Brief 15: Abaelard ruft seine Anhänger nach Sens

© Werner Robl, Neustadt, Juli 2002
 

Jahrhunderte schlummerte dieser Brief Abaelards unerkannt in einem frühmittelalterlichen Manuskriptband. Er stammt aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts und befindet sich heute in der Universitätsbibliothek Heidelberg: Codex Heidelbergensis 72, früher 359.8. Obwohl er schon einige Jahrzehnte zuvor entdeckt worden war, veröffentlichte ihn der Kanadier R. Klibansky erst im Jahre 1961 kommentierend in einer mediävistischen Fachzeitschrift: Klibansky R., Peter Abailard and Bernhard of Clairvaux, A letter by Abailard, Medieval and Renaissance Studies, 5, 1961, Seite 1 bis 27.

Über den frühen Verbleib dieses Codex ist nichts bekannt. Irgendwann zwischen 1708 und 1850 war er an die Universitätsbibliothek Heidelberg gefallen. Vermutlich hatte er einem deutschen Kleriker gehört, der besonders an den Briefen Bernhards von Clairvaux und Eugens III. interessiert war.

Der Codex enthält insgesamt 16 Folios von 15,5 cm x 10 cm Größe, wobei die Folios 2 bis 15 aus Pergament, die später angefügten Deckblätter 1 und 16 aus Papier bestehen. Die ersten fünf der insgesamt sechs Schriftstücke stammen aus derselben Hand und wurden nur wenig später als 1150 geschrieben: Bernhard von Clairvaux, Brief 238 (fol. 2r-4r), Brief 363 (fol. 4r - 9r), Papst Eugen III., Brief 48 (fol. 9v - 12v), Bernhard von Clairvaux, Brief 189, Anklage Peter Abaelards (fol. 12v - 14v). Die dazwischen geheftete Prophetie der spanischen Sybille (Fragment, fol. 9r - 9v?) ist eine absolute Rarität. Die Hispana Sibylla war bislang nur durch einen Kommentar Thierrys von Chartres zu Boethius' De Trinitate sowie einige Querverweise aus anderen Manuskripten bekannt.

Das sechste Werk (fol. 14v - 15v) stammt von einem anderen Kopisten und aus einem späteren Jahrzehnt des 12. Jahrhundert. Leider hatte der Kopist nicht ganz sorgfältig gearbeitet; das Manuskript enthält einige Schreibfehler: Es handelt sich den besagten Brief Abaelards an seine Anhänger, geschrieben unmittelbar vor dem Konzil von Sens. Die Echtheit des Manuskriptes wird im Allgemeinen nicht bezweifelt.

Der Brief war von Peter Abaelard am Vorabend des Konzils von Sens am 25. Mai 1141 verfasst worden.

Er enthält einige Formulierungen, welche auch aus anderen Werken Abaelards bekannt sind, vor allem aus der Historia Calamitatum, außerdem einen Zweizeiler, der eine Verballhornung bedeutungsgleicher Verse Ovids und Horaz' darstellt (Ovid, Remedia Amoris, Vers 370, und Horaz, Carmina Buch 2, Ode 10, Vers 11 und 12):

Summa petit livor, perflant altissima venti,
Feriuntque summos fulmina montes.

Der Neid greift selbst das Erhabenste an, Winde umstürmen die höchsten Höhen,
Und Blitze umtoben die Gipfel der Berge.

Der korrekte Vers des Ovidius Naso hätte gelautet:

Summa petit livor; perflant altissima venti
Summa petunt dextra fulmina missa Iovis.

Dieses Distichon scheint in seinem zweiten Teil einen zu heidnischen Charakter getragen zu haben, so dass es in die mittelalterlichen Proverbien-Sammlungen nur in der geschilderten Mischform einging. Dass Abaelard gerne dieses klassische Zitat verwendete, steht außer Zweifel, denn die Verse finden sich nicht nur in der Historia calamitatum, sondern auch in Abaelards Carmen das Astralabium - jeweils in verkürzter bzw. leicht abgewandelter Form.

Dass Abaelard das Dichterwort sogar im mündlichen Dialog einsetzte, bestätigt eine externe Quelle: Interessanterweise verwendete der normannisch-walisische Kirchenschriftsteller Gerald von Wales, 1147-1216, genau diese Zeilen in Zusammenhang mit einer Anekdote über Abaelard, die er während seiner Pariser Studienzeit aus unterrichtetem Mund erfahren hatte. Abaelard hatte auf den Zweizeiler in einem gehässigen Dialog mit einem Juden Bezug genommen - vor den Augen des Königs Philipp. Die Begebenheit trug sich also in Abaelards früher Pariser Zeit zu, d. h. vor 1108. Der genaue Wortlaut findet sich an anderer Stelle innerhalb dieser Seiten. Siehe auch: Gerald von Wales, The Itinerary of Archbishop Baldwin through Wales, Buch 1, Kapitel 12.

Den Horazischen Anteil des Doppelverses hatte Abaelard anlässlich seiner Schilderung des Konzils von Soissons dem ihn damals noch unterstützenden Bischof Gottfried von Chartres in den Mund gelegt.

Andere Formulierungen des vorliegenden Briefes finden ihre Analogie in Schreiben von Abaelards Gegnern. So sprach zum Beispiel Abaelard davon, dass Bernhard von Clairvaux sein Werk der Theologie Stultilogia genannt hatte. Bernhard hatte in der Tat dieses unschöne Wort in einem seiner Briefe - Brief 190 - gebraucht: ...In primo limine theologiae vel potius stultilogiae suae... Aufgegriffen wurde der Begriff in einem anonymen Anklagenkatalog gegen Abaelard - Capitula haeresum P. Abaelardi -, der heute Thomas von Morigny zugeschrieben wird: Haec sunt capitula Theologiae immo Stultilogiae Petri Abaelardi...

Abaelard hatte diesen Brief sozusagen am Vorabend des Konzils von Sens geschrieben, welches nach neuerer Datierung nicht im Jahre 1140, sondern am 25. Mai 1141 stattfand. Er selbst hatte beim Erzbischof von Sens, Heinrich, dem Eber, um den erwähnten Disputationstermin nachgesucht, um sich den verschärften Vorwürfen aus dem Lager Bernhards von Clairvaux argumentativ stellen zu können. Um einen entsprechenden Eindruck bei den hochrangigen Vertretern der Kirchenorthodoxie, die sich in Sens treffen wollten, zu hinterlassen, rief er nun in einem Schreiben, welches vielleicht sogar eine Art von Rundschreiben war, seine Anhänger, Schüler und Freunde - socii nannte er sie - zur Mithilfe auf.

Wer die Adressaten im Einzelnen waren, wissen wir nicht. Seinen Angaben nach müssen sie sich in Paris befunden haben. Bisweilen wurde vermutet, dass sich darunter auch Hyazinth Bobo, Prior der Subdiakone an der Lateran-Basilika in Rom, befand, welcher nach dem Konzil von Sens bekanntermaßen beherzt für Abaelard an der Kurie eintrat und vielleicht zuvor die Francia bereist hatte. Dieser Gedanke P. Zerbis ist nicht aus der Luft gegriffen, bedankte sich doch Abaelard in seinem Schreiben bei seinen Adressaten über die Information, dass Bernhard von Clairvaux gegen ihn nun inquisitorisch vorgehe. Als Bernhard in Paris und anschließend beim Erzbischof von Sens gegen Abaelard vorging, hatte Abaelard auf jeden Fall seine Pariser Wirkungsstätte bereits verlassen. Einige der Formulierungen des Briefes deuten darauf hin.

Die Tatsache, dass Abaelard diesen Brief überhaupt schreiben musste, belegt, dass er sich zum betreffenden Zeitpunkt nicht mehr beim Großteil seiner Anhänger befand. Wo er konkret weilte, um seine Verteidigungsschrift Ne iuxta Boethianum vorzubereiten, welche Otto von Freising in seinen Gesta Friderici fälschlicherweise in die Zeit von Cluny verlegt hatte, ist jedoch ungewiss.

Abaelard verglich in dem Schreiben sein Schicksal etwas theatralisch mit dem des Märtyrers Vinzenz von Saragossa, der um 304 in Valencia verstorben war. Bernhard von Clairvaux bezeichnete er in diesem Zusammenhang als seinen Datian. Der Heilige Vinzenz war der Legende nach Archidiakon des greisen Bischofs Valerius von Valencia in Spanien gewesen. Während der Christenverfolgungen unter Kaiser Diokletian hatte Datian, der römische Statthalter von Valencia, beide verhaften lassen. Der Bischof wurde in die Verbannung geschickt, Vinzenz auf grausamste Art und Weise gefoltert: Man warf ihn nackt in einen dunklen Turm, legte ihn mit zerrissenen Gliedern auf einen glühenden Eisenrost und ließ ihn schließlich auf einem Bett von Glasscherben verenden. Engel sollen sich seiner erbarmt und sein Lager in ein Blumenlager umgewandelt haben. Vinzenz war zur Zeit Abaelards in Frankreich ein sehr populärer Heiliger - er war unter anderem der Patron der Winzer. Abaelard mag seinen bildhaften Vergleich aus den Schriften des Heiligen Augustinus entnommen haben; denn dieser hatte dem Heiligen Vinzenz von Saragossa mehrere Predigten gewidmet.

Wie man anderen Quellen entnimmt, war Abaelards Hilferuf an seine Gefolgschaft zwar nicht unerhört geblieben, aber dennoch letztlich wirkungslos. Nachdem Bernhard von Clairvaux schon am Vorabend des Konzils von Sens eine Vorverurteilung von Abaelards Schriften und Lehrsätzen als Häresien erreicht hatte, wurde Abaelard vor der nachfolgenden Konzilsversammlung keine ehrliche Chance zur Rechtfertigung mehr gegeben. Als er dies erkannte, blieb ihm nur eine Art von Notwehr, die ihm das Schicksal ersparte, welches ihn bereits 1121 in Soissons ereilt hatte: So verweigerte Abaelard jede Aussage, erklärte die Bischofskonferenz als nicht zuständig für seinen Fall und appellierte an den Papst in Rom. Seine Anhänger konnten ihm hierzu wenig nützen. Dagegen mögen sie ihn, der er nun sogar eine Steinigung durch das Volk von Sens zu befürchten hatte, wenigstens sicher aus der Stadt herausgebracht haben.

 
EPISTULA PETRI ABAILARDI CONTRA BERNARDUM ABBATEM

Dilectissimis sociis suis dilectissimus eorum servus salutem.

Probabile satis est ad gloriam Vincentii martyris quod descriptis eius gestis titulo invidit inimicus. Tale aliquid et mihi nunc accidit, ut a maximis ad minima comparatio similitudinis perducatur. Ille quippe occultus iam dudum inimicus, qui se huc usque amicum, immo amicissimum simulavit, in tantam nunc exarsit invidiam, ut [nunc] scriptorum meorum titulum ferre non posset, quibus gloriam suam tanto magis humiliari credidit, quanto magis me sublimari putavit. Dudum autem graviter ingemuisse audieram, quod illus opus nostrum de sancta Trinitate, prout Dominus concessit a nobis compositum, Theologiae intitulaveram nomine. Quod ipse tandem minime perferens Stultilogiam magis quam Theologiam censuit appellandam. Deo gratias, quod huius operis nostri labor tantus existimari potuit, ut dignus fieret qui prius magistros Franciae, <deinde> monachos et maioris religionis aestimatione praeditos in tam impudentem et tam manifestam invidiam admoveret. Providebit Dominus operi suo, ut quod ipso inspirante conscripsimus malitia pravorum deleri <non> patiatur. Quo saepius in ipsum debachabatur, non tam ad illius operis depressionem quam exaltationem proficere Domino confidimus annuente:

Summa petit livor, perflant altissima venti, feriuntque summos fulmina montes.

Sciatis autem quod, antequam dilectionis vestrae viderem nuntium, me iam audisse quorundam relatione, quanta ille Datianus meus in me veneni sui probra vomuerit: primo quod Senonis in praesentia domini archiepiscopi et multorum amicorum meorum, quod deinde Parisius de profundo nequitiae suae coram vobis vel aliis eructuaverit. Dominus itaque archiepiscopus iuxta petitionem nostram litteras ad eum direxerat: si in accusatione mei perseverare vellet, me paratum habere in octavis Pentecostes super his quae abiecit capitulis respondere. Nondum vero audivimus, quale ipse responsum dederit litteris illis. Me autem ad praefatum diem Domino annuente venire sciatis, et vos adesse cupimus et rogamus.

Valete.

BRIEF DES PETER ABAELARD GEGEN [DIE ANSCHULDIGUNGEN DES] ABT[ES] BERNHARD VON CLAIRVAUX 

Seinen hochgeschätzten Anhängern, ihr hochgeschätzter Diener: Einen Gruß!

Es ist zum Ruhm des Märtyrers Vinzenz hinlänglich erwiesen, dass der Feind, als dieser seine Taten aufgeschrieben hatte, seiner Abhandlung Missgunst entgegenbrachte. Genau dasselbe widerfährt jetzt haargenau auch mir, um vom Wichtigsten zum Unwichtigsten einen Vergleich zu ziehen. Freilich ist der Feind, der schon längst im Verborgenen lauerte und dennoch bis jetzt vorgab, er sei ein Freund - mehr noch: ein innigster Freund -, in solchem Geifer entbrannt, dass er nun den Titel meiner Schriften nicht mehr ertragen kann. Er hat wohl geglaubt, dass durch diese sein Ruhm umso mehr vermindert werde, je mehr ich seiner Ansicht nach erhöht wurde. Ich hatte erfahren, dass er schon längst in heftiges Stöhnen darüber ausgebrochen war, weil ich jenes von mit verfasste Werk über die Heilige Trinität - soweit es der Herr gestattete -, mit dem Titel Theologie, d. h. Gotteslehre, versehen hatte. Schließlich meinte er, da er es in keiner Weise mehr aushielt, es höchstpersönlich eher als Stultilogie, d. h. Dummenlehre,  bezeichnen zu müssen. Gott sei Dank konnte unsere Arbeit an diesem Werk so große Wertschätzung erfahren, dass es sich als würdig erwies, zuerst die Lehrer der Franzia, dann auch die Mönche, die sich einer höheren Achtung ihrer Frömmigkeit erfreuen, zu einem solch offenkundigen Neid zu bewegen. Der Herr wird schon für sein Werk sorgen und nicht zulassen, dass durch die Boshaftigkeit grundschlechter Leute das vernichtet wird, was wir selbst unter seiner Eingebung aufgeschrieben haben. Je häufiger man sich dagegen austobt, desto mehr vertrauen wir darauf, dass dies nicht zur Niederschlagung jenes Werkes dient, sondern dem Herrn zur  Erhöhung. Wie richtig sagt man:

Der Neid greift selbst das Erhabenste an, die Winde umstürmen höchste Höhen, Blitze toben um die Gipfel der Berge.

Ihr sollt aber wissen, dass ich - noch ehe ich die Botschaft Eurer Liebe zu Gesicht bekam - schon durch den Bericht gewisser Leute erfahren hatte, welch giftige Schmähworte  jener mein Datian gegen mich ausgespieen hatte: Das erste Mal würgte er dieses in Sens aus der Tiefe seines Unverstandes heraus, und zwar in Gegenwart des Herrn Erzbischofs und vieler meiner Freunde, das zweite Mal in Paris vor Euch oder anderen. Deshalb hatte der Herr Erzbischof auf unsere Bitte hin einen Brief an ihn gerichtet: Wenn er auf meiner öffentlichen Anklage beharren wolle, so stünde ich bereit, am Oktavtag nach Pfingsten bezüglich der Kapitel, die er verworfen hatte, Rede und Antwort zu stehen. Aber noch haben wir nicht zu Gehör bekommen, welche Antwort er auf jenen Brief gegeben hat. Ihr sollt jedoch wissen, dass ich mit Zustimmung des Herrn zum erwähnten Termin nach Sens komme, und wir bitten Euch auch inständig, da zu sein.

Lebt wohl.

 


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