehrfurcht vor Gott nicht von dieser Schande abließe, so verdient er die gleiche Strafe wie der Mönch. Das gleiche gilt auch, wenn von zweien der eine durch seine Sünde offensichtlich viele verdirbt und durch sein Beispiel verführt, während der andere, der es im Verborgenen tut, nur sich selbst schadet. Wenn nämlich der, der im Verborgenen sündigt, in demselben Vorsatz und in der gleichen Missachtung Gottes lebt wie jener andere, so dass die Tatsache, dass er andere nicht verführt, mehr einem Zufall als dem Grund, dass er es um Gottes Willen unterließe, zuzuschreiben ist, so verstrickt er sich vor Gott in ein vollkommen gleiches Schuldverhältnis, da er sich ja um Gottes Willen auch nicht selbst beherrscht. Nicht den Endeffekt irgendwelcher Taten, sondern allein den Sinn wägt Gott bei der Belohnung des Guten oder Bösen, und er fragt nicht, was aus Schuld oder gutem Willen entsteht, sondern er urteilt nach der Absicht selbst, also nicht nach dem Ausgang einer rein äußerlichen Handlung. Denn die Werke an sich, die, wie schon früher gesagt, von Bösen und Auserwählten in gleicher Weise und gemeinsam vollführt werden, sind unter sich vollkommen indifferent und dürfen nur im Zusammenhang mit der Absicht der handelnden Person gut oder böse genannt werden, so dass also nicht die Tatsache an sich, dass sie getan werden, gut oder böse ist, weil sie gut oder böse nur entsprechend einer guten oder bösen Absicht geschehen. Denn wie Augustin erwähnt, ist sogar das Böse gut, wenn Gott einmal gerade das Böse zu gutem Zweck geschehen lässt und ihm keine andere Wesenheit zubilligt, mag es auch an sich keineswegs gut sein. Wenn wir nun die Absicht eines Menschen gut nennen und das Werk gut nennen, unterscheiden wir beides, Absicht und Werk; dennoch aber bezeichnen wir mit gut eigentlich nur die Absicht allein, gleichwie wir, wenn wir von einem guten Menschen und von dessen Sohn sprechen, zwar von zwei Menschen reden, aber doch dadurch nicht beide als gut darstellen. Nennt man also einen Menschen auf Grund seiner guten Eigenschaften gut, so zeigt dies, dass einer, weil er als der Sohn eines guten Mannes gilt, selbst noch nichts Gutes an sich haben muss: Und also wird speziell nur eines jeden Absicht gut genannt, während ein Werk an sich nicht gut geheißen werden kann, weil es ja sozusagen das Kind einer guten Absicht ist. Daher ist es ein Wesen, wonach Absicht wie Handlung gut genannt werden, wie es auch nur ein Wesen ist, das einem guten Menschen und dessen Kind seinen Namen gibt, oder ein Wesen, nach dem man einen Menschen und seinen Willen gut heißt. Wer also stets dagegen hält, auch die tatsächliche Verwirklichung einer Absicht sei der Belohnung wert oder trage etwas zur Vermehrung der Belohnung bei, soll doch nur einmal darauf achten, wie läppisch dieser Einwand ist. Gute Absicht, so sagt er, plus dem Ergebnis davon sind zwei gute Dinge; und ein Gut in Verbindung mit einem anderen muss doch mehr wert sein, als jedes Gut für sich. Darauf antworte ich: Wenn wir nun annähmen, jene Verbindung sei mehr wert als das einzelne, müssten wir uns dann größere Belohnung zusprechen? Doch wohl nicht. Allerdings gibt es viele lebendige wie leblose Dinge, die als Masse größeren Nutzen bringen, als gebrauchte man jedes Teil dieser Menge für sich; und doch gebührt der Masse nicht die geringste Belohnung. Man denke nur an einen zum andern oder zu einem Gaul geschirrten Ochsen, an ein doppeltes oder an ein Metall befestigtes Stück Holz, was doch sicher gute Dinge sind, die im Verband stärker sind als jedes einzelne Teil für sich: auch sie haben ganz und gar nicht mehr Anspruch auf Belohnung. "In Wahrheit, wirst du sagen, ist es so; doch sind das keine Dinge, die sich Verdienste erwerben können, da s ie der Vernunft entbehren. Aber hat denn eines unserer Werke Vernunft, so dass es Belohnung verdienen könnte? "Das zwar nicht, wirst du entgegnen, aber dennoch sagt man, ein Werk macht sich verdient, weil es uns Verdienst bringt, d. h. weil es uns Anspruch auf Belohnung, sogar Anspruch auf höhere Belohnung gibt. Haben wir dies auch gerade erst bestritten, so vernimm doch noch einmal, warum es bestritten werden muss. Zwei Leute haben denselben Vorsatz, je ein Armenhaus zu errichten. Der eine kann den Gegenstand seines Gelübdes erfüllen, dem andern aber ist es nicht vergönnt, den Vorsatz auszuführen, weil ihm das Geld, das er dafür gespart hatte, gewaltsam geraubt wurde. Er selbst trägt keine Schuld daran, weil ihn einzig Gewaltsamkeit davon abhält. Konnte nun das, was rein äußerlich geschah, sein Verdienst vor Gott schmälern, oder konnte jenes Menschen Schlechtigkeit Gott den weniger genehm machen, der mit allen Kräften strebte, Gott zu Gefallen zu handeln? Das hieße ja, eine Menge Geld könnte jeden besser und verdienter machen, wenn sie so ohne weiteres zu Verdienst oder Vergrößerung des Verdienstes beizutragen vermöchte, und die Menschen könnten je reicher desto besser werden, weil sie mit Hilfe ihres großen Reichtums ihrer Gesinnung durch allerlei Werke stärkeren Ausdruck verleihen können. Dies zu glauben, dass Reichtum zur wahren Seligkeit oder Würde der Seele etwas beitragen oder die Verdienste der Armen schmälern könne, ist größte Torheit. Wenn also der Besitz irdischer Güter die Seele nicht bessern kann, so kann er sie allerdings auch weder Gott gefälliger machen, noch irgend ein Verdienst zur Seligkeit bedeuten.

8. ÜBER DIE BELOHNUNG REIN ÄUSSERLICHER WERKE

Dennoch wenden wir nichts dagegen ein, dass in diesem Leben jene guten oder bösen Werke irgendwie belohnt werden, damit wir durch diese irdische Vergeltung in Form einer Belohnung oder Strafe mehr zum Guten er muntert oder vom Schlechten abgehalten werden, und, damit sich auch andere ein Beispiel nehmen zu tun, was sich ziemt, und sich vor dem hüten, was sich nicht schickt

9. DASS DIE VEREINIGUNG VON GOTT UND MENSCH IN CHRISTUS AUCH NICHT BESSER IST ALS GOTT ALLEIN

Um schließlich wieder zu unserem Ausgangspunkt zurückzukehren, wo ja behauptet wurde, ein Gut in Verbindung mit einem anderen stelle etwas Besseres dar, als jedes von diesen allein bedeute: Sieh zu, dass du nicht so weit kommst, Christus, d. h. die gegenseitige Vereinigung von Gott und Mensch in einer Person, als etwas Höheres zu bezeichnen, als die Göttlichkeit oder Menschlichkeit Christi, d.h. als der mit dem Menschen vereinigte Gott oder der von Gott in sich aufgenommene Mensch für sich allein ist. Bekanntlich wurde ja der Mensch in Christus so aufgenommen, wie Gott das Gute in sich aufnimmt, und beide Wesen können nur als gut angesehen werden: Wie auch in den einzelnen Menschen die körperliche wie die körperlose Substanz gut ist, mag auch das Gute im Körperlichen auf Würde und Verdienst der Seele keinen Einfluss haben. Wer wollte es denn wagen, jenes Ganze, was man Christus nennt, also Gott und Mensch zugleich, oder jede beliebige Menge an Dingen, als ob es dann etwas Besseres sein könnte, dem Gott vorzuziehen, der sowohl das höchste Gut ist, wie ja auch alle Dinge von Gott empfangen, was nur irgendwie gut an ihnen ist? Denn wenn auch manches zu einer Handlung so notwendig erscheint, dass - man denke etwa an Stützen oder irgendwelche Bedingungen als Ausgangspunkte der Schöpfung - Gott diese ohne jene nicht verrichten kann, so kann dennoch, wie groß auch eine Menge an Dingen ist, nichts besser als Gott genannt werden. Und wenn es eine Anzahl von irgendwelchen Gütern gibt, wobei sich die Qualität auf mehrere verteilt, so hat das deshalb nicht zur Folge, dass sich die Qualität erhöht: wie sich die Bildung des Einzelnen, wenn sie sich auf mehrere reichlich verteilt, so dass die Zahl gebildeter Menschen wächst, deshalb auch nicht zu erweitern braucht, so dass sie dadurch etwa gediegener würde als sie es vorher war. Wenn sich das absolut Gute auf mehrere Wesen verteilt - Gott als solcher ist ja gut und schafft Unzähliges, was, ohne diese Fähigkeit von ihm erlangt zu haben, weder überhaupt sein noch gut sein könnte - wenn es sich also so verteilt, dass die Zahl guter Dinge wächst, kann dennoch nichts Gutes seiner Güte vorgezogen oder gleichgestellt werden. Wenn auch sowohl im Menschen wie in Gott Gutes ruht, kann dennoch keine Qualität einer Sache göttlicher Güte vorgezogen oder verglichen werden, weil die Beschaffenheit der Wesen, auf denen jenes Gute beruht, verschieden ist; demzufolge darf im Vergleich zu Gott kein Gut größer, d.h. besser oder gleichwertig genannt werden.

10. DASS EINE MENGE GUTER DINGE NICHT BESSER IST ALS EIN EINZELNES

In einer Tat oder Absicht scheint aber das Gute oder ein Gut nicht mehrfach vertreten zu sein. Wenn nämlich Absicht und Handlung gut geheißen wird, d.h. wenn die Handlung in guter Absicht geschieht, wird allein die Reinheit der Absicht gekennzeichnet, und der Begriff des Guten darf durch eben diese Bezeichnung nicht so verstanden werden, dass wir darunter mehrere Güter verstehen könnten; denn auch wenn wir sagen, einer sei ein einfacher Mensch und seine Redeweise sei einfach, geben wir deshalb noch nicht zu, es seien mehrere Einfachheiten, weil die Bezeichnung "einfach" das eine Mal anders als das andere Mal angewandt wird. Folglich kann uns, wenn die gute Absicht einer guten Tat zugesellt ist, niemand zwingen zu gestehen, dass sich die Güter gegenseitig ergänzten, als seien es mehrere, und als müsste die Belohnung diesen entsprechend größer werden; denn wie gesagt können wir hier nicht mit Recht von mehreren Gütern sprechen, weil sich damit der Begriff des Guten nicht vollständig deckt.

11. DASS ES ALLEIN DIE GUTE ABSICHT IST DIE EIN WERK GUT SEIN LÄSST

Während wir eine Absicht gut, d. h. richtig in sich selbst, nennen können, lässt sich von einer Handlung nicht behaupten, sie berge selbst etwas Gutes in sich, da sie aus einer guten Absicht hervorgeht. Wenn daher auch von ein und demselben Menschen in verschiedenen Lagen das gleiche getan wird, so nennt man die jeweilige Handlung doch entsprechend den verschiedenen Motiven bald gut, bald schlecht, und sie scheint zwischen gut und böse zu schwanken, sowie auch die Annahme oder die Bedeutung des Satzes "Sokrates sitzt" zwischen Wahrheit und Unwahrheit schwankt, wenn Sokrates abwechselnd sitzt und steht. Dieser unstete Wechsel zwischen Wahrheit und Unwahrheit, sagt Aristoteles, beruht aber nicht etwa darauf, dass jene bald wahre bald falsche Aussage von diesem Wechsel selbst etwas in sich berge, sondern dass sich das zugrunde liegende Subjekt, in diesem Fall Sokrates, verändert, also vom Sitzen zum Stehen, oder umgekehrt.

12. NACH WELCHEM MASSTAB EINE ABSICHT GUT ZU HEISSEN IST

Manche halten aber schon die Absicht für recht und gut, so oft man glaubt, etwas recht zu machen, und dass es Gott gefällig sei, wie auch die Wahrheit des Evangeliums über die Verfolgungen der Märtyrer sagt: "Es kommt die Zeit, dass, wer euch tötet, wird meinen, er tue Gott einen Dienst daran (Joh. 16,2)". Der Apostel nun sah ihnen ihre Unkenntnis nach, da er sagte: "Ich gebe ihnen das Zeugnis, dass sie Eifer um Gott haben, aber nicht mit Verstand (Röm. 10,2)", d. h., dass sie großen Drang und großes Verlangen haben, etwas zu tun, womit sie Gott zu gefallen glauben; weil sie sich aber in ihrem Drang und Eifer täuschen, ist ihre Absicht verfehlt, und das Auge ihres Herzens nicht ungetrübt, dass es klar sehen, d. h. sich vor Irrtum vorsehen könnte. Und weil Gott die Werke genau nach rechter oder ungerechter Absicht trennt, nannte er das geistige Auge, das ist die Absicht, entweder ungetrübt und gleichsam rein von Schmutz, so dass es klar sehen kann, oder im Gegenteil verdunkelt, als er sagte: "Wenn dein Auge ungetrübt ist, wird auch dein ganzer Leib klar sein", womit er meinte, wenn die Absicht recht ist, wird auch die ganze Zahl der Werke, die daraus entstehen und nach Art alles Körperlichen wahrgenommen werden können, des Lichtes wert, also gut sein; und für das Gegenteil gilt das gleiche. Also darf eine Absicht nicht gut genannt werden, wenn sie nur so scheint, sondern wenn sie darüber hinaus auch ist, wie man sie glaubt, d. h. wenn einer glaubt, in seinem Streben Gott zu gefallen, und sich dazu in seiner Meinung nicht täuscht. In jenem anderen Fall aber wären ja die Werke der Heiden ebenso gut wie unsere, da auch sie nicht weniger als wir glauben, auf Grund ihrer Werke gerettet zu werden, oder ihrem Gott zu gefallen.

13. DASS NUR, WAS GEGEN DAS GEWISSEN GESCHIEHT, SÜNDE SEIN KANN

Wenn doch noch einer fragte, ob Christi Verfolger oder die der Märtyrer in dem, wodurch sie Gott zu gefallen glaubten, sündigten; oder ob sie jenes, was sie doch in keiner Weise lassen zu dürfen glaubten, hätten lassen können, so dürfen wir nach dem, was wir oben geschrieben haben, nämlich dass Sünde Verachtung Gottes sei, oder seine Zustimmung einer Sache zu geben, der man glaubt, nicht zustimmen zu dürfen, nicht sagen, dass sie darin gesündigt hätten, noch dass ihre Unkenntnis oder sogar ihr Unglaube Sünde sei (mag das auch noch kein Grund zu ihrer Rettung sein). Wie sollten die, die Christus nicht kennen und den christlichen Glauben verschmähen, weil sie der Ansicht sind, er vertrage sich nicht mit ihrem Gottesbegriff, Gott verachten, wo sie doch um Gottes Willen handeln und gerade deshalb glauben, recht zu tun? Ohnehin sagte der Apostel: "Wenn uns unser Herz nicht tadelt, haben wir auch vor Gott nichts zu fürchten (1, Joh. 3, 21)", womit er meinte: Sollen wir vergeblich fürchten, vor Gott einer Schuld geziehen zu werden, solange wir nicht gegen unser Gewissen handeln? Aber wie könnte der Herr selbst für seine Kreuziger bitten: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun (Luk.23, 34)", der nach diesem Beispiel für seine Steiniger bat und rief: "Herr, rechne ihnen das nicht zur Sünde? (Act.7,59)". Denn es kann doch wohl nicht verziehen werden, wo keine Schuld vorausgegangen ist; gewöhnlich spricht man von vergeben nur dann, wenn die Strafe, die sich eine Schuld verdient hat, erlassen wird. Stephanus aber nannte ganz eindeutig Sünde, was aus Unkenntnis geschah.

14. WAS MAN ALLES ALS SÜNDE BEZEICHNEN KANN

Um diesen Einwänden besser begegnen zu können, muss man wissen, dass das Wort Sünde verschieden aufgefasst werden kann, wenn auch im eigentlichen Sinn mit Sünde nur Verachtung Gottes oder Zustimmung zum Bösen bezeichnet wird, wie wir ja bereits dargestellt haben. Von dieser sind kleine Kinder und selbstverständlich auch Irre unberührt; denn sie, die auch der Vernunft entbehren, haben keine Verdienste, und daher wird ihnen nichts zur Sünde angerechnet. Sie werden allein durch die Sakramente erlöst. Unter Sünde versteht man aber auch Opfer der Sünde, weil der Apostel spricht, unser Herr Jesus Christus sei zur Sünde geworden. Sogar die Strafe der Sünde wird oft fälschlich als solche bezeichnet, wenn wir sagen: eine Sünde wird vergeben statt die Strafe wird erlassen, und "der Herr Jesus Christus hat unsere Sünden getragen" statt "er hat die Strafe unserer Sünden oder deren Folgen auf sich genommen". Indem wir nämlich sagen, dass schon neugeborene Kinder durch Erbsünde belastet sind, oder dass wir alle, wie der Apostel spricht, in Adam gesündigt haben, so heißt das so viel, wie wenn gesagt würde, dass sich durch dessen Sünde der Ursprung unserer Strafe oder Verdammnis erkläre. Sogar der Sünde Werke selbst, was wir als nicht recht erkannt haben oder was wir Schlechtes wollen, nennen wir nicht selten Sünde. Denn dass einer eine Sünde begangen hat, ist ja nichts anderes, als dass er eine Folge der Sünde erfüllt hat. Kein Wunder, wenn wir nach jenem Wort des Athanasius die Sünden selbst fälschlicherweise Taten nennen; denn er sagt: "Sie werden Rechenschaft ablegen müssen über ihre Taten, und die gute getan haben, werden in ein ewiges Leben eingehen, die aber schlechte getan haben, in das ewige Feuer". Was soll denn heißen "über ihre Taten"? Soll etwa nur das in Rechnung kommen, was man durch Werke bekräftigt hat, so dass bei der Belohnung mehr empfinge, der mehr Werke aufzuweisen hätte? Oder sei der vor der Verdammnis sicher, der einem Vorsatz die Tat nicht folgen ließ wie der leibhaftige Verführer, der in der Tat nicht einhielt, was er sich im Innern vorgenommen hatte? Das sei ferne! Also meint er mit "über ihre Taten" vielmehr über ihre Zustimmung zu dem, was sie zu erfüllen beschlossen hatten, d. h. über die Sünden, die bei Gott statt einer verübten Tat angerechnet werden, weil er ja jene so bestraft, wie wir die Werke. Wenn aber Stephanus Sünde nennt, was ihm die Juden aus Unkenntnis antaten, so meinte er hierbei mit Sünde nur die Strafe sowie deren weitere Folgen, die er selbst für seiner Väter Sünde erlitt, oder seiner Verfolger unrechtes Tun, das seinen Ausdruck in der Steinigung fand. Wenn er aber bat, es ihnen nicht anzurechnen, so heißt das, sie deshalb nicht leiblich zu strafen. Denn oft bestraft Gott die Menschen körperlich schon in diesem Leben, und wenn das auch keine Folge ihrer Schuld darstellt, so geschieht es doch nicht ohne Grund, wenn er etwa auch Gerechte zu ihrer Läuterung oder Prüfung heimsucht, oder wenn er dem Bösen erlaubt, jemandem zuzusetzen, um diesen dann davon wieder zu befreien und sich auf diese Wohltat hin verherrlichen zu lassen, wie mit jenem Blinden geschehen ist, von dem er selbst sagt: "Es hat weder dieser gesündigt, noch seine Eltern, dass er ist blind geboren, sondern damit die Werke Gottes offenbar würden an ihm (Joh. 9,3)". Wer könnte ferner leugnen, dass bisweilen mit bösen Eltern zugleich auch ihre unschuldigen Kinder für deren Schuld versucht oder heimgesucht werden, wie es an den Leuten von Sodom geschah oder bei vielen Völkern oft vorkommt, damit die Strafe desto härter sei und die Schlechten deutlicher gewarnt würden. Stephanus wusste wohl Bescheid über die Sünde, d. h. Strafe, die er von der Juden Hände erlitt, oder über das, was sie zu unrecht taten, als er bat, es ihnen nicht anzurechnen, d. h. sie deshalb nicht leiblich zu strafen. Dieser Überzeugung war auch der Herr, als er rief: "Vater, vergib ihnen (Luk.23,34)", d.h. räche das nicht, was sie an mir tun, auch nicht durch leibliche Bestrafung; denn dies könnte ja logisch daraus folgen, auch wenn keine Schuld vorausgegangen wäre, damit verständlicherweise auch die übrigen Zuschauer oder die Peiniger selbst an der Strafe sähen, nicht recht daran getan zu haben. Doch dem Herrn gefiel es, uns durch das Beispiel seiner Rede so deutlich wie möglich zur Tugend der Duldsamkeit und zum Dienst der höchsten Liebe zu ermahnen, um uns das, was er uns durch Worte gelehrt hatte, nämlich auch für unsere Feinde zu bitten, durch das eigene Beispiel in der Tat zu beweisen. Wenn er also sprach "Vergib", so dachte er dabei nicht an vorausgehende Schuld oder Verachtung Gottes, sondern an die Art der bevorstehenden Strafe, die wie gesagt mit voller Begründung hätte folgen können, auch wenn keine Schuld vorausgegangen wäre. So geschah es an dem Propheten, der nach Samaria geschickt wurde und auf seiner Reise aß, was ihm der Herr verboten hatte. Obwohl er darin nichts zur Verachtung Gottes unternahm, weil er von einem anderen Propheten hintergangen worden war, verlor er seine Unschuld, zwar weniger durch ein Schuldverhältnis als allein durch die Ausübung eines Werkes. Denn wie der selige Gregorius erwähnt, ändert wohl Gott bisweilen einen Entschluss, niemals aber seinen Ratschluss; was er sich einmal aus irgend einem Grund anzuordnen oder anzudrohen vorgenommen hat, lässt er oft nicht geschehen. Sein Ratschluss aber bleibt unveränderlich, d. h. was er in seiner Voraussicht zu tun plant, bleibt nie ohne Erfüllung. Indem er den Befehl, den er Abraham betreffs der Opferung seines Sohnes gab, oder die Drohung an den Leuten von Ninive nicht einhielt, änderte er wie gesagt ein Vorhaben; Auf diese Weise aber glaubte der erwähnte Prophet, dem Gott verboten hatte, unterwegs zu essen, ändere sich auch Gottes Beschluss, und er begehe einen großen Fehler, wenn er dem anderen Propheten keinen Glauben schenke. der, wie er vorgab, von Gott dazu gesandt sei, seiner Ermattung durch Speise aufzuhelfen. Also handelte er ohne Schuld, weil er eine Schuld zu vermeiden dachte, und sein plötzlicher Tod schadete dem nichts, der dadurch von täglicher Mühsal befreit wurde, diente aber vielen zur Lehre, weil sie sahen, dass ein Gerechter so ohne Schuld gestraft und an ihm jenes Wort erfüllt wurde, das irgendwo von Gott gesagt ist: "Weil du, Gott, aber gerecht bist, regierst du alle Dinge gerecht, wenn du auch den verdammst, der die Strafe nicht verdient hat (vgl. Weish. Sal. 12,15)": Du verdammst ihn nicht zum ewigen, sondern zum leiblichen Tod, soll das heißen. Denn wie manche, etwa kleine Kinder, auch ohne Verdienst gerettet werden und allein durch Gnade das ewige Leben erlangen, ist es auch nicht widersinnig, dass mancher leibliche Strafe erleidet, der sie nicht verdient hat. Bekanntlich sollen ja auch Kinder, die ohne das Sakrament der Taufe gestorben sind, zu leiblichem wie ewigem Tod verdammt sein und auch sonst viele unschuldig heimgesucht werden. Was Wunder also, wenn logischerweise die Peiniger des Herrn wegen jener unrechten Tat zeitlicher Strafe verfallen können, wiewohl Unkenntnis ihre Schuld entschuldigt, und was Wunder, wenn es daher heißt "Vergib ihnen", d.h. erlass ihnen die Strafe, der sie als Folge dessen, was wir nun gezeigt haben, ganz natürlich verfallen können. So wenig wie das, was jene aus Unkenntnis taten, darf auch die Unkenntnis an sich oder ihr Unglaube Sünde im eigentlichen Sinn, also Verachtung Gottes genannt werden, mag dies alles auch nach der Einsicht jedes normalen Menschen zwangsläufig die Tür zum ewigen Leben verschließen; denn selbst wenn es mehr aus Unkenntnis als aus Bosheit geschieht, reicht dem Evangelium-nicht-glauben, von Christus-nicht-wissen oder die Sakramente-nicht-erhalten zur Verdammnis völlig aus. Nach der göttlichen Wahrheit heißt es hierzu: "Wer nicht glaubt, der ist schon gerichtet (Joh. 3, 18)", und der Apostel sagt: "So jemand nicht kennt, der soll nicht gekannt werden (1. Kor. 14, 38)". Geben wir aber zu, aus Unwissenheit sündigen zu können, wenn wir etwas Unziemliches tun, so verstehen wir dabei unter Sünde nicht Verachtung, sondern eine Handlung selbst. Auch nach der Philosophen Meinung heißt ja sündigen etwas schlecht tun oder sagen, mag es auch mit Verachtung Gottes nichts zu tun haben. Daher sagt auch Aristoteles, als er sich (im Zusammenhang mit seinen Erörterungen über die Relativitätsverhältnisse) über die fehlerhafte Benennung von Dingen, die zu anderen in einem Umkehrungsverhältnis stehen, wie folgt ausließ: "Bisweilen aber scheint der Fall einzutreten, dass keine Umkehrung möglich ist, wenn man nicht richtig bezeichnet, zu was etwas gehören soll". Wenn nämlich einer in der Bezeichnung einen Fehler macht, indem er etwa bezeichnet Flügel des Vogels, so kann es sich nicht umkehren, so dass man sagen könnte: Vogel des Flügels (Diese Stelle findet sich in dem Kapitel über die Relativa in den Kategorien des Aristoteles. Abaelard benutzte dazu den lateinischen Kommentar des Boethius, auf dessen Stichworte ad aliquid er sich hier bezieht, wo er sagt: über die Relativitätsverhältnisse (eigtl. über das Verhältnis zu etwas. Boeth: in categ. Arist, p. 216 B). Vgl. a. Abaelards Glossen zu d. Kateg. d. Arist. In P. Abaelards log. Schriften, 1. Die Logica "Ingredientibus"). Wollten wir auf diese Art alles, was wir fehlerhaft oder zu unserem Nachteil tun, Sünde nennen, so müssten wir wahrlich auch deren Unglauben und Unkenntnis dessen, was zur Erlangung des Heils notwendig geglaubt werden muss, Sünde nennen, wie wenig hierbei eine Verachtung Gottes zutage tritt. Und doch glaube ich, dass man eigentlich nur Sünde nennen darf, was niemals ohne Schuld vor sich gehen kann. Vielen kann es ohne Schuld unterlaufen, Gott nicht zu kennen, ihm nicht zu glauben oder unrechte Werke zu tun. Wenn einer dem Evangelium oder Christus nicht glaubt, weil noch keine Kunde zu ihm gelangt ist: welche Schuld kann ihm vorgeworfen werden, dass er nicht glaubt? Auch der Apostel meint ja, "wie sollen sie glauben, von dem sie nichts gehört haben? wie sollen sie aber hören ohne Prediger? (Röm. 10,14)". Auch Cornelius glaubte nicht an Christus, bis Petrus geschickt wurde und ihn, der allerdings Gott schon vorher in den Gesetzen der Natur erkannte und zu verehren wusste, über Christus unterrichtete. Wodurch hatte er verdient, in seiner Rede von Gott erhört zu werden und Gott gefällige Opfer zu haben, er, dem wir auch so, wenn er vor seinem Glauben an Christus aus dieser Welt geschieden wäre, wie groß auch die Zahl seiner guten Werke war, weder ein ewiges Leben zu versprechen gewagt, noch ihn zu den Gläubigen gerechnet hätten, sondern trotz seines Bemühens um sein Seelenheil eher zu den Heiden hätten zählen dürfen. Gottes Ratschlüsse sind oft von unergründlicher Tiefe, die sich nur bisweilen öffnend zeigt. Ja oft erwählt er gerade solche, die am wenigsten um ihr Heil besorgt sind, und verwirft die, die darum flehen, oder die Willigsten im Glauben sind, wie es der Unergründlichkeit seiner Wahl und Berechnung gefällt. So tadelte er jenen, der sich ihm mit den Worten "Ich will dir folgen, wohin du auch gehst (Matth. 4,19)" hingeben wollte, während er in dem Eifer für seines Vaters Sache die Gründe eines anderen nicht einen Tag als Entschuldigung seiner Frömmigkeit gelten ließ. Endlich schalt er aber wiederum den Starrsinn einzelner Stämme, "Wehe dir, Chorazin, wehe dir, Bethsaida; wären solche Taten zu Tyrus und Sidon geschehen, als bei euch geschehen sind, sie hätten vor Zeiten im Sack (schwarzes, sackartiges Trauergewand der Juden) und in der Asche Buße getan (Matth. 11,21)", und obwohl er wusste, dass sie nicht glauben würden, sprach er doch nicht allein durch sein Wort, sondern auch durch Wunder zu ihnen. Obgleich er aber von anderen Stämmen und Geschlechtern wohl wusste, dass sie sein Wort gern aufnehmen würden, hielt er sie doch eines Besuches nicht für würdig. Wenn daher manche trotz ihres Willens, sein Wort aufzunehmen, dadurch verloren gingen, dass ihnen die Verkündung nicht vergönnt war, darf man dann denen als persönliche Schuld anrechnen, was offensichtlich ohne ihr Verschulden zustande kam? Und dennoch heißt es, dass der Unglaube, in dem sie gestorben sind, Grund genug zur Verdammnis sei, obgleich es uns nicht klar ist, warum Gott sie in solcher Blindheit ließ. Doch wahrlich, wenn man ihnen diese ohne Schuld als Sünde anrechnete, dürfte man dann, wie widersinnig es schiene, damit einverstanden sein, dass solche Leute ohne eigene Sünde verdammt werden? Aber wie nun schon so oft gesagt, glauben wir ja, dass Sünde nur genannt werden darf, was durch Verachtung zur Schuld geworden ist, und als solche bei keinem, welchen Alters er auch ist, so ausgelegt werden kann, dass er nicht deshalb verdiente, verdammt zu werden. Ich sehe also nicht ein, warum man ein Nicht-Glauben an Christus, also Unglauben, oder alles, was aus hoffnungsloser Unkenntnis geschieht, so dass man nicht einmal hätte vorbeugen können, kleinen Kindern oder solchen, die keine Kunde davon haben, zur Schuld rechnen sollte. Es ist das gleiche, wie wenn einer etwa unversehens im Wald einen Menschen mit dem Pfeil umbringt, während er Raubtiere oder Vögel damit zu erlegen dachte. Behaupten wir hier dennoch, dass jener in seiner Unkenntnis eine Sünde vollbrachte, wie man ja oft glaubt, nicht nur auf Berechnung sondern auch in Gedanken sündigen zu können, so meinen wir doch damit nicht eigentlich eine wirkliche Schuld, sondern wir erweitern den Begriff der Sünde zu allem, was nicht ganz recht ist, geschehe es aus Irrtum, Fahrlässigkeit oder jegliche unziemliche Weise. Aus Unkenntnis sündigen heißt also zusammenfassend: keine Schuld haben, aber doch tun, was sich uns nicht ziemt, etwas Sündiges in Gedanken, d. h. in unserem Wollen, begehen, was wir an sich nicht wollen dürfen, oder in unserer Rede wie in unserem Tun etwas Ungehöriges sagen oder verrichten, mag das alles auch aus Unkenntnis und von uns unbewusst geschehen. In diesem Sinn behaupten wir, dass jene, die Christus oder seine Anhänger verfolgten, weil sie das nach ihrer Überzeugung tun mussten, wohl äußerlich gesündigt haben, sich aber in noch weit größerem Maß schuldig gemacht hätten, wenn sie jene wider ihr Gewissen verschont hätten.

15. OB ALLE SÜNDE UNTERSAGT IST

Es besteht nun die Frage, ob uns Gott jede Sünde untersagt. Wenn wir das annehmen, begehen wir wohl eine Torheit; denn dieses Leben lässt sich ja gar nicht ohne zumindest erlässliche Sünden führen. Wenn er uns nämlich vorschrieb, uns vor allen Sünden zu hüten, so legt er uns damit keineswegs ein sanftes Joch oder eine leichte Last auf, wie er es uns versprach, sondern eine Last, die unsere Kräfte weitaus übersteigt, ja die wir gar nicht tragen können: sogar der Apostel Petrus redet von einem Joch des Gesetzes. Wer könnte sich doch stets vor einem ungewollten Wort so in Acht nehmen, dass er sich darüber nie vergäße, sondern jene Vollkommenheit behauptete, von der Jakobus spricht: "Der uns durch Worte verletzt, ist der vollkommen? (Jak. 3,2)". Da derselbe Apostel, nachdem er vorausgeschickt hatte: "Wir alle haben auf manche Weise Anstoß erregt", ferner noch von einer anderen großen Vollkommenheit sprach: "Wenn wir gesagt haben, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns (1. Joh. 1, 8)", so glaube ich, dass es niemandem mehr verborgen sein kann, wie schwierig, ja wie unmöglich es bei unserer Schwachheit scheint, gänzlich frei von Sünde zu bleiben. Doch ich muss hinzufügen, dass dies nur dann unmöglich scheint, wenn wir wie oben schon den Begriff Sünde weit fassen und überhaupt alles, was nicht ganz sauber geschieht, darunter verstehen. Wenn man dagegen in Erkenntnis der eigentlichen Sünde damit nur jene Verachtung Gottes bezeichnet, kann man dies Leben, wenn auch nur mit größter Schwierigkeit, dennoch ohne Sünde führen. Wahrlich ist uns aber von Gott jenes Verbot, wovon wir ausgingen, nicht gegeben, sondern nur das, was die Zustimmung zum Bösen betrifft, weil wir darin Gott verachten; mag es auch nach obiger Darstellung scheinen, als erstrecke sich das Verbot auch auf die Werke, so haben wir doch zugleich gezeigt, dass sich diese Vorschriften so von uns gar nicht einhalten ließen. Die einen Sünden sind leicht und lässlich, andere dagegen verdammungswürdig oder schwer. Diese verdammungswürdigen Sünden wiederum nennt man kriminelle Sünden, weil sich ein Mensch dadurch kriminell und schändlich belastet, sobald sie bekannt werden (auf manche trifft das allerdings weniger zu). Solche und lässliche Sünden entstehen, wenn wir einer Sache, der wir nach unserem Gewissen nicht zustimmen dürfen, unsere Zustimmung verleihen, weil wir unser Wissen gerade nicht gegenwärtig haben. Denn auch im Schlaf verlieren wir weder unser Wissen noch werden wir dadurch zu Toren, wie wir durch das Wachen allein ja auch nicht klug werden. So kommt es, dass wir bisweilen leerem Geschwätz, übermäßigem Essen oder Trinken zustimmen, obwohl wir wissen, dass wir es nicht dürften; wir denken eben gerade nicht an das, was wir nicht dürfen. Deshalb nennt man solche Zustimmung, zu der uns allein unsere Vergesslichkeit veranlasst, lässliche oder leichte Sünden, d.h. sie brauchen nicht durch Auferlegung großer Buße wieder gutgemacht zu werden; ihrethalben müssen wir weder durch Ausschluss aus der Kirche noch durch besondere asketische Übungen büßen. Zur Vergebung solcher Nachlässigkeiten pflegt man ja täglich in Reue ein Beichtgebet zu sprechen, in welchem allerdings keine schweren, sondern nur leichte Schulden Erwähnung finden dürfen. Hier können wir nicht sprechen: Ich habe durch Meineid, Meuchelmord, Ehebruch oder ähnliches gesündigt, was schwere verdammenswerte Sünden sind, solche Sünden begeht man auch nicht wie jene aus Vergesslichkeit, sondern geradezu vorsätzlich und aus Erwägung. Nach jenem Wort des Psalmisten "Verflucht wurden sie in ihrem Eifer (PS. 14, 1)", wird man auch von Gott deshalb verflucht, gleichsam verwünscht und gehasst, weil man darin wissentlich handelte. Jene andere Art indessen, die wie Zustimmung zu Meineid, Mord, Ehebruch, und was die Kirche eben am meisten schändet, durch die Tat offenbar werden und mit dem Mal schwerer Schuld gekennzeichnet sind, nennt man kriminelle Sünden. Wenn wir uns aber über die Maßen leiblichem Genuss hingeben, uns aus leerer Eitelkeit mit übermäßigem Tand umgeben und dazu dies mit Wissen tun, so sieht man das nicht als Verbrechen an, weil man im Gegenteil bei vielen deshalb sogar mehr Lob als Tadel erntet.

16. OB ES BESSER IST, VON LEICHTERER ALS VON SCHWERERER SCHULD ZU LASSEN

Es gibt Leute, welche behaupten, dass es ein Zeichen größerer Vollkommenheit und daher erstrebenswerter sei, sich vor lässlichen als vor kriminellen Sünden vorzusehen, nur weil dies schwieriger sei und eifrigerer Sorgfalt bedürfe. Denen antworte ich zunächst mit einem Wort Ciceros: "Was schwieriger ist, braucht deshalb nicht ruhmvoller zu sein" (Ein Irrtum Abaelards, da nur die Stelle bei Cornelius Nepos, Attikus 12,5 gemeint sein kann.), denn sonst hätten ja vor Gott alle die, die das Joch des Gesetzes nur mit Mühe ertragen, größeres Verdienst als die, die ihm in christlicher Freiheit dienen, weil die Furcht Pein schafft, die die vollkommene Nächstenliebe von sich weist und der, der etwas aus Furcht tut, sich dabei mehr abmüht als einer, den es die Nächstenliebe freiwillig tun lässt. Daher ermahnt der Herr die Mühseligen und Beladenen zu seinem sanften Joch und seiner leichten Last, dass sie aus der Knechtschaft des Gesetzes, die sie bedrückt, zur Freiheit des Evangeliums gelangen, und dass, wer in Furcht begonnen, in der Liebe vollenden soll, die ohne Mühe alles trägt und erträgt: nicht in fleischlicher, sondern in geistiger Liebe zu Gott, die soviel stärker wie wahrhaftiger ist. Wer wüsste nicht, dass es mehr Mühe kostet, sich vor einem Floh als vor einem Feind in Acht zu nehmen, oder dass ein kleiner Stein im Wege mehr Aufmerksamkeit erfordert als ein großer? Also glauben wir, dass es besser oder heilsamer ist, sich vor dem in Acht zu nehmen, was schwieriger scheint? Doch wohl nicht. Warum aber? Weil das, wovor sich zu hüten schwieriger ist, weniger Schaden anrichten kann. Wenn wir auch behaupten, es sei schwieriger, sich vor lässlichen als vor kriminellen Sünden vorzusehen, so ist es doch mehr am Platz, statt der gefährlicheren diese zu meiden, die größere Strafe nach sich ziehen, die Gott missfälliger sind und durch die wir Gott schwerer zu beleidigen glauben. Denn je näher wir durch unsere Liebe mit Gott verbunden sind, desto eifriger müssen wir die Sünden zu vermeiden suchen, die ihn mehr beleidigen und die er selbst am meisten verwirft. Wer nämlich wirklich liebt, dem liegt weniger daran, eigenen Nachteil als Unrecht, das dem Freund widerfährt, abzuwenden. Sagt nicht der Apostel: "Die Liebe suchet nicht das Ihre", und abermals "Niemand suche das Seine, sondern das des Nächsten? (1. Kor. 10,24)". Wenn wir uns demnach weniger hinsichtlich unserer Strafe als der Beleidigung Gottes selbst vor Sünden hüten müssen, so natürlich mehr vor dem, was am stärksten beleidigt. Wenn wir uns dabei an jenes Dichterwort über die Ehrbarkeit der Gesittung halten wollen: "Aus Liebe zum Guten hassen sie die Sünde (Horaz, Epist. 1,16,52)", so müssen wir alles, wie schändlich es auch an sich schon scheint, desto mehr hassen, je weiter es sich von der Ehrbarkeit der Gesittung entfernt, und natürlich auch je empfindlicher es sich gegen die Mitmenschen auswirkt. Um endlich die einzelnen Sünden durch gegenseitiges Abwägen besser unterscheiden zu können, wollen wir die lässlichen Sünden einmal mit kriminellen vergleichen, z. B. übermäßige Prasserei mit Meineid und Ehebruch. Dann wollen wir fragen, worin die größere Sünde besteht, oder wodurch Gott mehr verachtet oder beleidigt wird, wenn wir das eine oder das andere begehen? Ich weiß nicht, wirst du vielleicht antworten, "doch sind manche Philosophen der Ansicht, alle Sünden seien an sich gleich" (Bekannter Satz der älteren Stoa (Chrysipp, Zenon etc.): Diogenes Laertios VII 120; Cicero, pro Maurena 61; Horaz, Satiren 13, 96). Wenn du dieser Anschauung, die offenbar Torheit ist, folgen würdest, so wäre es gleich gut, sich lässlicher wie krimineller Sünden zu enthalten, weil es dann auch gleich schlecht wäre, diese wie jene zu begehen. Warum sollte man es da wagen, sich vorzugsweise von lässlichen Sünden statt von kriminellen fernzuhalten? Fragt man nun aber, wie wir zu der Annahme kommen, Gott missfiele das Begehen eines Ehebruches mehr als ein Prassen mit Speisen, so glaube ich, dass uns darüber das göttliche Gesetz Aufschluss geben kann, das, um Prasserei zu sühnen, keine genugtuende Strafe besonders verordnet, dagegen bestimmt hat, einen Ehebruch nicht nur auf irgendeine beliebige Art, sondern durch Verdammung zu ewigem Tod zu bestrafen. Denn wo die Nächstenliebe, die der Apostel die Erfüllung des Gesetzes nennt, mehr verletzt wird, geschieht auch mehr gegen sie, und deshalb wird dabei auch in stärkerem Maß gesündigt. So haben wir also eine einzelne lässliche Sünde mit einer kriminellen verglichen; wollen wir aber, um völlig gerecht sein zu können, ebenso zusammenfassend auch alle lässlichen Sünden mit der Gesamtheit der kriminellen Sünden vergleichen, so entziehe ich mich dem keineswegs. Nehmen wir denn an, es meide einer mit großer Sorgfalt alle lässlichen Sünden, versäume aber dabei, die kriminellen zu meiden, so dass er also solche begeht, während er sich vor jenen allen hütet: wer wird da urteilen, dass er darin weniger sündige oder besser sei, weil er vor lauter Sorgfalt um jene diesen verfällt? Ich glaube, dass es, nachdem wir nun die Sünden einzeln wie in ihrer Gesamtheit durch Beispiele miteinander verglichen haben, jetzt klar ist, dass es weder besser noch ein Zeichen größerer Vollkommenheit ist, lässliche statt krimineller Sünden zu meiden. Wenn aber einer dennoch erst jene mit Erfolg gemieden hat und darauf auch diese noch, wie es verlangt wurde, meiden konnte, so gestehe ich, dass seine Tugend dadurch ihre Vollendung erreicht hat; doch darf man deshalb weder dieses letzte, worin die Vollendung der Tugend besteht, vorwegnehmen, noch ist dafür die Belohnung so groß wie für jenes erste. Denn auch beim Bau eines Hauses muss sich, wer es vollendet, oft weniger anstrengen, als wer vorher die gröbere Arbeit geleistet hat; dasselbe gilt für die, die zur völligen Fertigstellung und zur Krönung des Werkes den letzten Balken auflegen; denn solange das Haus noch nicht so weit war, wäre das völlig falsch am Platze gewesen. Alles nur Erdenkliche, was wir bisher zur Erkenntnis der Sünde unternommen haben, genügt nun, glaube ich, um sich entsprechend der Klarheit dieser Erkenntnis ausreichend in Acht nehmen zu können. Und weil man sich vor einem Übel nur dann hüten kann, wenn es erkannt ist, so durfte natürlich auch die Erwähnung des Lasters nicht fehlen.

17. ÜBER DIE WIEDERGUTMACHUNG DER SÜNDEN

Weil wir nun einmal eine Krankheit der Seele aufgedeckt haben, wollen wir uns auch bemühen, ein Mittel zur Heilung zu zeigen; denn auch jenes Wort des Hieronymus sagt: "O Arzt, wenn du erfahren bist, so nenne mir den Weg zur Gesundheit, wie du auch die Ursache der Krankheit bestimmen konntest!" Wenn wir also Gott durch Sündigen verletzt haben, entsteht die Frage, wie wir uns ihm wieder versöhnen können. Und so ist die Wiederversöhnung eines Sünders mit Gott eine dreifache; denn sie besteht aus Reue, Bekenntnis und Genugtuung.

18. WAS REUE IM EIGENTLICHEN SINNE HEISST

Reue im eigentlichen Sinn ist ein aufrichtiger Schmerz über ein Vergehen, wobei es einen ärgert, sich irgendwohin vergangen zu haben (vgl. Matth. 27,3). Und diese Reue tritt bald aus Liebe zu Gott ein und trägt ihre Frucht, bald aus Angst vor einer Strafe, von der wir nicht betroffen werden wollen, wie die Reue der Verdammten, über die geschrieben steht: "Wenn sie solches sehen, werden sie grausam erschrecken vor solcher Seligkeit, der sie sich nicht versehen hätten, und werden untereinander reden mit Reue und vor Angst des Geistes seufzen: das sind die, welche wir vormals für Spott hielten usw. (Weish. Sal. 5,2.3)". Lesen wir ja auch über die Reue des Judas, als er seinen Herrn verraten hatte; was wohl weniger die Folge seines Schuldgefühls als eigener Geringschätzung war, weil er sich vom Rat der Hohenpriester verworfen sah. Wenn einer nämlich einen andern durch Geld oder auf sonstige Weise bestochen und ins Verderben gestürzt hat, scheint der Verräter keinem geringschätziger als diesem, und niemand vertraut sich ihm weniger an als der, der dessen unrechtes Tun in so hohem Maß erfahren hat. Sehen wir doch täglich, dass viele im Sterben ihre verübten Schandtaten bereuen, und mehr aus Angst vor der Strafe, der sie zu verfallen fürchten, als aus Liebe zu Gott, den sie beleidigt haben, unter schweren Gewissensbissen aufseufzen. Diese Sorte von Leuten bleibt gerade deshalb verworfen, weil sie sich mehr über das Maß ihrer gerechten Strafe als über ihre Schuld und Schlechtigkeit erregen. Sie hassen, was sie begangen haben, nicht weil es schlecht war, sondern sie fürchten weit mehr Gottes gerechtes Gericht in der Strafe, d. h. sie hassen Recht mehr als Unrecht. Wenn sie aber trotz der Ermahnungen, von ihren Lastern zu lassen, so verblendet sind, verwirrt ihnen die göttliche Gerechtigkeit zuletzt völlig den Sinn, schlägt sie mit völliger Verblendung und treibt sie von ihrem Angesicht gänzlich ab, so dass sie weder zur Erkenntnis einer heilsamen Reue noch zu der Einsicht gelangen können, dass eine Genugtuung nottut. Unzählige also sehen wir täglich beim Gedanken an den Tod schwer seufzen und sich bittere Vorwürfe über Wucher, Raub, Erpressung der Armen oder sonstiges begangenes Unrecht machen und den Priester um Rat fragen, wie sie das wieder berichtigen könnten. Wenn ihnen dann natürlich der Rat gegeben wird, allen Besitz zu verkaufen und zurückzuerstatten, was sie anderen abgeschachert haben - auch Augustin sagt ja: "Wenn man unrechtes Gut nicht zurückgibt, solange es möglich ist, ist die Reue nicht echt, sondern geheuchelt" - so verraten sie sofort durch ihre Antwort, wie wenig aufrichtig ihre Reue ist: "Wie soll ich dann mein ganzes Haus erhalten", sagen sie, "und was soll ich meinen Kindern, was meiner Frau hinterlassen? Wovon können sie dann leben?", worauf die beste Antwort jenes Scheltwort des Herrn ist: "Du Tor, heute Nacht wird man deine Seele von dir fordern, und wessen ist dann, was du bereitet hast? (Luk. 12,20)". 0 Armer, wer du auch sein magst, o Ärmster aller Armen, oder Törichtester aller Toren, du sorgst dich, Schätze für andere anzuhäufen, die du selbst nicht bewahren kannst? Weißt du, dass du dadurch Gott beleidigst, vor dessen schrecklichem Richterstuhl du geraubt hast, um dir deine Freunde wohlgesinnt zu machen und sie mit dem Gut der Armen zu bereichern? Wer sollte über dich nicht lachen, wenn er hört, dass du auf anderer Leute Gunst mehr als auf dich selbst setztest? Du vertraust auf das Mitleid anderer, die du im Glauben, sie als Nachfolger zu haben, zugleich als Erben deiner Schlechtigkeit einsetzen willst, denen du fremdes, zusammengerafftes Gut als Besitz hinterlassen willst. Den Armen raubst du das Leben, indem du ihnen ihren Lebensunterhalt nimmst, und willst Christus wiederum töten, der da spricht: "Was ihr tut einem meiner Geringsten, das habt ihr mir getan (Matth. 25,40)". Was versprichst du dir, der heuchlerisch gegen die Seinen, ruchlos gegen sich selbst und gegen Gott ist, von einem gerechten Richter, vor dessen Gericht du gestellt wirst, ob du es willst oder nicht, von einem Richter, der von dir nicht allein über Raub, sondern auch über jedes leichtfertig gesprochene Wort Rechenschaft fordert? Wie streng er richtet, zeigt ja die sofortige Bestrafung der ersten Menschen. Nur ein einziges Mal sündigte Adam, und, wie der selige Hieronymus erwähnte, war diese Sünde im Vergleich mit unseren Vergehen lächerlich gering. Adam machte keine gewalttätigen Erpressungen und raubte keinem Mitmenschen etwas. Einmal nur kostete er von einer Frucht, ein Schaden, der leicht wieder behoben werden konnte. Dieses so geringe Vergehen ließ der Herr durch die Strafe auf die gesamte Nachwelt übergehen, um daran zu zeigen, was er aus der Schuld unserer Väter machen könne. Das Beispiel des Reichen, der nach der Aussage des Herrn nicht, weil er sich fremdes Gut angeeignet hätte, sondern weil er dem armen Lazarus von seinem eigenen Gut, in dem er doch gewissermaßen berechtigt schwelgte, nichts mitgeteilt hatte, zeigt doch deutlich, mit welcher Strafe die geschlagen werden müssen, die fremdes Gut nahmen, wenn schon jener verdammt und in die Hölle gebettet wurde, der von eigenem Gut nichts spendete. Mit dir wird dein Andenken begraben sein, und die Tränen deiner Angehörigen, die noch hinter dem Sarge herliefen, sind bald getrocknet; "nichts trocknet schneller als Tränen", sagt der Redner Apollonius. Bei der nächsten Gelegenheit schaut deine Frau nach neuer Ehe aus, um zu dem Raub, den du ihr hinterließest, auch noch den Wohlstand eines neuen Gatten zu genießen. Wie bisher mit dir zusammen wird sie ihr Lager nun mit fremdem Fleisch und Blut wärmen, während du zur selben Stunde jene Genüsse in den Flammen der Hölle abbüßen musst. Ein gleiches steht von deinen Kindern zu erwarten. Wenn dann wieder einer fragte, warum dir nicht, die dich kannten, aus Mitleid verzeihen könnten, so hätten die gar viele Gründe zu ihrer Entschuldigung. Sie brauchen ja nur etwa zu antworten: "Konnte er uns nicht wohlgesinnt sein, welche Torheit, dann zu hoffen, andere könnten es ihm sein, oder sein Seelenheil, was ihm wohl am meisten am Herzen liegen musste, anderen anzuvertrauen. Wen hielt er jemals für gütiger als sich selbst? Auf wessen Barmherzigkeit baute der, der grausam zu uns war?" Endlich können sie ja auch zur Entschuldigung ihrer eigenen Habgier vorbringen: "Außerdem wissen wir, dass das, was er uns vermacht hat, längst nicht hinreicht, ihm deswegen unser Mitleid zukommen zu lassen." Jeder, der das hört, wird, ja muss lachen, während jener Elende, der die Armen bedrückte und zeit ihres Lebens weinen ließ, dort in Ewigkeit weinen wird. Manche wollen auch ihre Nachlässigkeit im Leben nur vor den Menschen, nicht vor Gott verbergen und bringen, um die Entschuldigungen für ihre Sünden zu rechtfertigen, vor, die Zahl der von ihnen ausgesaugten Menschen sei zu groß, als dass sie sie zu überschauen, geschweige denn einzelne Leute noch aufzufinden vermöchten. Dann aber, wenn sie schon gar keine Sorgfalt aufwenden, fallen sie unter das Urteil des Apostels: "Wer nicht kennt, der soll verkannt werden (1. Kor. 14,38)"; denn sie finden nur deshalb nicht, weil sie nicht suchen. Die Rechte Gottes aber, den sie verachtet haben, wird sie finden. Heißt es doch von ihr: "Deine Rechte wird alle finden, die dich hassen (PS. 21,9)". Derselbe Prophet, der dies sagte, erblasst zitternd vor ihr, und weil er keinen Ausweg fand, sagt er an anderer Stelle: "Wohin soll ich gehen vor deinem Geist und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Wende ich mich gen Himmel, so bist du da, fahre ich zur Hölle, so bist du auch da (PS. 139,7)". Viele Sterbende führt auch die Begierde der Priester irre, indem sie sie durch falsche Vorspiegelungen beruhigen, sobald sie ihre Habe der Kirche als Opfer dargebracht und Messen gekauft haben, die ihnen umsonst nicht gehalten würden; denn nach dem Wort des Propheten: "Wie die Priester, so das Volk (Hos. 4,9)", ist die Habgier der Priester nicht geringer als die des Volkes. Für diese Ware steht bekanntlich ein bestimmter Preis fest, also für eine einzelne Messe 1 Denar, für eine das ganze Jahr hindurch zu lesende Seelenmesse 40 Denare. Die Priester raten den Sterbenden nicht etwa, geraubtes Gut wieder zurückzuerstatten, sondern es der Kirche zu opfern, obwohl in ganz anderem Sinne geschrieben steht: "Wer von seiner Habe den Armen opfert, ist gleich einem, der den Sohn im Anblick des Vaters zum Opfer gibt (Jes. Sir. 34,24)". Denn für einen Vater ist das Opfer seines Sohnes vor seinem Angesicht schwerer, als wenn er es nicht sähe; und es wird gleichsam der Sohn geopfert, wenn man sein Hab und Gut, wovon man lebte, zum Opfer gibt. Doch die göttliche Wahrheit stellt noch über das Opfer die Barmherzigkeit, wenn es heißt: "Geht hin und lernt, was das heißt: nicht Opfer, sondern Barmherzigkeit verlange ich (Matth. 9, 13)". Noch schlechter aber, als keine Barmherzigkeit walten zu lassen, ist es, fremdes Gut zurückzuhalten; d.h. nach dem oben erwähnten Beispiel der Verdammung jenes Reichen, ist noch schlechter als den Armen von eigenem Gut nichts mitzuteilen, ihnen ihren Besitz vorzuenthalten.

19. ÜBER DIE FRUCHTBARE REUE

Weil wir von der fruchtlosen Reue gesprochen haben, wollen wir auch die fruchtbringende Reue betrachten, und zwar um so sorgfältiger, je ersprießlicher das ist. Zu ihr fordert der Apostel jeden Verstockten und jeden, der des furchtbaren göttlichen Gerichtes nicht gegenwärtig ist, mit diesen Worten auf: "Verachtest du denn den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet? (Röm. 2,4)". Damit zeigt er deutlich, was heilsame Reue ist, und dass diese statt aus Furcht eher aus Liebe zu Gott entspringt, dass wir es also bedauern sollen, Gott beleidigt oder verletzt zu haben; denn seine Güte überwiegt seine Gerechtigkeit. Mit um so größerem Recht und um so schwerer sühnt er solche Verachtung, je länger wir ihn in dem Glauben verachten, er räche diese Verachtung nicht sofort, ganz im Gegenteil zu den weltlichen Machthabern, die weder ihre Beleidiger schonen, noch die Rache für ein Unrecht aufschieben können; auch ist er bei der Bestrafung desto strenger, je langmütiger er vorher zugesehen hat. Der gerade erwähnte Apostel weist im folgenden darauf hin: "Du aber nach deinem verstockten und unbußfertigen Herzen häufst dir selbst den Zorn auf den Tag des Zorns (Röm. 2,5)"; denn so sicher wie jetzt noch der Tag der Milde und Nachsicht ist, wird jenes ein Tag des Zorns und der Strafe sein. Da wird Gerechtigkeit walten, und er wird seine Verachtung so sicher rächen, wie wenig er verachtet werden durfte und wie lange er nachsichtig war. Menschen zu beleidigen getrauen wir uns nicht, und ihre Beleidigung vermeiden wir aus Ehrfurcht, nicht aus Angst. Um nicht von Menschen gesehen zu werden, betreiben wir Unzucht im Verborgenen; nicht eines einzigen Menschen Blick könnten wir dabei ertragen. Doch wissen wir, dass Gott allgegenwärtig ist und ihm nichts verborgen bleiben kann; von ihm und allen Himmlischen aber bei solch schändlichem Treiben gesehen zu werden, treibt uns nicht einmal die Röte ins Gesicht: wir, die schon vor dem Blick eines einzelnen schwachen Menschleins zu Schanden werden! Vor einem irdischen Richter etwas zu begehen, wagen wir nicht, wo dieser uns doch nur zeitliche, nicht ewige Strafe auferlegen kann. Vieles tun oder lassen wir als Knechte unserer Leidenschaften, weniges nur als Herren unserer Vernunft. Würden wir doch für Gott, dem wir alles verdanken, nur so viel tun oder lassen, wie wir für unser Weib, unsere Kinder oder auch nur für jede gemeine Buhldirne tun!

Mit welcher Strafe muss dieser Frevel gerächt werden, dass wir sogar eine solche Dirne Gott selbst vorziehen? Klagt er nicht selbst durch den Mund des Propheten, dass ihm weder die Liebe eines Vaters, noch die Furcht eines Herrn erwiesen werde? "Ein Sohn ehrt seinen Vater, und ein Knecht fürchtet seinen Herrn", sagt er. "Bin ich aber Vater, wer ehrt mich, und bin ich Herr, wer fürchtet mich? (Mal. 1,6)". Er klagt also, dass ihm jeder Vater und Herr vorgezogen werde. Und nun bitte ich dich: Wie muss er erst zürnen, wenn ihm eine gewöhnliche Dirne vorgezogen wird, ja, wenn er gerade wegen der unaussprechlichen Nachsicht seiner Güte mehr verachtet als geliebt wird! Wer in Wahrheit Reue zeigt, der hält sich an diese Güte, Langmut und Geduld und gelangt nicht aus Furcht vor Strafe, sondern aus Liebe zu Gott zur Zerknirschung, genau wie die Ermahnung des erwähnten Apostels die heilsame Reue beschrieb, als er im Gegensatz dazu sprach: "Verachtest du denn den Reichtum seiner Güte, d.h. den reichen Schatz seiner Güte, oder seine unversiegbare Milde, Langmut und Geduld, in der er deinem Tun so lange zusah, weil er dich nicht sogleich strafte, oder weil du nicht erkanntest oder nicht erkennen wolltest, dass dich seine große Güte in ihrer ganzen Stärke zur Buße leitet, d.h. dich in aufrichtigem Eifer zur Buße wenden muss, ein Zeichen seiner Gnade, das du stets verachtet hast? Und das ist in Wahrheit fruchtbringende Reue, wenn solcher Kummer und Seelenschmerz nicht aus Furcht vor Strafe, sondern vielmehr aus Liebe zu Gott entsteht, den wir als so gütig kennen gelernt haben. Unter solchem Seufzen und innerem Kummer aber, den wir wahre Buße nennen, bleibt eine Sünde nicht bestehen, d. h. die Verachtung Gottes oder die Zustimmung zu einer bösen Tat lässt Gott nicht länger Schuld sein, weil seine Liebe dies Seufzen vernimmt. Dadurch werden wir sofort mit Gott versöhnt, und die früheren Sünden sind uns verziehen, wie ja jenes Prophetenwort sagt: "Von Stunde an soll gerettet werden, wer in seinen Sünden aufgeseufzt hat (vgl. Ezech. 33,14)"; d.h. man soll wieder der Errettung seiner Seele würdig befunden werden. Er spricht nicht, von welchem Jahr, Monat, von welcher Woche oder von welchem Tag an, sondern "von welcher Stunde an", um zu zeigen, dass man ohne Aufschub Verzeihung erlangt hat und der ewigen Strafe ledig ist, in welcher die Verdammung der Sünde besteht. Denn auch der, der durch ein unvermeidliches Ereignis überrascht wurde und sodann keine Möglichkeit mehr fand, zur Beichte zu kommen oder auch die ihm dort auferlegte Genugtuung zu leisten, wird keineswegs mit Seufzern der Reue auf den Lippen aus diesem Leben zur Hölle fahren; vielmehr wird ihm seine Sünde von Gott vergeben, oder es geht mit ihm eine solche Verwandlung vor, dass weder er, noch seine Seele wegen begangener Sünde von Gott in Ewigkeit gestraft werden muss. Denn wenn Gott den Reumütigen ihre Sünde vergibt, erlässt er ihnen nicht jegliche Strafe, sondern allein die ewige. So werden viele, die bereut haben, aber durch plötzlichen Tod überrascht, in diesem Leben die Genugtuung ihrer Reue nicht geleistet haben, zwar nicht in verdammender, wohl aber in läuternder künftiger Strafe bewahrt. Mag auch die Auferstehung selbst "in einem Moment, in einem Augenblick (1. Kor. 15,52)" vor sich gehen, so ist es doch aus diesem Grunde unsicher, über welches Ausmaß an Zeit sich der Tag des jüngsten Gerichtes erstrecken soll, da an diesem so viele Selige auf einmal bestraft werden müssen. Denn natürlich müssen sie für ihre Schuld, deren Genugtuung sie damals aufgeschoben hatten, oder deren Leistung ihnen nicht mehr vergönnt war, Buße zahlen, und zwar so viel, wie es Gott bestimmt.

20. OB MAN EINZELNE SÜNDEN OHNE DIE ANDEREN BEREUEN KANN

Es gibt Leute, welche die Frage stellen, ob man eine einzelne Sünde ohne eine andere bereuen könne, wenn man etwa einen Mord, nicht aber die Hurerei bereut, der man bisher sündig frönte. Erkennen wir indes jene fruchtbringende Reue, die die Liebe Gottes in uns erweckt - Gregorius sagt: "Reue heißt, Begangenes beweinen und Beweintes nicht zum zweiten Mal begehen" - so kann man einen Einzelfall, wo auch nur ein Funke Verachtung Gottes zurückbehalten wird, nicht Reue nennen, zu der uns Gottes Liebe treibt. Wenn mich nämlich so, wie es sein sollte, die Liebe Gottes dazu bringt und meinen Sinn darauf lenkt, über eine Zustimmung nur deshalb betrübt zu sein, weil ich darin Gott verletzt habe, so sehe ich doch wohl, dass mich dieselbe Liebe aus demselben Grunde zwingt, auch einen anderen Akt der Verachtung Gottes zu bereuen, d. h. Gottes Liebe muss meinen Sinn auf diese Vorstellung richten, so dass ich über jedes Vergehen, das mir nur irgend zu Bewusstsein kommt, in ähnlicher Weise bekümmert und Genugtuung zu entrichten bereit bin. Wo daher nur immer wahre Reue ist, die also allein aus Liebe zu Gott entspringt, darf keine Verachtung Gottes zurückbleiben, zumal ja auch die göttliche Wahrheit spricht: "Wer mich liebt, der wird mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden kommen und Wohnung bei ihm machen (Joh.14, 23)". Wer also in der Liebe Gottes verharrt, der soll gerettet werden, was jedoch keinesfalls geschieht, solange nur eine einzige Sünde, d.h. eine einzige Spur von Verachtung Gottes, zurückbehalten wird. Findet Gott dann bereits bei einem Reumütigen keine Sünde mehr, so wird er in diesem Fall auch keinen Grund zur Verdammung finden, wo also keine Sünde vorhanden ist, darf auch keine Verdammung, d.h. kein dauerndes Ausgesetztsein einer Strafe erfolgen. Und also befreit Gott eine vorausgegangene Sünde von ewiger Strafe, die dafür wie gesagt
von Gott nach Verdienst vorgesehen werden musste. Denn mag Gott auch in einem Reumütigen nichts mehr finden, was in Ewigkeit gestraft werden müsste, so sagt man doch gewöhnlich, er erlasse die Strafe früherer Sünde, indem er einen durch die Seufzer der Reue, die er ihm eingab, der Vergebung würdig und somit zu einem Menschen macht, der darauf nicht mehr ewig gestraft werden darf, sondern gerettet werden muss, vorausgesetzt, dass er in diesem Zustand aus dem Leben scheidet. Denn fällt er etwa in dieselbe Verachtung zurück, so verfällt er, wie er zur Sünde zurückkehrt, auch ebenso wieder einer Strafschuld, und er muss wieder bestraft werden, wenn er auch vorher durch seine Reue verdient hatte, straffrei auszugehen. Nun könnte einer einwenden: Statt zu behaupten, eine Sünde werde von Gott vergeben, könnte man geradeso gut auch sagen, Gott verdamme einen Menschen keines falls wegen seiner Vergehen, oder Gott habe bei sich beschlossen, ihn nicht wegen seiner Vergehen zu verdammen; denn man müsse doch wohl zugeben, dass Gott jene Sünde schon vergeben hatte, bevor der Reumütige überhaupt gesündigt hatte, d.h. er müsse schon bei sich beschlossen haben, ihn einst nicht deshalb zu verdammen. Gott beschließt oder bestimmt ja bei sich nichts neu, und wie all es, was er zu tun gedenkt, von Urewigkeit an in seiner Vorbestimmung und Voraussicht fest und unwandelbar steht, muss das auch für seine Gedanken über die Vergebung der Sünde eines jeden Menschen gelten, wie überhaupt für alles übrige, was noch geschehen soll. Daher scheint uns folgende Auffassung von der Sündenvergebung besser zu sein: Gott würdigt wie gesagt jeden Einzelnen seiner Nachsicht dadurch, dass er ihm Seufzer der Reue eingibt, d. h. ihn auf diese Weise zu einem solchen Menschen macht, dem weder danach noch überhaupt jemals mehr darüber hinaus Strafe gebührt, sofern er in diesem geistigen Zustand verharrt. Also vergibt Gott eine Sünde, weil er selbst den Grund dazu, warum einer nicht mehr bestraft werden darf, durch die Inspiration der Reue legt.

21. ES IST KEIN UNRECHT, WENN EIN GERECHTER NICHT NACH VERDIENST BELOHNT WIRD

Vielleicht wirst du aber danach forschen, ob einer, der bereut, schon das ewige Leben verdient, und ob er nicht mehr verdammt werden kann? Wenn wir das zugäben so stellte sich uns entgegen, dass, solange er bereute, auch der, der nach der Reue wieder davon abfiel und starb, des ewigen Lebens würdig war; und scheinbar ist Gott dann eines Unrechts zu zeihen, weil er die Belohnung, die jener damals verdient hatte, ihm wenigstens nicht auch damals schon auszahlte, um dadurch seiner Verdammnis zuvorzukommen. Denn wie er aufgrund jenes Vorsatzes, den er damals hatte, des ewigen Lebens würdig befunden und bei seinem Tod gerettet worden wäre, so hatte er doch, selbst wenn er später wieder abgefallen war, an seiner früheren Gesinnung ein Pfand, gerettet zu werden. Darauf antworte ich folgendes: Viele sind zu mancher Zeit der Verdammnis wert, und müssen dennoch weder in dieser Schlechtigkeit sterben, um von Gott nach Gebühr verdammt zu werden, noch kann Gott deshalb einer Ungerechtigkeit beschuldigt werden, weil er ihnen nicht die verdiente Strafe auszahlte. Und ich sage ferner, dass dasselbe auch für die Rückerstattung von Belohnungen gilt, die nach der Versicherung der göttlichen Wahrheit nur denen versprochen sind, die standhaft ausharren: "Wer bis an das Ende beharrt, der wird selig sein (Matth. 10,22)". Wenn also auch einer bisweilen Strafe oder Belohnung verdient hatte, dürfen wir nicht verlangen, es sei deshalb nur recht und billig, dass ihm die Gott auch auszahle, wenn er vorgesehen hat, mit ihm auf andere Weise besser zu verfahren; denn ein Übel wird in seiner Hand zum Nutzen, und gerade .das Schlechteste wendet er zum Besten. Wenn nun aber einer sagte, dass jemand, der einen Augenblick lang aus Liebe zu Gott wahrhaft bereute, aber dennoch in dieser Reue oder Liebe nicht verharrte, deshalb der Belohnung des ewigen Lebens nicht wert gewesen sei, so wird der doch, wenn man schon zugibt, dass er damals nicht verdammungswürdig war, wohl weder als Gerechter noch als Sünder gegolten haben.

22. ÜBER DIE UNERLÄSSLICHE SÜNDE

Wenn aber wie gesagt auf dem Weg der Reue jegliche Sünde sogleich Vergebung empfängt, entsteht die Frage, warum die göttliche Wahrheit gewisse Sünden als unvergeblich bezeichnet oder behauptet hat, dass sie niemals Erlass, also Vergebung erlangen könnten; eine solche Sünde ist z. B. die Beschimpfung des heiligen Geistes, worüber Christus nach dem Bericht des Matthäus gesagt haben soll: "Alle Sünde und Geschwätz wird den Menschen vergeben, aber die Lästerung wider den heiligen Geist wird nicht vergeben, und wer etwas redet wider des Menschen Sohn, dem wird es vergeben; aber wer etwas redet wider den heiligen Geist, dem wird nichts vergeben, weder in dieser noch in jener Welt (Matth. 12, - 31.32)". Warum er dies sprach, erklärte Markus: "Denn sie sagten, er hat einen unsauberen Geist (Mark. 3,30)". Manche nennen diese Sünde Verzweiflung an der Vergebung, wenn einer etwa wegen der Last seiner Sünden völlig das Vertrauen an Gottes Güte verliert, (die man mit Hilfe des heiligen Geistes erkennt), so dass er weder durch Reue noch anderweitige Buße Verzeihung erlangen kann. Wenn wir dies aber "wider den heiligen Geist sündigen oder lästern" nennen, was heißt dann "wider des Menschen Sohn sündigen?" Wie ich glaube, meint diese Stelle mit "sündigen oder lästern wider des Menschen Sohn", der Menschlichkeit Christi das Erhabene absprechen, gleich als ob wir behaupteten, sie sei in Sünden empfangen oder von Gott nicht wegen der doch so deutlichen Schwäche des Fleisches angenommen. Denn dafür konnte menschliche Berechnung nicht den Beweis erbringen, sondern nur dem sich offenbarenden Gotte glauben. Dies also, was er meint: "jede Sünde und Lästerung soll den Menschen vergeben werden; die Lästerung aber wider den Geist soll nicht vergeben werden", ist gleich als sagte er: "keine andere Lästerung soll nach Gottes Rat und Bestimmung den Menschen nicht vergeben werden, außer dieser". "Und wer etwas redet wider des Menschen Sohn, dem soll es vergeben werden", heißt, keiner der wie gesagt die Würde der Menschwerdung Gottes verleugnet, soll deswegen verdammt werden, es sei denn, dass noch weitere Gründe zur Verdammung hinzukommen. Es läßt sich ja nicht sagen, dass dies einer in Verachtung Gottes tut, wenn er im Irrtum wider die Wahrheit zeugt und dabei nicht wider sein Gewissen handelt, zumal es ein solcher Fall ist, der sich durch menschliche Vernunft nicht ergründen lässt, sondern vielmehr der Vernunft zuwiderzulaufen scheint. Wider den Geist lästern heißt aber, die Werke der deutlichen Gnade Gottes so böswillig verleumden, dass man jene Werke, die auch nach eigenem Glauben durch den heiligen Geist, d. h. durch göttliche Güte aus Barmherzigkeit geschehen, dennoch dem Bösen zuschreibt, gleich als ob man sagte, jener heilige Geist, an den man doch glaubt, sei ein nichtsnutziger Geist, und somit behauptet, Gott sei der Satan. Wer also auf diese Weise gegen Christus gesündigt hat, nämlich dadurch, dass er gegen sein Gewissen behauptete, jener treibe in Gestalt Beelzebubs, des Obersten der Dämonen, Dämonen aus, der ist vom Reiche Gottes so gründlich verworfen und von seiner Gnade so völlig ausgeschlossen, dass er durch Reue niemals mehr die Nachsicht Gottes verdienen kann. Wir behaupten damit allerdings nicht, sie könnten nicht mehr gerettet werden, wenn sie bereuten, sondern sagen nur, dass sie des Aktes der Reue gar nicht mehr fähig sind.

23. OB DIE REUMÜTIGEN DIE SEUFZER IHRES SCHMERZES MIT SICH VON HINNEN TRAGEN?

Es mag vielleicht einer fragen, ob, wer mit Reue aus diesem Leben scheidet, in dem Seufzen seines Herzens und der schmerzlichen Zerknirschung, worin das wahre Gottesopfer besteht - denn es heißt ja: "Ein zerknirschter Geist ist ein Opfer vor Gott (vgl.Ps.51,19)" - ob, möchte ich sagen, wer diese Zeitlichkeit segnet, sein Seufzen und seinen Schmerz mit sich hinüber nimmt, um auch in jenem himmlischen Leben über seine Vergehen zu trauern, dort wo, wie geschrieben steht, Traurigkeit, Schmerz und Seufzen entfliehen (Jes. 35,10). Aber wahrlich, wie Gott und den Engeln unsere Sünden ohne leidenschaftliches Empfinden eben dadurch missfallen, dass sie einfach nicht billigen, was ihnen schlecht erscheint, so werden unsere Vergehen auch uns missfallen. Aber ob wir dann auch wünschten, sie getan zu haben, da wir ja wissen, dass alles von Gott zum Nutzen angeordnet ist und auch sie zu unserem Nutzen geschaffen waren - denn wie der Apostel sagt, "wissen wir ja, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen (Röm. 8,28)" - ist eine andere Frage, die ich nach Vermögen im dritten Buch meiner Theologie gelöst habe.

24. ÜBER DIE BEICHTE

Nun ist es an der Zeit, dass wir über das Bekenntnis der Sünden reden. Dazu ermahnt uns der Apostel Jakobus mit den Worten: "Es bekenne einer dem andern seine Sünden, und betet füreinander, dass ihr gerettet werdet; denn Gipfel vermag die inständige Bitte eines Gerechten (Jak. 5,16)". Manche glauben, man müsse allein Gott beichten, eine Eigenart, die gelegentlich den Griechen zugeschrieben wird. Aber ich sehe nicht ein, was ein Bekenntnis vor Gott bezwecken soll, der ja doch alles kennt, oder welche Vergebung uns unsere Zunge eintragen soll, mag der Prophet immerhin sprechen: "Mein Vergehen habe ich dir bekannt und meine Ungerechtigkeit nicht verborgen (PS. 69,6)". Andererseits beichten aber dem eben erwähnten Apostelwort gemäß viele Christen, und zwar aus vielen Gründen: einmal natürlich, weil man annimmt, durch die Worte seiner Beichtiger besonders aufgerichtet zu werden; dann aber auch, weil in der Erniedrigung eines Bekenntnisses schon ein großer Teil der Satisfaktion abgetragen wird und man in selbst zerknirschender Buße um so größere Vergebung erlangt. So, steht auch über David geschrieben, der dem Propheten Nathan, der ihn angeklagt hatte, zur Antwort gab: "Ich habe gesündigt (2.Sam. 12,13)". Sofort vernahm er von dem gleichen Propheten als Antwort: "Auch der Herr wandte deine Sünde von dir (ebenda)". Je deutlicher nämlich des Königs Selbsterniedrigung war, desto genehmer war Gott diese zuversichtliche Unterwürfigkeit. Schließlich ist es aber das Amt der Priester, denen das Seelenheil ihrer Beichtkinder anvertraut ist, diesen, ein bestimmtes Maß an Bußleistungen aufzuerlegen, damit alle, die ihren Willen in Verworfenheit und Stolz zur Verachtung Gottes gebraucht haben, nun durch einen anderen autoritären Willen zur Ordnung gewiesen würden. Und dies wiederum geschieht um so sicherer, je besser sie im Gehorsam nicht ihren, sondern den Willen ihrer Prälaten erfüllen. Bestimmen diese Prälaten nicht das rechte Maß der Satisfaktion, während jene zu gehorchen bereit sind, so ist diesen das eher als jenen zum Vorwurf zu machen. "Wir kennen nicht die Listen des Bösen, sagt der Apostel (2. Kor. 2,11)", und ebenso darf auch seine Falschheit nicht außer Acht gelassen werden, mit der er uns zu sündigen treibt und von der Beichte zurückhält. Denn er treibt uns zur Sünde, indem er uns so unserer Furcht und Skrupel beraubt, dass auch nichts mehr zurückbleibt, was uns von einer Sünde zurückrufen könnte. Denn vieles wagen wir aus Furcht vor der Strafe nicht zu tun, und vieles, was wir sogar ungestraft tun könnten, unterlassen wir aus Scham und Rücksicht auf unseren guten Ruf. Jeder nun, der mit diesen beiden Eigenschaften, ich möchte sie fast Haltetaue nennen, schlecht versehen ist, lässt sich zu einer beliebigen Sünde hinreißen. Denn in der Weise gibt ihm der Böse die Bedenken, die er ihm einst bei der Ausführung von Sünden genommen hat, später zurück, um ihn von der Beichte abzuhalten. Dann fürchtet und schämt er sich vor der Beichte, was er vorher, als es am Platze gewesen wäre, unterlassen hatte. Denn er fürchtet sich, in der Beichte zufällig erkannt und dann von Menschen bestraft zu werden, er, der kein Bedenken trug, von Gott gestraft zu werden: er schämt sich bei dem Gedanken, die Menschen könnten erfahren, was ihm doch gar keine Scham einbrachte, als er es angesichts seines Gottes verübte. Aber wer für eine Wunde Heilung sucht, muss sie, wie schmutzig und übel riechend sie ist, vor dem Arzt enthüllen, damit die entsprechende Heilmethode angewandt werden kann. Der Priester aber ist gleich einem Arzt, da er ja wie gesagt das Maß der Buße bestimmt.

25. DASS IN MANCHEN FÄLLEN AUF BEICHTE VERZICHTET WERDEN KANN

Nun ist aber nicht zu vergessen, dass manchmal bei einem natürlichen Vergleich der Schuld von Bekenntnissen abgesehen werden kann, wie es bei Petrus der Fall gewesen ist; denn seine Tränen über die Verleugnung des Herrn sind uns zwar Wohl bekannt, dennoch aber steht über weitere Genugtuung oder Beichte nirgends etwas zu lesen. Im Anschluss an den Bericht im Evangelium des Lukas über die Verleugnung und Tränen des Petrus sagt daher Ambrosius: "Ich finde nirgends, dass er etwas gesagt hätte. Ich finde nur, dass er geweint hat". Von seinen Tränen lese ich, von einer Satisfaktion lese ich nichts: seine Tränen heben das Vergehen auf, das mit dem Munde zu bekennen Scham wäre, und sein Weinen und seine Scheu brachten ihm Verzeihung; seine Tränen sprechen die Schuld ohne Schauder aus, ohne Ärgernis zu erregen bekennt er seine Scheu. Seine Tränen fordern nicht Vergebung, sie verdienen sie. Ich weiß, warum Petrus geschwiegen hat: natürlich, um nicht durch so schnelle Bitte um Verzeihung noch verletzender zu wirken. Was aber diese Scheu oder Ehrfurcht vor dem Bekenntnis wirklich war, dass Petrus es vorzog, lieber durch Tränen als durch Bekenntnis zu büßen, muss man untersuchen. Scheute er sich nämlich nur deshalb vor dem Geständnis, um als erkannter Sünder nicht verächtlicher zu scheinen. so war das wahrlich ein Zeichen von Stolz und dafür, dass er um Ruhm und Ehre größere Sorge trug als um sein Seelenheil. Wurde er aber nicht aus eigener Scheu, sondern aus Scheu vor der ganzen Kirche zurückgehalten, so ist das nicht zu verwerfen. Vielleicht dachte er daran, dass er vom Herrn als Führer seines Volkes eingesetzt werden sollte, und fürchtete, dass die Kirche daran schweren Schaden nehmen könnte, wenn seine dreifache Verleugnung durch sein Geständnis alsbald an die Öffentlichkeit käme, ja dass sie in tiefer Scham zu Schanden werde, weil der Herr an ihre Spitze einen so leichtfertigen und kleinmütigen Verleumder gestellt hatte. Wenn er es also sowohl um seine Ehre zu behalten, als auch aus einer innersten Scham aufschob, der Kirche zu beichten, so tat er dies nicht aus falschem Stolz, sondern in weiser Voraussicht. Dabei war sogar die Furcht, die Kirche möchte Schaden nehmen, größer als die um Einbuße seines guten Rufes. Sicher dachte er daran, dass der Herr gerade ihm seine Kirche anvertraut hatte, als er zu ihm sprach: "Und wenn du dich einst bekehrst, so stärke deine Brüder (Luk. 22,32)". Wenn er also durch eigenes Bekenntnis überführt worden und sein abschreckendes Beispiel vor die Ohren der Kirche gelangt wäre, wer würde da nicht gleich sagen: "Wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche! (Luk. 19,14)", und wer könnte nicht ohne weiteres den Entschluss des Herrn missbilligen, dass er zur Stärkung seiner Brüder den auserwählte, der am ersten von ihm abgefallen war? Aus eben dieser Voraussicht können viele das Bekenntnis verschieben oder gänzlich ohne Vorwurf unterlassen, d.h. natürlich nur, wenn wir glauben, der Kirche durch unser Bekenntnis mehr zu schaden als zu nützen; denn wenn wir Gott gar nicht verachten, können wir ihn dadurch auch nicht zu unseren Schulden beleidigen. Petrus verschob sein Sündenbekenntnis, weil die Kirche noch in schwachem und unsicherem Glauben stand, bis seine Stärke durch Worte und Wunder erprobt war. Später dann, als das bekannt war, konnte er es ohne jeden Schaden des kirchlichen Ansehens als Mittel gegen die Verzweiflung der Abgefallenen bekennen, wie es uns ja durch die Evangelisten in der Schrift überliefert ist. Manchem scheint es vielleicht, dass Petrus, der über allen anderen stand und keinen über sich kannte, dem sein Seelenheil anvertraut gewesen wäre, überhaupt keinem Menschen seine Sünde zu beichten brauchte, als ob ihm von jenem Satisfaktion auferlegt werden müsste und er dessen Vorschrift wie der eines Vorgesetzten zu gehorchen hätte! Wenn er aber einem anderen nicht wegen Auferlegung einer Buße zu beichten brauchte, konnte es doch sicher nicht zu Unrecht um Fürsprache im Gebet geschehen. Denn es heißt ja nach den Worten: ,,Es bekenne einer dem andern seine Sünden gleich "und betet füreinander, dass ihr gerettet werdet (Jak. 5, 16)". Auch steht ja den Prälaten nichts im Wege, zur Ablegung ihrer Beichte und Auferlegung von Satisfaktionen ihnen untergeordnete Personen zu wählen, damit, was sie tun, Gott desto gefälliger sei, je demütiger es geschieht. Wer möchte es auch verbieten, darunter irgend einen besonders frommen oder bescheidenen Beichtvater zu wählen, um seine Genugtuung dessen Urteil anheim zu stellen und besonders durch seine Fürbitte aufgerichtet zu werden? Deshalb steht ja unmittelbar nach den Worten "und bittet füreinander, dass ihr gerettet werdet", denn viel vermag die inständige Bitte eines Gerechten. Wie es nämlich viele erfahrene Ärzte gibt, denen Kranke anzuvertrauen gefährlich und unratsam ist, so findet man auch unter den Prälaten der Kirche solche, die weder fromm, noch korrekt und obendrein schnell bei der Hand sind, die Sünden ihrer Beichtkinder auszuplaudern, so dass es auch hier nicht allein unratsam scheint, sondern wirklich gefährlich ist, sich ihnen anzuvertrauen. Solche denken dann auch gar nicht daran, für ihre Beichtkinder zu beten, noch verdienten sie abgesehen davon, in ihren Fürbitten erhört zu werden; und weil sie weder den Brauch kirchlicher Bestimmungen kennen, noch beim Festsetzen der Bußleistungen ein bestimmtes Maß vor Augen haben, versprechen sie hierbei häufig eine falsche Sicherheit und täuschen die Beichtenden gar, indem sie ihnen falsche Hoffnung machen. Heißt es doch: "Blinde sind Leiter der Blinden" und weiter "Wenn ein Blinder den Blinden leitet, so fallen sie beide in die Grube (Matth. 15,14)". Plaudern sie aber wie gesagt leichtsinnig ihre Beichtgeheimnisse aus, so erzürnen sie die Reumütigen, und sie, die Sünden heilen sollten, sind Anlass neuer Sünden und schrecken selbst die, die nur davon hören, von der Beichte ab. Nicht selten schädigen sie die Kirche auch dadurch schwer, dass sie, sei es aus Zorn oder Leichtfertigkeit, ihnen gebeichtete Sünden an die Öffentlichkeit bringen, und setzen die, die gebeichtet haben, großen Gefahren aus. Aus diesem Grund sind Leute, die wegen solcher Ungelegenheiten beschlossen haben, ihre Prälaten nicht mehr aufzusuchen, und andere wählen, weil sie diese an deren Stelle geeigneter glauben, keineswegs zu tadeln, sondern eher zu loben, dass sie sich an einen geschickteren Arzt wenden; können sie aber bei solchem Tun die Zustimmung ihrer Prälaten erlangen, so dass sie von diesen an andere überwiesen werden, so handeln sie um so untadeliger, je demütiger sie sich in ihrem Gehorsam zeigen. Wenn ihnen aber eigensüchtige Prälaten das untersagen, weil sie darin eine Geringschätzung ihrer selbst sehen, so soll doch ein Kranker, der um sein Wohl besorgt ist, nach dem Heilmittel, das er besser glaubt, mit noch größerem Eifer suchen (und in den meisten Fällen wird ja wohl ein einigermaßen guter Prälat dem Plan willfahren). Niemand braucht ja einem Führer, der ihm von irgendwem empfohlen wurde, in die Grube zu folgen, wenn er ihn als blind befunden hat. Und es ist besser, zum Leiter einen zu wählen, der auch darauf sieht, ans Ziel zu gelangen, als dem ersten Besten, der einem empfohlen wurde, kläglich in den Abgrund zu folgen. Wenn aber einer einem anderen einen solchen Führer mit auf den Weg gab, tat er dies doch entweder wissentlich aus Bosheit oder unschuldig in Unkenntnis. Tat er es aus Bosheit, so musste man darauf achten, nicht darauf hereinzufallen; tat er es in Unkenntnis, so ist es seinem Willen sicherlich nicht entgegen, wenn wir dem, den er uns zur Führung vorgesetzt hatte, nicht in Gefahr folgen. Schaden kann es jedoch auch da nicht, wenn wir darüber erst die zu Rate ziehen, denen wir unser Seelenheil anvertraut wissen, und von den meisten Fällen ist es ja bekannt, dass kräftige Abhilfe, auf die wir hoffen, nicht ausbleibt, wenn wir nur erst ihren Rat gehört haben. Haben wir aber das Empfinden, dass sie im Gesetz nicht bewandert sind, und wenden sie nicht allein in ihrem Tun keine Sorgfalt an, sondern wissen selbst nicht, was sie lehren sollen, so sind sie noch schlechter zu erachten als die, von denen die göttliche Wahrheit spricht: "Auf Moses Stuhl sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Alles nun, was sie euch sagen, das behaltet und tut auch danach; nach ihren Werken aber sollt ihr nicht tun (Matth. 23,2.3)", was so viel heißt wie: der Lehrstuhl des Gesetzes ist von solchen besetzt, deren Verkündigung des Wortes Gottes vom Stuhl Moses, d. h. vom Lehrstuhl des Gesetzes aus, anzunehmen ist, auch wenn ihre Werke schlecht und deshalb zu verwerfen sind, so dass wir in gleicher Weise zurückweisen, was ihre Werke sind, und behalten, was Gottes Wort ist. Deren Methode ist also nicht durchaus zu verwerfen, die gut predigen, aber schlecht leben; die durch das Wort erziehen, aber nicht durch ihr Beispiel wirken, und die einen Weg weisen, den sie selbst nicht gehen wollen, und das nicht etwa aus blinder Unwissenheit, sondern aus schuldhafter Leichtfertigkeit. Jene aber sind nicht einmal imstande, ihren Anbefohlenen, die sich ihrer Führung ergeben und von ihnen, die nicht zu lehren verstehen, Belehrung suchen sollen, einen Weg zu zeigen. Und dennoch brauchen diese Anbefohlenen an der Barmherzigkeit Gottes nicht zu verzweifeln, wenn sie vollständig zur Buße bereit sind, sich der Willkür ihrer allerdings blinden Prälaten ergeben und ihnen gehorsam und willig folgen, wenn sie in falschem Wahn zu geringe Kirchenbuße auferlegen. Denn weder verdammt die Untergebenen der Irrtum eines Prälaten, noch klagt sie deren Fehler an; und bei den Untergebenen bleibt keine Schuld mehr zurück, an der sie zu Grund gehen müssten, weil ihre Reue sie ja, wie wir dargestellt haben, schon vorher mit Gott wieder versöhnt hatte, d. h. bevor sie zur Beichte gingen oder irgend ein Maß an Bußleistung auf sich nahmen. Wenn aber an genugtuender Strafe weniger angeordnet war, als es sich gehörte, so wird doch Gott, der keine Sünde ungestraft lässt, sondern sie einzeln je nach Verschulden straft, das rechte Maß der Bußleistung dadurch herstellen, dass er je nach Gewicht der Sünden die Reumütigen zwar nicht ewiger Verdammnis anheim stellt, sie aber entweder noch in diesem oder im künftigen Leben durch läuternde Strafen bedrängt - wenn wir, wie ich sage, in unserer Satisfaktion leichtfertig waren. In diesem Zusammenhang sagt auch der Apostel: "Wenn wir uns selber richteten, so würden wir nicht gerichtet (1. Kor. 11, 31)", womit er sagen will: wenn wir unsere Sünden selbst bestrafen oder wieder in die Reihe bringen würden, brauchten sie nicht von Gott noch härter gestraft zu werden. Wahrlich, groß ist die Barmherzigkeit Gottes, der uns nach unserem eigenen Urteil dahingehen lässt, um uns nicht nach strengerem strafen zu müssen. Solche Strafen aber, in denen in diesem Leben unsere Satisfaktion besteht, etwa wenn wir fasten, beten, wachen, auf alle mögliche Weise das Fleisch züchtigen oder den Armen geben, was wir uns selbst abziehen, nennen wir Bußleistungen, welche im Evangelium bekanntlich mit einem anderen Namen auch "Früchte der Reue" genannt werden, wo es heißt: "Zeitigt angemessene Früchte der Reue (Matth.3,8)" im Sinne von "versöhnt euch Gott hier so, indem ihr durch angemessene Bußleistung wieder gut macht, was ihr gesündigt habt, dass er einst selbst nicht mehr finde, was er bestrafen müsste, und kommt den schwereren Strafen durch mildere zuvor". Denn nach der Meinung Augustins sind "die Strafen des jenseitigen Lebens, und seien es nur läuternde, härter als sämtliche Strafen dieser Welt". Deshalb muss man mit äußerster Sorgfalt und ehrlichem Bemühen zu Werke gehen, und im Rahmen der von den heiligen Vätern eingerichteten Bestimmungen eine solche Bußleistung auf sich nehmen, dass dort nichts mehr zu bereinigen bleibt. Wenn also irgendwelche Priester aus Unkenntnis der kanonischen Bestimmungen so dreist gewesen sind, weniger Buße als nötig aufzuerlegen, so kommen die Bereuenden dadurch in große Unannehmlichkeiten, weil sie späterhin, in ihrem Vertrauen auf jene betrogen, dafür mit schwereren Strafen geschlagen werden, wofür sie in diesem Leben durch leichtere hätten Genugtuung leisten können. Manche Geistliche täuschen ihre Beichtkinder nicht einmal im Irrtum, sondern aus Habgier in der Weise, dass sie ihnen für einen bestimmten Ablass an Geld die Strafen ihrer auferlegten Bußleistung erlassen oder herabsetzen; dabei halten sie sich nicht etwa an den Willen des Herrn, sondern an die Macht des Geldes, worüber der Herr selbst durch den Mund des Propheten klagt: "Meine Priester riefen nicht: wo ist der Herr? (Jer.2,6)", als ob er fortfahren wollte: sondern wo ist Geld? Doch wissen wir, dass nicht allein die Priester, sondern wahrlich auch deren Vorgesetzte, d. h. die Bischöfe, dieser Begierde frönen, wie sie ja auch den Reuenden gegenüber äußerst großzügig im Herabsetzen ihrer Strafen sind, wenn sie bei der Einweihung von Kirchen, bei Altarweihen, Segnungen von Friedhöfen oder sonstigen Feierlichkeiten, wovon sie sich reichlichen Ablass erwarten, das Volk zusammenkommen lassen; ja, bald erlassen sie allein insgeheim den dritten, bald den vierten Teil ihrer Buße, was natürlich unter dem Mantel der Nächstenliebe, in Wahrheit aber aus schändlichster Geldgier geschieht. Sie, die sich ihrer Macht brüsten, die sie, wie sie sagen, an Petri oder der Apostel Statt angetreten haben, zu denen der Herr sprach: "Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen (Joh.20,23)" oder "Was ihr löset auf Erden, soll auch im Himmel gelöst sein (Matth. 16,14)", rühmen sich dann am meisten, nur ihres Amtes zu walten, wenn sie ihren Untertanen mit solcher Güte begegnen. Wenn sie das doch wenigstens wirklich nur deshalb und nicht des Geldes wegen täten, dass statt der Begierde nur irgend ein Zeichen von Güte zu sehen wäre. Aber wenn das schon ihrer Güte zugute gehalten werden soll, dass sie den dritten oder vierten Teil der Buße erlassen, dann würde ihre Güte doch noch weit mehr zu preisen sein, wenn sie die Hälfte der Buße oder die Buße ganz und gar erließen, was ihnen ja nach eigenem Urteil erlaubt und vom Herrn zugestanden ist, da nach dem oben angeführten Zeugnis über Sündenerlass und Absolution in ihre Hände gleichsam das Himmelreich gelegt sei. Im Gegenteil können sie aber endlich großen Frevels beschuldigt werden, weil sie nicht alle Untergebenen so von allen Sünden lösen, dass sie keinen von ihnen zur Verdammnis kommen ließen, wenn es wirklich in ihre Macht gegeben ist, die Sünden zu vergeben oder zu belassen, die sie wollen, oder den Himmel nur denen zu öffnen oder zu verschließen, denen sie es beschlossen haben; vollends dann wären sie überaus glücklich zu preisen, wenn sie imstande wären, sich selbst den Himmel zu öffnen. Wenn sie das aber nicht können oder nicht verstehen, dann trifft, sofern ich es recht verstehe, für sie das Dichterwort zu: "Dem Herrn gegenüber versagen die Mittel, die sonst so nützlich waren". Jene Macht, durch die man anderen mehr nützen könnte als sich selbst, suche wer da will, nur ich nicht; eine Macht, die einen befähigen sollte, andere Seelen leichter als die eigene zu retten! Merkt doch jeder nur einigermaßen vernünftige Mensch, dass hier die Sache faul ist!

26. OB SICH DIE MACHT ZU LÖSEN UND ZU BINDEN ALLGEMEIN AUF ALLE PRÄLATEN ERSTRECKT

Wenn man also fragt, was jene Macht oder jene Schlüssel zum Himmelreich eigentlich seien, die der Herr den Aposteln übergab, und die auf ähnliche Weise auch deren Stellvertretern, natürlich den Bischöfen, eingeräumt sein sollen, so scheint das keine geringe Frage zu sein, weil es ja viele Bischöfe gibt, die zwar weder religiöses Empfinden noch kirchlichen Anstand, dafür aber bischöfliche Gewalt haben. Wie sollen wir behaupten, dass für sie jenes Wort in gleicher Weise wie für die Apostel gilt: "Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen, und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten?" Wenn nun ein Bischof die Strafe für eine Sünde unkorrekt oder über das rechte Maß hinaus erhöhen oder vermindern wollte: liegt das in seiner Macht? Hieße das nicht, dass dann Gott nach dessen Willen seine Strafen anordnen müsse, wo doch Gott mehr auf die Gerechtigkeit einer Sache als auf menschlichen Willen achten muss? Oder wenn ein Bischof aus Zorn oder Hass, den er gegen jemanden hegt, dessen leichte Sünden ebenso wie schwere büßen lässt, oder dessen Strafe ständig weiter ausdehnt, oder beschlossen hat, ihm niemals etwas zu erlassen, mag er auch noch so sehr bereuen: wird der Herr dann etwa dieses Verhalten bekräftigen? Wenn also der Herr zu den Aposteln sprach: "Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen usw.", so scheint dies nur auf deren Person, nicht allgemein auf alle Bischöfe bezogen werden zu müssen, wie ja das, was er an anderer Stelle zu ihnen sprach: "Ihr seid das Licht der Welt" und "Ihr seid das Salz der Erde (Matth. 5,18)", oder die meisten anderen Stellen auch als speziell an sie persönlich gerichtet aufgefasst werden müssen. Denn weder räumte der Herr dieselbe Bescheidenheit und Heiligkeit, die er den Aposteln gab, auch in gleichem Maß deren Nachfolgern ein, noch waren diese Worte an die Allgemeinheit gerichtet: "Selig sind die Augen, die sehen, was ihr seht (Luk. 10,23)", "Euch habe ich aber Freunde genannt; denn alles, was ich habe von meinem Vater gehört, habe ich euch kundgetan (Joh. 15,15)" und wiederum "Wenn aber jener Geist der Wahrheit kommen wird, wird er euch die ganze Wahrheit lehren (Joh. 16,13)". Wenn das einer mit der Person Judas widerlegen wollte. der ja, als diese Worte gesprochen wurden, auch einer von den Aposteln war, so soll der wissen, dass es dem Herrn nicht verborgen war, gegen wen seine Worte gerichtet waren. Denn auch als er sagte: "Vater, vergib diesen, denn sie wissen nicht, was sie tun (Luk. 23,34)", darf man nicht annehmen, dass diese Rede an alle seine Verfolger ging. Wenn es nämlich heißt "diesen" oder "ihr", was nur allgemein hinweisende Fürwörter sind, richtet sich die Rede ganz nach der Absicht des Sprechenden entweder an alle Anwesenden zugleich, oder an irgendwelche von ihnen, die er besonders meinte, wie ja jene oben angeführten Worte nicht allgemein auf alle Apostel, sondern nur auf bestimmte Auserwählte zu beziehen sind. So ist vielleicht auch jene Stelle aufzufassen, wo er spricht: "Was du auf Erden bindest, soll auch im Himmel gebunden sein (Matth. 16,14)". Fast der gleiche Sinn liegt auch in dem, was der selige Hieronymus mit großem Scharfsinn sagt, als er an die Erklärung dieser Stelle bei Matthäus kam: "Bischöfe und Priester, die diese Stelle nicht verstehen, nehmen selbst etwas von dem Dünkel der Pharisäer an, dass sie entweder Unschuldige verdammen oder glauben, Schuldige lösen zu können, während vor Gottes Richterstuhl nicht die Meinung der Priester, sondern das Leben der Angeklagten geprüft wird." Im 3. Buch Mose lesen wir, dass den Aussätzigen befohlen wurde, sich den Priestern zu zeigen; und wenn sie Aussatz hatten, wurden sie vom Priester für unrein erklärt, wobei jedoch nicht die Priester rein oder unrein machten, sondern nur aussätzig und nicht aussätzig feststellten, also unterscheiden konnten, wer unrein oder rein war. Und genau wie dort der Priester einen Aussätzigen zum Unreinen machte, so löst oder bindet auch hier der Bischof oder Priester nicht Schuldige oder Unschuldige, sondern er weiß lediglich, wenn er seinem Amt entsprechend schon verschiedene Fälle von Sünden angehört hat, wer gebunden oder gelöst werden soll. Wenn ich mich nicht täusche, geht aus diesen Worten des Hieronymus klar hervor, dass das, was zu Petrus oder den übrigen Aposteln über das Binden und Lösen von Fesseln von Sündern gesagt ist, mehr in persönlichem Sinn als allgemein für alle Bischöfe zu verstehen ist, wenn wir diese Bindung oder Lösung nicht im Sinne des Hieronymus so auffassen, dass sie in Form eines Vorentscheides allen insgemein zugebilligt ist, so dass diese etwa selbst zu urteilen haben, wer von Gott gebunden oder gelöst werden soll, und zwischen rein oder unrein unterscheiden können. Deshalb sagt auch Origenes, der die ausgewählten Bischöfe, die dieselbe Gnade, die Petrus zugestanden worden war, verdient haben, von den übrigen unterscheidet, über die gleiche Stelle bei Matthäus ("was du bindest auf Erden...") folgendes: "Wenn diejenigen, die die Stelle eines Bischofs einnehmen, den Text wie Petrus auffassen und lehren, ebenfalls von Christus die Schlüssel des Himmelreichs empfangen zu haben, sowie jeder, der von ihnen gebunden sei, sei im Himmel gebunden, und es sei auch im Himmel gelöst, wer von ihnen gelöst sei, d.h. Erlass empfangen habe: so muss man gestehen, dass sie daran recht sagen, wofern sie nur auch solche Werke aufzuweisen haben, derentwegen zu Petrus gesagt wurde: Du bist Petrus..., wofern auf sie die Kirche Christi gebaut werden kann, und wofern die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen können. Andernfalls wäre es ja lächerlich zu sagen, dass einer, der selbst mit den Fesseln seiner Sünde gebunden ist, der seine Sünden wie ein langes Seil und seine Ungerechtigkeit wie einen nicht endenden Kalbsriemen hinter sich her zieht, allein deshalb, weil er Bischof genannt wird, solche Gewalt habe, dass die, die von ihm auf Erden gelöst sind, im Himmel gelöst sein sollten, oder dass die, die auf Erden gebunden sind, auch im Himmel gebunden sein sollen. Deshalb soll ein Bischof, der einen anderen bindet oder löst, untadelig und würdig, auch im Himmel zu binden oder zu lösen, sein, nur eines Weibes Mann, lauter, rein, geehrt, lehrhaft, gastlich, nüchtern, kein Raufbold, sondern maßvoll, friedfertig, nicht geldgierig, ein gutes Haupt seines Hauses und in aller Reinheit von gehorsamen Söhnen umgeben sein. Ist er so, so wird er nicht ungerechterweise auf Erden binden und nicht ohne Grund lösen, und einer, den er löst, weil er wie er selbst ist, wird daher auch im Himmel gelöst sein, und den er auf Erden bindet, wird auch im Himmel gebunden sein. Wenn es nämlich, um mich so auszudrücken, einen Petrus gibt, der diese Eigenschaften, die hier gleichsam über Petrus gesagt sind, nicht besitzt und dennoch glaubt, er könne binden, was auch im Himmel gebunden sein solle, so täuscht sich der selbst, weil er den Sinn der Heiligen Schrift missdeutet, und er verfällt wegen seines Frevels dem Gericht des Teufels." Also zeigt Origenes deutlich, wie es auch die Vernunft eindeutig befürwortet, dass aufgrund dessen, was wir nun klargestellt haben, vom Herrn keineswegs auf alle Bischöfe übertragen ist, was Petrus zugestanden worden war, sondern allein denen, die nicht nur äußerlich auf des Erhabenen Stuhl, sondern auch nach ihren Verdiensten in würdiger Nachfolge Petri leben. Denn mögen sie auch ganz und gar nicht nach des Herrn Willen tun und sich sogar vom Willen Gottes völlig abwenden, so vermögen sie dennoch gegen die Gerechtigkeit göttlicher Ordnung nichts auszurichten, und mögen sie auch irgend ein Unrecht tun, so gelingt es ihnen doch nicht, auch Gott zu einem Unrecht zu verleiten, so dass er ihnen also geradezu ähnlich würde. Denn solche klagt ja Gott selbst heftig an und droht ihnen schwer: "Du warst der falschen Meinung, dass ich dir ähnlich sein würde, aber ich werde dich strafen und es vor dein Angesicht halten: Sehet das doch ein, die ihr Gott vergesst... (PS. 49,21)". Von wem lässt sich aber eher behaupten, er vergesse Gott und verliere seinen gesunden Verstand, als von dem, der sich solche Macht anmaßt, dass er behauptet, der Bindung oder Lösung seiner Untergebenen nach seiner Willkür liege göttlicher Beschluss zugrunde, dass also seine Ungerechtigkeiten Gottes höchste Gerechtigkeit umstoßen könnten, als ob es in seiner Macht stünde, wen er nur wolle, sündig oder sündenfrei zu sprechen! Dass sie das aber niemals tun, dem beugte schon jener große Kirchengelehrte Augustin, der gerade auch unter den Bischöfen einen Namen hat, in seiner sechzehnten Rede über das Wort Gottes folgendermaßen vor: "Du behandelst schon deinen Bruder wie einen Zöllner und bindest ihn auf Erden; sieh aber zu, dass du ihn auch mit Recht bindest; denn unrechte Bande zersprengt die Gerechtigkeit." Auch der selige Gregorius spricht seine Meinung offen aus und bekräftigt sie durch Beispiele des Herrn, "dass die kirchliche Gewalt zu binden und zu lösen zu Ende sei, wo sie vom rechten Weg der Gerechtigkeit abweicht und nicht mehr mit göttlichem Rechtspruch übereinstimmt." Darauf bezieht sich auch das, was er in seiner fünfundzwanzigsten Predigt über das Evangelium sagt: "Meistens nimmt die Stelle eines Richters der ein, der seinem Lebenswandel nach kaum dazu geeignet ist; und häufig verdammt er Unschuldige oder löst andere, obgleich er selbst gebunden ist. Häufig folgen sie auch bei der Lösung oder Bindung ihrer Untergebenen willkürlichen Trieben anstatt der gerechten Sachlage, wodurch sich dann selbst der Macht zu lösen und zu binden beraubt, wer diese nach seinem willkürlichen Gutdünken und nicht nach dem sittlichen Verhalten seiner Untergebenen ausübt. Oft kommt es auch vor, dass sich der Hirte gegen irgendeinen seiner Nächsten von Hass oder Gunst leiten lässt. Wer aber in den Angelegenheiten seiner Untergebenen in erster Linie eigene oder fremder Leute Interessen verfolgt, kann über diesen nicht mit Recht zu Gericht sitzen." Deshalb sagt ja auch jenes Prophetenwort: "Unsterbliche Seelen schickten sie in den Tod, und andere erweckten sie ungerechterweise zum Leben. Denn einen Unsterblichen tötet, wer einen Gerechten verdammt, und einen, der nicht leben soll, bemüht sich, zu ewigem Leben zu erwecken, wer versucht, einen Sünder von seiner Strafe zu lösen." Also muss die Sachlage stets genau erwogen und erst dann die Macht des Bindens und Lösens ausgeübt werden; man muss die Schuld prüfen oder sehen, welche Reue danach erfolgt ist: wie der Allmächtige die Seinen durch die Gnade der Reue heimsucht, so soll sie der Spruch des Hirten lösen. Nur dann ist nämlich die Absolution des Vorgesetzten wirksam, wenn sie auf rechtliches Abwägen des Richters erfolgt. Gerade das veranschaulicht auch gut jene Wiedererweckung des viertägigen Toten, wo es heißt, dass der Herr zuerst den Toten rief und mit den Worten: "Lazarus, komm heraus" wieder lebendig machte, und ihn die Jünger erst dann lösten, als er lebendig herauskam. Und weiter: "Also nun erst lösten die Jünger den, den der Meister vom Tod auf erweckt hatte"; hätten sie den Lazarus gelöst, als er noch tot war, so hätten sie mehr Gestank als sonst etwas verursacht. Aus dieser Betrachtung können wir entnehmen, dass wir kraft unserer kirchlichen Autorität nur lösen dürfen, wenn wir klar erkannt haben, dass unserer Berufung zum ewigen Leben die Gnade der Wiedererweckung bereits vorausgegangen ist, und diese Wiedererweckung erkennen wir natürlich schon vor dem Erweis der Richtigkeit am Sündenbekenntnis. Denn auch zu jenem Toten wurde nicht gesagt: "Sei wieder lebendig", sondern "komm heraus", gleich als ob ganz eindeutig für jeden, der an seiner Schuld gestorben ist, gelte: "Komm jetzt durch dein Bekenntnis heraus, der du innen bei dir in Verstocktheit verborgen bist." Er soll herauskommen heißt also so viel wie: der Sünder soll seine Schuld bekennen. Und "die Jünger lösen ihn, wenn er herauskommt", heißt dann, dass auch die Hirten der Kirche dem die Strafe erlassen sollen, der sich nicht scheute, seine Werke zu bekennen. Und wiederum: "Ob aber der Hirte richtig bindet oder nicht, soll doch die Herde den Spruch des Hirten fürchten, dass keiner, den es betrifft, auch wenn er zu Unrecht gebunden wird, diese Bindung aus irgend einer anderen Schuld verdient." Schließlich heißt es noch: "Wer unter der Hand des Hirten steht, muss fürchten, zu Recht oder zu Unrecht gebunden zu werden, und keiner, sei er auch zu Unrecht gebunden, bemängle leichtfertig den Richterspruch seines Hirten, dass nicht gerade aus diesem überheblichen und selbstsicheren Tadel eine Schuld entstehe, die vorher nicht bestand." Durch diese Worte und die ihrer Herkunft nach göttlichen Vergleiche wird es klar, dass der Spruch von Bischöfen nicht gilt, wenn sie sich dabei von göttlicher Gerechtigkeit entfernen, indem sie sich - um bei jenem Prophetenwort zu bleiben - fälschlich anmaßen, viele zu ewigem Tod oder Leben berufen zu können. Diese werden jedoch nach einer Entscheidung der Bischöfe selbst von deren Kommunion ausgeschlossen, wenn sie ihren Untergebenen widerrechtlich ihre Kommunion verweigert haben; denn darüber wurde auf einem afrikanischen Konzil, Artikel 210, beschlossen: "Ein Bischof soll keinem ohne Grund die Kommunion verweigern, und solange ein Bischof einem solchen von ihm exkommunizierten Glied die Kommunion nicht spendet, soll auch ihm von anderen Bischöfen die Kommunion nicht erteilt werden, dass er sich künftig mehr hüte, einem etwas zur Last zu legen, was er nicht auch durch andere Beweise bekräftigen kann.

 



Die vorliegende Übersetzung entspricht im wesentlichen der von F. Hommel im Jahre 1947 im Buch "Nosce Te Ipsum" veröffentlichen Version. Dieser Übersetzung von Abaelards Ethik liegt die von R. D. P. Benedictus Bonetus aufgefundene und von D. Bern. Pezius in Thes. Anecd.,111, II 626 edierte Münchner HS (ehem. im Kloster S. Emmeran bei Regensburg), in der Edition Migne (PL Bd. 178) zugrunde; Weitere Münchner HSS von Abaelard's Nosce (oder Scito) te ipsum sind Clm. 14160 saec. XII, 18597 saec. XV, 18797 saec. XV und 28363 saec. XII.



TERMINOLOGIUM DER WICHTIGSTEN LATEINISCHEN BEGRIFFE IN ABÄLARDS ETHIK

(Die Ziffern beziehen sich auf die Kapitel, in denen die einzelnen Termini erstmals Bedeutung für das Ganze gewinnen, P = Prologus)

Ablass = oblatio (25)
Absicht = intentio (3)
Ausführung = operatio (3)
Ausübung einer Handlung = exercitium operationis (3)
Beichte; Bekenntnis = confessio (24)
Beleidigung = offensa (3)
Bildung, moralische = compositio morum (l)
Böse, das malum (7)
Buße satisfactio (5)
Bußleistung S.Buße
Charakter animus (P)
Charakterschwäche, moralische = vitium quodad mores pertinet (1)
Einflüsterung der Dämonen = suggestio daemonum (4)
Einflüsterung des Teufels = persuasio diaboli (3)
Empfinden, leidenschaftliches = poena doloris (23)
Erbsünde = peccatum originale (3)
Genugtuung = satisfactio (17)
Gesittung, moralische = mores (P)
Gewissen = conscientia (13)
Gewissensbiss = compunctio (18)
Gute, das = bonum (7), bonitas (7)
Güte, die (qualitativ) = bonitas (7)
Guten, Begriff des = nomen boni (10)
Haltetau = retinaculum (24)
Handlung = operatio (3)
Hostie für die Sünde = hostia peccati (14)
Leiden = passio (3)
Leidenschaft = affectus carnalis (19)
Lust, böse = concupiscentia (3)
 Lust des Fleisches = delectatio carnis (3)
Machtvollkommenheit, höchste = summa potestas (3)
Nachsicht = indulgentia (20)
Neigung, innere = inclinatio animi (3)
Neigung, schimpfliche = consensus turpis (2)
Neigung, schlechte = consensus pravus (2)
Opfer = hostia (14)
Pein = poena (16)
Regung, anziehende = suggestio (3)
Reue = poenitentia (17)
Reue, fruchtbare = poenitentia fructuosa (19)
Reue, fruchtlose = poenitentia infructuosa (19)
Seligkeit = beatitudo (7)
Sünde, fleischliche = peccatum carnale (6)
Sünde, geistige = peccatum spirituale (6)
Sünde, kriminelle = peccatum criminale (15)
Sünde, lässliche = peccatum venale (15)
Sünde, unerlässliche = peccatum irremissibilis (22)
Übereinstimmung = consensus (3)
Unwissenheit = ignorantia (14)
Verachtung = contemptus (3)
Vergebung = condonatio (20), remissio (22)
Verlangen, lustvolles = delectatio (3)
Vorgang, äußerer (der Sünde) = actio (3)
Vorspiegelung = cogitatio (2)
Wesenheit = substantia (3)
Wesenseigenheit = esse in anima (2)
Wiedererweckung = vivificatio, resuscitatio (26)
Wille = voluntas (3)
Wiederversöhnung = reconciliatio (17)
Zustimmung = consensus (3)


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