Vierter Brief: Heloïsa an Abaelard

Ihrem Einziggeliebten nach Christus, seine Einzigliebende in Christus!

Zu meinem Staunen, Einziggeliebter, hast Du gegen die Briefform und gegen die Naturordnung verstoßen und mich in dem Einleitungsgruß vor Dir genannt: Du hast es gewagt, das Weib vor dem Mann zu nennen, die Gattin vor dem Gatten, die Magd vor dem Herrn, die Nonne vor dem Mönch und Priester, die Äbtissin vor dem Abt. Dabei ist es so in der Ordnung, und es gehört sich so, dass man in Briefen an Höherstehende oder Gleichstehende die Namen der Empfänger voranstellt, in Briefen an Niedrigerstehende den Namen des Absenders. 

Doch noch nicht genug des Befremdenden: Du musstest uns trösten, aber Du hast uns in die Trostlosigkeit hineingestoßen und hast die Tränen erst recht wieder fließen lassen, die Du trocknen musstest. Keine von uns Nonnen kann es trockenen Auges lesen, wenn Du gegen Ende Deines Briefes schreibst: "Lässt mich der Herr in die Hände meiner Feinde fallen, so dass sie mich überwältigen und töten".... die Worte gehen noch weiter, aber, Liebster, das nur denken, das erst aussprechen, wie hast Du das nur fertiggebracht? Nie, niemals darf Gott seiner Mägde so vergessen, dass Du stirbst und sie weiterleben müssen, ein Leben weiterleben müssen, schlimmer als jeder Tod! Wenn es recht gehen soll, musst Du unsere Bestattungsfeier vollziehen und musst unsere Seelen dem Herrn empfehlen; auf Erden hast Du uns zu einer Gemeinde des Herrn gesammelt, sende uns nun voraus zum Herrn als Deine Boten, und keine Sorge um uns braucht Dich mehr zu quälen, in freudiger Bereitschaft darfst Du uns zum Herrn folgen, da Dir Gewissheit geworden von unserer Seelen Seligkeit. Erspare uns bitte solche Worte, mein Herr, bitte erspare sie uns! Elend sind wir schon, aber durch solche Worte stößt Du uns ins tiefste Elend und raubst uns das bisschen Leben noch vor dem Tod. Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe, und in Bitterkeit gehüllt der Tag des Gerichts einem jeden genug Angst bringe, über den er kommt. "Wozu muss man denn das Leid noch besonders berufen" sagt schon Seneca, "und vor dem Tod schon sein Leben verlieren?" Du meinst, Du könntest fern von uns irgendwie Dein Leben enden; und da bittest Du uns, Liebster, Deinen Leib in unseren Gottesacker bringen zu lassen; Dein Grab soll uns ein täglicher Mahner sein, Deiner fürbittend in unseren Gebeten zu gedenken. 

Kannst Du denn wirklich den Gedanken haben, wir könnten je Dein vergessen? Ist dann die rechte Zeit zum Gebet, wenn die Seelennot uns keinen Augenblick der inneren Sammlung gönnt, wenn wir keines Gedankens mehr mächtig sind und keines Wortes, wenn unser Herz in seinem Wahnsinn mit Gott geradezu hadert, statt in Gott seinen Frieden zu finden? Ein solches Herz kann in seinem Gebet keinen gnädigen Gott finden, es wird mit seinen ewigen Klagen nur unseres Gottes Zorn wachrufen. Wir Armen haben dann nur noch für Tränen Zeit, zum Gebet reicht unsere Kraft nicht mehr, und uns treibt nur noch ein Gedanke, nicht, Dich zu begraben, nein, Dir nachzueilen in den Tod; uns wird man begraben müssen, statt dass wir Dich begraben. Dich verlieren heißt unser eigen Leben verlieren; die Kraft fehlt mir, noch weiterzuleben, wenn Du von hinnen gehst. Ich mag nicht einmal mehr so lange leben! Schon dass Du von Deinem Sterben als von einer Möglichkeit sprichst, ist mein Tod. Die Wirklichkeit dieses Sterbens steht noch dahin; aber wenn sie an mich kommt! Dazu darf Gott nicht sein Ja sagen, niemals, dass ich Dich überlebe. Diesen letzten Gruß und Liebesdienst erwarte ich ganz bestimmt von Dir, das Eine darfst Du nicht von mir erwarten, in dem einen einzigen Fall will ich den Vortritt haben vor Dir und nicht Dir nachfolgen. Meine inständige Bitte heißt Gnade, Gnade für Deine Einzigdichliebende! Erspare mir solche Worte; wie todbringende Schwerter lässt Du sie durch meine Seele gehen, dass noch schwerer als der Tod sei das Leben zuvor! Vor Kummer kann ich keine Ruhe mehr finden und kann meinem Gott mein Herz nicht aufrichtig erschließen, es erliegt in seiner Angst und Qual. So kann ich dem Herrn nicht mehr dienen, Du bist daran schuld Du musst auch helfen, Du vor allem hast mich zu des Herrn Dienerin gemacht! Wenn eine schwere, leidvolle Schickung nicht mehr sich abwenden lässt, dann können wir nur um ihr schnelles Kommen bitten; sonst quälen wir uns noch so lange vorher herum mit unserer zwecklosen Angst vor dem Ereignis, das keine Vorsicht uns ersparen kann. Ganz im gleichen Sinn betet Lukan zu seinem Gott:

"Was du auch planst, lass plötzlich es kommen, verblende die Augen Zukunft schauender Menschen und heiße die Zagenden hoffen!"

Wenn ich Dich verliere, dann habe ich nichts mehr zu hoffen. Wozu soll ich dann noch hier meine Pilgerschaft fortsetzen? Ich habe in dieser Welt nur einen Trost - Dich! Ich habe an Dir nur einen Trost - Dein Leben! Alle anderen Freuden an Dir sind mir ja versagt, ja ich darf mich nicht einmal eines Besuches von Dir freuen, um so wenigstens manchmal mein Selbst in Dir wieder zu finden. 0 wenn ich es doch vor Gott verantworten könnte, ich sagte: Gott, wie grausam bist du zu mir überall! Du Barmherzigkeit, wie unbarmherzig bist du! Glück, wie unglücklich machst du! Alle Kraft des Schicksals, alle seine Pfeile sind an mir verbraucht, des Unglücks Wüten gegen andere ist darum waffenlos. Sein Köcher war voll, aber andere brauchen sich nicht mehr vor des Schicksals Angriffen zu ängstigen, ich war die Zielscheibe. Und wenn das Schicksal je noch einen Pfeil findet: den Fleck an mir findet es nicht, der noch ohne Wunde ist. Ich hätte sterben können und so die Qual enden, das musste einzig die Sorge des Schicksals sein, einzig die Furcht, ich könnte den Tod sterben, den es mit seinem ewigen Quälen mich nicht schnell genug sterben lassen kann. Ich Ärmste der Armen, ich Unglücklichste der Unglücklichen! Du hattest mich hochgehoben, Du hast mich über alle Frauen zu Ehren gebracht, und - so hoch ich gestiegen, so tief bin ich gestürzt, gestürzt an Dir und an mir zugleich. Denn je höher der Berg, desto schwerer der Sturz! Unter allen edlen und hohen Frauen war nicht eine vom Schicksal so begünstigt, dass sie über mir stand oder auch nur mir zur Seite! Also konnte das Schicksal auch keine so hinabschleudern und so im Leid sich verzehren lassen! Von Deines Ruhmes Glanz hat das Geschick auch mir gespendet, mit Deinem Sturz hat es ihn mir entwendet. Im Übermaß hat das Geschick mir beschert, beides, Glück und Unglück. Um meiner Liebe Leid übersteigern zu dürfen, übersteigerte es zuvor meiner Liebe Seligkeit! So sollte ich denken: dieses Überglück habe ich verloren, und mich im lautesten Jammer verzehren vor der Schwere meines Verlustes! Der Schmerz, so großen Besitz verloren zu haben, soll sich nach dem Wunsch des Schicksals noch steigern an der übergroßen Liebe, mit der ich meinen Besitz zuvor umfasst, und die Freuden der höchsten Lust sollen nach Schicksals Willen sich verzehren in der tiefsten Trauer. 

Aber die Kränkung war noch nicht schwer genug! Um die Empörung richtig hoch lodern zu lassen, sind an uns alle Gebote der Billigkeit ins Gegenteil verdreht: zuerst genossen wir die Freuden einer verstohlenen Liebe, und unfein aber deutlich gesagt, wir buhlten miteinander, und der strenge Richter im Himmel sah es ruhig mit an. Wir setzten gestattete Liebe an die Stelle der verbotenen, wir deckten die schmachvolle Buhlerei mit dem Mantel einer ehrbaren Ehe, und Gott, der das unheilige Lager der Buhlerei zuvor so lange geduldet, Gott sah das heilige Lager der Ehe nicht in Gnaden an und ließ in seinem Grimm die Hand schwer auf uns niederfallen. Die Strafe, die Du erdulden musstest, war Sühne genug für Männer, die sich bei schwerem Ehebruch betreffen ließen. Und Du musstest für Deine Ehe die Strafe leiden, die andere für einen Ehebruch zu leiden hatten; dabei warst Du doch so zuversichtlich in Deinem Glauben, durch diese Eheschließung alle vorherigen Verirrungen gutgemacht zu haben! Die eigene Ehegattin hat Dir die Strafe eingetragen, die sonst schlechte Frauen ihren Ehebrechern eintragen. Und das Unglück kam über uns nicht schon zu der Zeit, da wir nach unserer Heirat noch in alt gewohnter Lust schwelgten; nein, wir hatten uns auf einige Zeit getrennt und führten ein keusches Leben: Du hieltest in Paris Deine Vorlesungen, und ich lebte auf Dein Geheiß bei den Nonnen in Argenteuil. Wir hatten uns also getrennt: Du wolltest für Deine Vorlesungen wieder mehr Eifer zeigen, und ich, ich wollte ungestört beten und in die Heilige Schrift mich vertiefen. Und gerade da, als wir so keusch und heiligmäßig lebten, gerade da fiel die Hand Gottes nieder und ließ Dich allein an Deinem Leibe büßen für das, was wir beide vordem gemeinsam gesündigt hatten. Die Schuld lag auf unser beider Haupt, die Strafe hat Dich allein getroffen, Du musstest das Ganze bezahlen, ob Du schon den geringeren Teil geschuldet. Du erniedrigtest Dich selbst, um mir zu helfen, Du erhöhtest in mir mein ganzes Geschlecht, war das nicht eine Genugtuung über alles Erwarten? Da hättest Du keine Strafe mehr zu fürchten brauchen von Gott und erst recht nicht von den bösen Verrätern! Ich Arme, dass in mir die Ursache dieses schändlichen Verbrechens geboren werden musste! 

Warum muss den Größten der Großen immer vom Weibe das schwerste Unheil kommen? Darum steht auch in den Sprüchen das Wort zur Warnung vor dem Weibe: "Mein Sohn, höre mich und merke auf die Rede meines Mundes: lass Dein Herz nicht weichen auf ihren Weg und lass dich nicht verführen auf ihrer Bahn. Denn sie hat viele verwundet und gefällt, und sind allerlei Mächtige von ihr erwürgt. Ihr Haus sind Wege zur Hölle, da man hinunterfährt in des Todes Kammer." Ferner steht im Prediger geschrieben: "Ich habe alle Dinge durchforscht in meinem Geist und fand, dass ein solches Weib, dessen Herz Netz und Strick ist und ihre Hände Bande sind, bitterer sei denn der Tod. Wer Gott gefällt, der wird ihr entrinnen; aber der Sünder wird durch sie gefangen." Gleich das erste Weib hat im Paradies den Mann zum Unrecht verlockt; Gott schuf das Weib dem Mann zur Gehilfin, und es ist doch des Mannes größter Fluch geworden. Delilah allein konnte den Simson überwinden, den tapferen Helden, der da war "ein Geweihter Gottes von Mutterleibe an"; dessen Empfängnis wurde durch den Engel des Herrn verkündet; Delilah allein überwand ihn und verriet ihn an seine Feinde. Geblendet verzehrte er sich in seinem Schmerz und begrub, von Schmerzen gefoltert, schließlich mit den Feinden sich selbst unter den Trümmern des Palastes. Und Salomo, der weiseste König von allen! Allein das Weib, das er ehelichte, machte ihn zum Toren und ließ ihn den Verstand verlieren; sie trieb ihn dazu, für den Rest seines Lebens den Götzen zu dienen. Den König Salomo trieb sie dazu, und Gott hatte ihn doch auserlesen, Gottes Haus bauen zu dürfen, eine Gnade, die seinem Vater David nicht vergönnt war, und dieser war doch ein Gerechter! So durch das Weib verführt hat Salomo den Dienst Gottes verlassen und aufgegeben, den er zuvor in Wort und Schrift lehrte und predigte. Hiob, der hochheilige Mann, musste den letzten und härtesten Kampf mit seinem Weibe bestehen; sie wollte ihn dazu verleiten, Gott zu lästern. 

Der schlaue Versucher wusste das ganz genau, weil er es schon öfters erprobt hatte, dass die Männer am leichtesten zu stürzen sind durch ihre Frauen. Der Versucher hat seine gewohnte Bosheit auch an uns ausgeübt und hat durch die Ehe zu Fall gebracht, den er durch die Buhlerei nicht zu Boden strecken konnte. Da er unser Böses nicht zu unserem Bösen hatte ausnützen dürfen, so schuf er aus unserem Guten unser Böses. Der Versucher hat meine Leidenschaft missbraucht für seine Bosheitstat, aber ich bin sein unschuldiges Werkzeug, und dafür darf ich, anders als die genannten Frauen, meinem Gotte danken. Ich weiß, dass ich hier unschuldig bin, dass mich keine Schuld trifft an dem Verbrechen; aber ich habe zuvor gesündigt, so viel gesündigt, dass ich mich dennoch nicht ganz freisprechen darf von der Schuld an diesem Verbrechen. Des Fleisches Lust frönte ich zuvor schon und wie lange! Zu der Zeit verwirkte ich schon die Strafe, die ich jetzt erleide, und wie schwer erleide! Meiner Vergangenheit Sünden standen mit Recht hernach auf gegen mich und wurden an mir heimgesucht. Ist der Anfang böse, so wundere man sich nicht über ein böses Ende! Ach, könnte ich nur so tief bereuen, wie es das sündige Tun verlangt! Ich möchte irgendwie in anhaltender Reue und Zerknirschung auch so schwer leiden, wie Du es durch die schreckliche Wunde musstest. Dein Leib hat kurze Zeit dulden müssen, ich möchte ein Leben lang dulden - und es wäre nur recht und billig -, zerknirschten Herzens dulden und Genugtuung leisten, wenigstens Dir leisten, wenn ich sie meinem Gott nicht leisten darf. 

Ich will Dir beichten, die ganze Schwachheit eines jammerschweren Herzens beichten: ich kann keinen Weg finden zu einer Reue, die mich mit Gott versöhnte; ich kann nicht aufhören, ihn anzuklagen, über diesen Gipfel der Grausamkeit zu klagen, dass Gott ein solches Unrecht geschehen ließ. Ich kann mich mit seiner Führung nicht abfinden; statt ihn durch reuevolle Buße milde zu stimmen, kränke ich ihn noch durch mein Hadern. Gewiss, man kann seinen Leib büßen lassen, aufs stärkste büßen lassen, aber das ist doch keine wahre Buße für die Sünden. Denn das Herz hat ja nach wie vor den Willen zur Sünde, und es sehnt sich nach den Freuden von einst mit ungeschwächter Glut. Es ist gewiss leicht für jedermann, seine Sünden zu bekennen und sich selbst zu verklagen, sogar leicht, durch leibliche Bußübungen eine äußerliche Genugtuung zu erreichen; aber bitterschwer ist es, sein Herz loszureißen von den sehnsuchtsvollen Gedanken an die süßesten Freuden. Es hat schon seinen guten Grund, dass der fromme Hiob nicht bloß gesprochen hat: "Ich will meiner Klage bei mir ihren Lauf lassen," das heißt, ich will meine Zunge freimachen und will den Mund öffnen, meine Sünden zu beichten und selber zu verklagen, sondern alsbald fortfuhr: "Ich will reden in der Betrübnis meiner Seele." Der selige Gregor deutet diese Stelle mit den Worten: "Manche bekennen ihre Schuld mit lauter Stimme, aber in ihrem Bekennen ist kein Seufzen, und mit Seelenruhe sprechen sie aus, was ihnen Tränen entlocken müsste. Wem seine Sünden herzlich leid sind, und wer das auch ausspricht, der muss ein solches Bekenntnis in der Betrübnis seiner Seele ablegen, und diese Betrübnis mag die Strafe sein für alles, dessen ihn sein Mund auf Antrieb seines Herzens verklagt." Aber wie selten ist diese Betrübnis wahrer Reue! Das hat schon der selige Ambrosius in aller Schärfe gesehen, wenn er sagt: "Menschen, die reines Herzens geblieben, habe ich mehr kennengelernt als Menschen, die wirklich aufrichtig bereuten." Die Liebesfreuden, die wir zusammen genossen, sie brachten so viel beseligende Süße, ich kann sie nicht verwerfen, ich kann sie kaum aus meinen Gedanken verdrängen. Ich kann gehen, wohin ich will, immer tanzen die lockenden Bilder vor meinen Augen. Mein Schlaf ist nicht einmal sicher vor solchen Trugbildern. Sogar mitten im Hochamt drängen sich diese wollüstigen Phantasiegebilde vor und fangen meine arme, arme Seele so ganz und gar; aus reinem Herzen sollte ich beten, statt dessen verspüre ich die Reizungen meiner Sinnlichkeit. Ich kann nicht aufseufzen - und müsste es doch -, dass ich die Sünden begangen, ich kann nur seufzen, dass sie vergangen. Was wir beide getan, es ist in meiner Seele wie eingemeißelt; Ort und Stunde stehen mir sogar vor Augen, und immer bist Du dabei, ich erlebe alles wieder und wieder mit Dir, und selbst im Schlaf komme ich von diesen Erinnerungsbildern nicht los. Ab und an verrät mein Leib in seinen Bewegungen, wie es im Herzen aussieht, und ich rede, was ich nicht darf und doch nicht lassen kann.

Ich armes Weib, wenn je eines arm war, wenn je eines mit einstimmen durfte in den Stossseufzer eines bangen Herzens: "Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?" 0 könnte ich doch aus ehrlicher Überzeugung diese Frage mit dem Apostel also beantworten: "Die Gnade Gottes hat mich erlöst durch Jesum Christum unseren Herrn!" Diese Gnade, mein Geliebter, ist zu Dir gekommen, ohne dass Du um sie bitten musstest; von dem Stachel der Sinnenlust hat die eine Wunde an Deinem Leibe Dich befreit, hat Dir zugleich geheilt die vielen Wunden in Deinem Herzen! Gottes Güte war Dir gerade da am nächsten, wo Du Gottes Zorn zu spüren glaubtest; auch ein guter Arzt schreckt nicht davor zurück, Schmerzen zu verursachen, kann er nur das Leben retten. Aber in mir drängt das Feuer der Jugend, ich habe zu viel gekostet die Freuden aller Freuden, und darum kann das brünstige Fleisch, die hochgepeitschte Lust nicht zur Ruhe kommen. Der umfassende Ansturm lässt mich erliegen, schwach wie ein Menschenherz, wie mein Menschenherz eben ist! "Wie keusch sie ist!" rühmen sie; sie haben die Heuchlerin noch nicht richtig erkannt! Die Reinheit meines leiblichen Lebens rühmen sie, sie sprechen von Tugend, aber Tugend meint nicht leibliche Reinheit, Tugend meint die Reinheit der Seele. Gewiss, vor Menschen habe ich einige Ehre: vor Gott verdiene ich keine, vor dem Gott, der Herz und Nieren prüft und der in das Verborgene schaut. Fromm heiße ich in einer Zeit, in der die Frömmigkeit zu einem gut Teil aus Heuchelei besteht. Wer im menschlichen Gericht besteht, den krönt man mit der schönsten Ehrenkrone! Und irgendwie ist es vielleicht lobenswert, irgendwie vielleicht vor Gott angenehm, wenn einer wenigstens äußerlich den Anstand wahrt - seine Gesinnung sei, wie sie wolle - und so die Kirche vor Ärgernis behütet, wenn nicht um seinetwillen bei den Heiden der Name Gottes zum Spott wird, wenn bei den Kindern der Welt seines Ordens Ehre keinen Schaden leidet. Auch das ist ein Geschenk der göttlichen Gnade; von Gottes Gnade kommt es, wenn wir das Gute tun und wenn wir das Böse lassen. Aber das Böse lassen hat für sich allein keinen Wert, es muss auch das andere geschehen, so wie geschrieben steht: "Lass vom Bösen und tue Gutes!" Aber beides, Böses lassen und Gutes tun, ist doch umsonst, wenn es nicht geschieht aus Liebe zu Gott. Gott ist mein Zeuge, in jedem Abschnitt meines Lebens war es mein größtes Anliegen, Dich nicht zu verletzen. Dir zu gefallen, liegt mir mehr am Herzen, als Gott zu gefallen. Dass ich den Schleier nahm, es geschah nicht aus Liebe zu Gott, es geschah nur auf Dein Gebot. 

Sieh nur an, wie unglücklich ich bin, niemand lebt ein armseligeres Leben als ich, wofern ich in dieser Welt leide, und wie sehr leide, und in jener Welt keinen Dank ernten darf! Auch Du bist mit den vielen der Täuschung zum Opfer gefallen, hast echte Frömmigkeit und frommen Schein verwechselt. Kein Wunder, dass Du von mir forderst, was ich von Dir brauche, fürbittendes Gebet! Denk doch bitte nicht so hoch von mir, sonst hörst Du noch auf, meiner im Gebet zu gedenken, und halte mich nicht für gesund, um mir die Wohltat der Arznei zu entziehen! Du glaubst, ich brauchte nichts. Ach, lass mich nicht darum in der äußersten Not sitzen! Wenn Du mich für gesund hältst, dann breche ich Dir zusammen, ehe Du mich auffangen kannst. Falsches Lob hat schon vielen Menschen Schaden gebracht und Schutz und Schirm ihnen geraubt, wo sie sein bedurften. Der Herr ruft es laut durch den Mund des Propheten Jesaja: "Mein Volk, die dich selig preisen, verführen dich und zerstören den Weg, den du gehen sollst." Und bei Ezechiel steht das Wort des Herrn: "Weh euch, die ihr Kissen macht den Leuten unter die Arme und Pfühle zu den Häuptern, beiden, Jungen und Alten, die Seelen zu fangen!" Dagegen spricht der Herr durch den Mund Salomos: "Die Worte der Weisen sind Spieße und tief eingeschlagene Nägel." Das bedeutet: Die Worte der Weisen dürfen nicht bloß sanft berühren, sondern sollen tiefe Wunden reißen. Höre also bitte auf, mich zu rühmen, sonst könnte man Dir niedrige Schmeichelei vorwerfen und Dich der Lüge zeihen. Wenn Du wirklich etwas Gutes an mir zu sehen glaubst und Du rühmst es, - dass nur nicht der Wind der Eitelkeit es verwehe! Kein erfahrener Arzt beurteilt eine innere Erkrankung nach dem äußeren Augenschein. Was den Verworfenen so gut wie den Erwählten eignet, hat vor Gottes Auge keinerlei Wert. Und das sind gerade die äußerlichen Werke; in ihnen ist kein Heiliger so eifrig, wie es die Heuchler sind. "Es ist das Herz ein trotzig Ding, wer kann es erforschen und wer ergründen?" Und: "Es gefällt manchem ein Weg wohl; aber endlich bringt er ihn zum Tode." Es ist leichtfertig von Menschen, über Dinge zu urteilen, die Gott sich zur Prüfung vorbehalten. Daher steht auch geschrieben: "Du sollst den Menschen nicht rühmen, dieweil er noch lebet!" Du sollst ihn also so lange nicht rühmen, solange Du ihm durch Dein Rühmen seinen Ruhm nehmen kannst. Dein Lob ist mir lieb, aber es ist für mich gefährlich; ich lasse mich verlocken, ich lasse mir damit schmeicheln, da ich Dir in allem gefallen möchte. Ängstliche Sorge musst Du um mich haben, nicht darfst Du auf mich bauen, um mich durch Deine sorgende Hilfe zu stützen. Und jetzt musst Du Dich gerade ganz besonders um mich sorgen, da meine Sinnlichkeit bei Dir keine Befriedigung mehr finden kann. 

Darum bitte, bitte, kein Aufruf zur Tugend; rufe mich nicht in die Schranken zum Turnier mit dem Wort der Heiligen Schrift: "Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig" und: "Er wird doch nicht gekrönt, er kämpfet denn recht!" Ich suche diese Siegeskrone gar nicht, ich bin es zufrieden, der Gefahr zu entgehen; einer Gefahr aus dem Wege zu gehen ist sicherer als den Kampf aufzunehmen. Gott mag mir in irgendeinem Winkel seines Himmels ein Plätzchen anweisen, ich will damit zufrieden sein. Denn dort wird kein Mensch den anderen beneiden, ein jeder lässt sich mit dem genügen, das er hat. So ist mein fernerer Lebensplan. Ich will eine Autorität anführen, ihn zu unterstützen; der selige Hieronymus sagt: "Ich gestehe meine Schwachheit ein; ich will nicht in der Hoffnung auf Sieg kämpfen, um nicht den Sieg zu verlieren." Sollte ich Sicheres aufgeben, um Unsicherem nachzujagen?


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