Saint-Gildas-en-Rhuys

ÜbersichtsplanSaint-Gildas-en-Rhuys liegt auf der Halbinsel Rhuys am Golf von Morbihan. Inmitten der Ferienkolonien liegt der kleine Ortskern mit seiner sehenswerten romanischen Kirche. Sie ist der einzige Überrest der Abtei, in der einst Abaelard als Abt einsame Jahre verbrachte. Im Sommer scharen sich Massen von Sommerfrischlern um das sehr schöne Heiligtum, das seine nüchterne Architektur und seine herrlichen Kapitelle aus der Zeit Abaelards bewahrt hat.

 

Geschichte

Golf von Morbihan und Halbinsel RhuysSaint-Gildas gilt als das älteste und ehrwürdigste Kloster der Bretagne. Der Tradition nach soll der aus dem schottischen Arcluid - heute Dumbarton - stammende Heilige Gildas, 494-570, das Kloster gegründet haben. Damals - vom 4. bis 6. Jahrhundert - ließen sich viele Inselbretonen auf der Halbinsel Armorica nieder, nachdem sie aus ihrer angestammten Heimat in Cornwall, Devon, Schottland und Wales von den Sachsen vertrieben worden waren.

Der Sage nach war Gildas ein asketisch lebender Mann: Nur dreimal in der Woche soll er feste Nahrung zu sich genommen haben. Im Jahre 519 zum Priester geweiht, wurde er alsbald als hinreißender Prediger bekannt. Nach einer Pilgerfahrt nach Rom ließ er sich zunächst auf der Île d'Houat vor der bretonischen Küste als Eremit nieder. Seine Einsiedelei gründete er in einem kleinen Taleinschnitt namens Lenn-er-Houet, d. h. Waldteich. Bald geriet er wegen seiner Frömmigkeit in den Ruf großer Heiligkeit und er scharte zahlreiche Anhänger und Schüler um sich. Als seine Unterkünfte nicht mehr ausreichten, begab sich Gildas auf das Festland und gründete auf der Halbinsel Rhuys das besagte Kloster. Man schrieb damals das Jahr 528. Die Vita des Heiligen Gildas, die zahlreiche Wunderbeschreibungen enthält, ist bis in unsere Zeit erhalten geblieben: Gildae Vita et Translatio [1]

Saint-Gildas-en-Rhuys - Dorf und KlosterNach anderen Quellen wird als Gründungsdatum des Klosters das Jahr 536 angenommen. Die Abtei soll auf den Überresten eines römischen Oppidums errichtet worden sein. Sie erfuhr raschen Aufschwung und übernahm im Jahre 818 die benediktinische Regel. Im 10. Jahrhundert soll der Konvent einige hundert Mönche umfasst haben.

Doch während der normannischen Invasion wurden die Klostergemeinschaft schwer getroffen. Die Konventsgebäude wurden völlig zerstört und die Mönche vertrieben. Kaoc, Abt von Rhuys, flüchtete sich im Jahre 919 mit den Reliquien des Heiligen Gildas bis ins Berry, wo er eine Tochterabtei gründete.

Auf Bitten des Herzogs der Bretagne, Gottfrieds I., machte sich ein Mönch der Abtei Saint-Benoît an der Loire namens Felix zusammen mit sechs Begleitern an den Wiederaufbau. Von 1008 bis 1032 baute man an der neuen Abbaziale; am 30. September 1032 erfolgte die feierliche Einweihung durch Judicaël, Bischof von Vannes und Bruder des bretonischen Herzogs. Felix ließ die Reliquien das Heiligen Gildas aus dem Berry zurückholen, ehe er um 1038 verstarb. Die romanischen Bauteile der Kirche, die heute noch existieren, gehören jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu Felix' Bau. Sie datieren etwas später, vom Ende des 11. und Anfang des 12. Jahrhundert - also kurz, bevor Saint-Gildas zum literarischen Ort wurde.

Gemeint ist die Schilderung der Abtei durch Peter Abaelard in der Historia Calamitatum, seiner Autobiographie:

Im Jahre 1128 wurde der berühmte Philosoph und Theologe zum Abt von Saint-Gildas gewählt. Damals hatte die Abtei einen gewissen Niedergang erfahren, wie aus seiner Feder zu erfahren ist. Näheres hierzu findet sich unter: Die Mönche von Saint-Gildas.

Wie war die Wahl Abaelards zum Abt dieses Klosters zustande gekommen? Wir wissen nichts Genaues: Um das Jahr 1128 herum war Abt Heribert gestorben. Die Klosterreform des 11. und 12. Jahrhunderts hatte das Kloster damals noch nicht erreicht. Mit Zustimmung Herzog Conans III., des Dicken, 1112-1148, wählten die Mönche Abaelard zu seinem Nachfolger. Vermutlich gab der Fürst seine Unterstützung, um durch die Repatriierung des zwischenzeitlich berühmt gewordenen Klerikers den beschädigten Ruf des Klosters wieder zu heben. Obwohl Abaelard zuvor schon einige Jahre in der Einöde des Paraklet zugebracht hatte, war er formell immer noch Mitglied des Konvents von Saint-Denis bei Paris. Abt Suger von Saint-Denis muss Abaelard von dem Verbot, in ein anderes Kloster einzutreten, entbunden haben - unter welchen Umständen und auf welcher Leute Einfluss hin, ist unbekannt. Er war vermutlich froh, dass sich dieser unruhige Geist aus Franzien entfernte. Allerdings war die Wahl Abaelards kaum wegen seines Rufs als Lehrer erfolgt. Er sprach ja nachgewiesenerweise nicht einmal die Landessprache - dieses uralte Idiom der vormaligen Inselbretonen, das sich fundamental vom romanisch beeinflussten poitevinischen Dialekt seiner Heimat Le Pallet südlich der Loire unterschied. Auch sein strenges Mönchtum dürfte kaum für die Wahl Ausschlag gebend gewesen sein, denn seine vorherige Liebesaffäre mit Heloïsa war selbst den Bretonen von Saint-Gildas nicht ganz entgangen. So wurde er vielleicht sogar bewusst vom Kapitel des Konvents gewählt, weil man die Hoffnung hegte, unter einem Abt Abaelard, der als Kleriker seine Schülerin verführt hatte, weiterhin das gewohnte, lose und promiske Leben führen zu können.

Petrus Abaelardus sancti Gildasii abbas - Urkunde Conans III., 15.3.1128, Abtei Notre-Dame du Ronceray d'AngersAbaelard hatte sichtlich keinen Erfolg bei seinen Mitbrüdern; er scheiterte an der praktischen Klosterführung - so wie er schon zuvor im Paraklet gescheitert war - und entging sogar nur mit Mühe den Mordanschlägen seiner Mönche. Um 1132/1133 musste er wahrscheinlich endgültig aus Saint-Gildas fliehen. Wenig später wurde er der Geschichte dann wieder als Lehrer auf dem Genovevaberg in Paris bekannt.

Sein Nachfolger in Saint-Gildas hieß Wilhelm. Dieser wurde erst nach Abaelards Tod im Jahre 1142 ordiniert, da der Philosoph im Mönchsgewand seinen Titel zuvor nicht abgelegt hatte. Dafür spricht ein Kalendereintrag im Chronicon Ruyensis - einer um 1179 verfassten Chronik, welche in der Neuzeit in der Dombibliothek von Nantes wieder aufgefunden worden war:

MCXLI. Petrus Abaelardus abbas S. Gildasii Ruyensis moritur. Ordinatio Guillelmi abbatis... Jahr 1141 [alte Zeitrechnung]. Peter Abaelard, der Abt von Saint-Gildas-en-Rhuys stirbt. Ordination des Abtes Wilhelm... [2]

Stich aus dem 17. JahrhundertWenig ist von den nachfolgenden Jahrhunderten bekannt. Im Jahre 1506 wurde die Abtei zum Kommende-Gut, d.h. die Einkünfte fielen an einen Laienabt, der nur selten in der Abtei anwesend war und sich im übrigen kaum um das religiöse Leben kümmerte. Erneut kam Saint-Gildas herunter. Im Jahre 1668 zerstörte ein Blitzschlag den Glockenturm und das Dach der Abbaziale - die Abtei verfiel.

Ende des 17. Jahrhunderts kamen Mönche der Congrégation de Saint-Maur nach Saint-Gildas, restaurierten den romanischen Chor und errichteten ein neues Kirchenschiff im klassizistischen Stil. Doch Papst Clemens XIV. entzog im Jahre 1773 dem Kloster den Titel Abtei, und es blieben nicht mehr als fünf Mönche zurück. Dies war der Todesstoß für einen Konvent, welcher im Lauf seiner Geschichte fünfundzwanzig Priorate gegründet hatte. Im Jahre 1796 wurde der gesamte Klosterbesitz als Nationalgut verkauft, im Jahre 1802 die Kirche zur Pfarrkirche des Ortes erklärt.

Heutige KonventgebäudeDoch schon 1825 siedelten sich erneut Ordensleute an - nunmehr Nonnen, die Soeurs de la Charité de Saint-Louis -, nachdem Madame Molé de Champlatreux im Jahr zuvor den Konvent für 55000 Franken erworben hatte. Die Schwestern eröffneten eine Schule und ein Waisenhaus; zur Hebung der Einkünfte förderte man sogar den Tourismus. Im Jahre 1960 wurden die Schulgebäude in ein weltlich betriebenes Behindertenheim umgewandelt, welches bis in die 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts bestand. Danach wurden die Gebäude von den Nonnen wieder übernommen.

In den letzten Jahren wurde der Ort Saint-Gildas zu einer der beliebtesten Sommerfrischen Westfrankreichs. An manchen Markttagen tummeln sich einige tausend  Besucher und Feriengäste in dem kleinen Ort. An der Abteikirche gehen diese Touristenscharen allerdings meist achtlos vorüber - sehr zu Unrecht. Denn das Gotteshaus ist auch heute noch durchaus sehenswert:

 

Beschreibung

Sparrenköpfe am ChorhauptChorhaupt der ehemaligen AbbazialeDer Kirchengrundriss weist durch sein zweiarmiges Querschiff die Form eines lateinischen Kreuzes auf. In ihren alten Bestandteilen besteht die Kirche von Saint-Gildas-de-Rhuys aus Füllsteinen, das Material ist Gneis. An der Außenseite der südlichen kleinen Apsis, dem ältesten Bauteil, erkennt man Kleinquaderwerk und Fischgrätmuster, ebenso an den beiden Querschiffarmen und an der Mauer des Chors, unterhalb des Daches. Die Strebepfeiler in Großquaderwerk aus Granit reichen bis zum Dach, das auf skulptierten Kragsteinen ausläuft. Etliche von ihnen stammen aus romanischer Zeit. Man erkennt ausdrucksvolle Masken und einen Bärenführer. Ein skulptierter Stein oberhalb eines Fensters der Mittelapsis zeigt einen Kampf zwischen zwei Rittern.

Das gesamte Bauwerk setzt sich aus zwei stilistisch verschiedenen Baukörpern zusammen: Während das Schiff - wie erwähnt - aus dem späten 17. Jahrhundert (genau 1699) datiert und nur von geringer kunsthistorischer Bedeutung ist, beeindrucken der romanische Chor und das Querschiff:

Dieser wichtigste Bereich gliedert sich in drei Einzelabschnitte:

Die erhaltene südliche Apsiskapelle zeigt, dass schon seit dem Beginn des 11. Jahrhunderts der Stil der Kirchen des Loiretals auf Rhuys übernommen wurde.

Am westlichen Eingang der Kirche befand sich ein Narthex, der frappierende Ähnlichkeit mit Saint-Benoît-sur-Loire aufwies. Bei Geländearbeiten hatte man die Fundamente dieses Narthex darstellen können.

Der Chor ist mit einem Umgang versehen, der Zutritt in drei Apsiskapellen erlaubt. Dieser halbkreisförmige romanische Chor mit seinen eindrucksvollen Kapitellen ist auch heute noch so, wie Abaelard selbst ihn einst gesehen hatte. Man erinnere sich nur an die Szene, als er durch vergifteten Messwein beim Hochamt vergiftet werden sollte.

Eine kleine Apsis mit einer Halbkuppel liegt am nördlichen Querschiffarm.

Romanischer ChorumgangNeben dieser kleinen Apsis befinden sich in zwei miteinander verbunden Nischen, die durch einen Bogen tragenden Pfeiler getrennt werden, die Gräber des HeiligenFelix und des Abtes Riocus. Eine Inschrift aus dem 11. Jahrhundert ermöglicht ihre Identifikation. Ebenfalls aus dem 11. Jahrhundert stammt der Stein auf dem Grab des Heiligen Goustan, der zwei Jahre nach Felix starb. Dieser Stein liegt an der Ostmauer dess nördlichen Querschiffarmes.

Der Chor umfasst zwei rechteckige Joche mit Rundbogenarkaden, die auf kreuzförmigen Pfeilern ruhen. Den Jochen folgt ein halbkreisförmiges Chorhaupt, das vier Säulen bilden, die durch stark überhöhte Bögen verbunden sind. Über diesen Bogen verläuft eine Reihe von sieben einfach eingeschnittenen Blendarkaden.

Kapitelle am ChorumgangDer stilreine Chorumgang gilt als einer der größten romanischen Kunstschätze der Bretagne. Die Gurtbögen, die in Chorumgang das Kreuzgratgewölbe gliedern, ruhen auf der sich zum Chor öffnenden Seite auf den Kapitellen der Rundpfeiler des Chorhaupts oder auf den kreuzförmigen Pfeilern der Chorjoche und auf der Seite der Traufseitenmauer auf Wanddiensten. Jedes Joch wird durch ein innen weit ausgeschrägtes Rundbogenfenster mit doppelter Archivolte ohne Gesims oder Ecksäulen erhellt.

Hinter dem Chorumgang finden sich drei Radialkapellen, dem Heiligen Josef, der Mutter Maria und der Schmerzhaften Jungfrau geweiht. Diese Chorumgangskapellen tragen Halbkuppeln. Die mittlere Kapelle ist durch ein gerades Joch mit Tonnengewölbe verlängert. Jede dieser Kapellen hat drei einfache Fenster, eins in der Mitte und zwei an der Seite.

Der Skulpturenschmuck stammt aus verschiedenen Epochen. Die beiden Kapitelle, die die Gurtbögen des Chorumgangs beiderseits der südlichen Kapelle aufnehmen, zeigen ein archaisches Flachrelief, das eine gewisse Ähnlichkeit mit den Gravierungen auf den megalithischen Monumenten der Gegend aufweist. Diese Kapitelle könnten auf das 11. Jahrhundert zurückgehen, ebenso zwei andere, die man in Weihwasserbecken umwandelte. Sie zeigen Krummstäbe und Farnblätter, die aus einem Blattkranz hervortreten.

Romanisches Kapitell aus Saint-Gildas-en-RhuysDie beiden annähernd kubischen Kapitelle in der Nähe des Eingangs sowie einige Säulenbasen in Form von umgekehrten Kapitellen lassen sich dem Bauabschnitt zuordnen, die auf die Zerstörung des Jahres 1118 folgte, also dem ersten Viertel des 12. Jahrhunderts. Schließlich stammen die Kapitelle des Chors und des Chorumganges wahrscheinlich vom Ende des 12. Jahrhunderts mit Ausnahme der vier Kapitelle des Halbrunds.

In der Ausschmückung dominieren diverse Motive der Pflanzenwelt. Krummstäbe betonen die Ecken, wiederholen sich dabei regelmäßig, ohne eintönig zu wirken. Die Astralgale und die Abaki blieben unverziert. Masken tauchen hier und dort auf einigen Kapitellen auf. All diese Skulpturen sind sauber gearbeitet und stellen ein ausgereiftes, bedeutendes Kunstwerk dar.

Das Kapitell über dem Grab des Heiligen Felix besteht aus wahrscheinlich importiertem Kalkstein. Die Dekoration der Basen ist ebenso abwechslungsreich wie ihre Form. Meist wurden geometrische Motive verwendet.

Ein großes Retabel des 17. Jahrhunderts aus weißem Gestein nimmt die Giebelmauer des südlichen Querschiffarms ein.

Zahlreiche Gräber mit und ohne Inschrift befinden sich in der Kirche. Es handelt sich überwiegend um Gräber von Äbten oder einfachen Mönchen, wobei letztere namenlos bleiben.

Arm-Reliquiar des Heiligen GildasDer größten Schatz der Kirche sind jedoch seine wertvollen Reliquiare, die heute gegen Eintrittsgebühr in der Sakristei bewundert werden können. Durch die Verschlagenheit der ortsansässigen Bauern und Seeleute entging dieser Kirchenschatz allen Plünderungen früherer Zeiten. Die Inquisiteure der Revolution fanden ihn nicht: er blieb unentdeckt in einem Getreidespeicher des Dorfes. Man sieht u. a. eine reich ziseliertes Arm-Reliquiar aus dem 13. Jahrhundert mit den Armknochen des Heiligen Gildas, ein Kopfreliquiar mit seinem Schädel, ein Bein-Reliquiar aus dem 15. Jahrhundert mit seinem Oberschenkel und Knie. Weiterhin befinden sich hier ein wertvoller Kelch und eine Mitra aus dem 16. Jahrhundert und ein Holzschrein mit Lederüberzug. Das Zeichen der bretonischen Herzöge auf diesen Meisterwerken bezeugt die konstante Verbindung des bretonischen Herrscherhauses mit dieser einst so stolzen Abtei.

Die Einsamkeit, die Abaelard so sehr beklagt hatte, ist heute im Sommer nur schwer vorstellbar. Man muss schon trübe Regentage oder die Herbst- und Winterstürme abwarten, um in dieser flachen, kaum bewaldeten Landschaft mit ihren vereinzelt liegenden Felsen oder an den zum Teil steil aufragenden Meeresklippen diesen Eindruck von Entrückt-Sein, von Verbannung zu gewinnen, woran der Philosoph so sehr litt...

Das Land war mir fremd, die Landessprache unbekannt, die schändliche und zuchtlose Lebensweise der dortigen Mönche fast allen sattsam bekannt, die übrige Bevölkerung roh und unkultiviert... Dort, an des Ozeans donnernden Wogen, wo das Ende der Erde mir keine weitere Flucht gewährte... Abaelard, Historia Calamitatum

Ich entfernte mich aus der Abtei und hielt mich mit wenigen Getreuen in kleinen Zellen auf... Abaelard, Historia Calamitatum

 

Aus dem Reisetagebuch

Kap von Saint-GildasAls wir an diesem sonnigen Urlaubstag in das Städtchen Saint-Gildas-en-Rhuys am Golf von Morbihan einfahren, durchfluten große Mengen von Urlaubern den Ort, in dem gerade Markttag abgehalten wird. Saint-Gildas liegt inmitten einer großen Ferienkolonie am Atlantik. Es ist Hauptsaison. Die malerischen, mit den Spezialitäten der Region beladenen Marktstände gruppieren sich unmittelbar um die Abteikirche des Heiligen Gildas. Sie ist der einzige Überrest der alten bretonischen Abtei, in der Peter Abaelard in der Rolle des Abtes wirkte und litt. Wir betreten den aus mehreren Baukörpern unterschiedlicher Epochen bestehenden Kirchenbau, der in der angebauten Sakristei den wertvollen Reliquiarschatz des Klostergründers, des Heiligen Gildas, birgt, welcher im 6. Jahrhundert nach Christus gelebt hatte. Der Schatz hatte die Zerstörungen und Plünderungen aller Zeiten überstanden - dank listiger Bauern, die ihn vor Dieben und Plünderern immer wieder versteckt hatten. Ebenfalls unbeschadet blieb der romanische Chorraum der Kirche, der die Grabplatten vieler Kap von Saint-GildasÄbte und eines regionalen Heiligen, des Heiligen Goustan, enthält. Dieser Chorraum datiert ins frühe 11. Jahrhundert zurück, also in die Zeit vor Abaelard. Kurz danach war das Klosterleben im Verfall begriffen; Abaelard prangerte die Verkommenheit der Mönche an. In diesem Chorraum - an der Stelle des vormaligen Hauptaltars - entkam er nur mit viel Glück einem Mordanschlag seiner Mitbrüder, die ihm Gift in den Kelch gemischt hatten. An die in Abaelards Leidensgeschichte geschilderte schreckliche Atmosphäre erinnern allenfalls in Stein gemeißelte Fratzenköpfe - Sparrenköpfe, die außen das Chorhaupt umsäumen. Nach Abaelard ist eine Straße des Ortes benannt. Bei Nachfragen im örtlichen Touristenbüro und bei der Hüterin des Reliquiarschatzes erhalten wir keine weiteren Informationen über ihn. Vielleicht geschieht dies nicht zu unrecht - hatte Abaelard doch in seinen Schilderungen an diesem Ort kein gutes Haar gelassen. Anschließend fahren wir hinaus auf das dem Städtchen vorgelagerte Kap, das einen weiten Blick auf den Atlantik und die Halbinsel Rhuys bietet. Wie oft wird wohl Abaelard an diesem Ort, den heute ein Steinkreuz ziert, in tiefer Verzweiflung und Verlassenheit gestanden haben? Meine Spaziergänge führen an das unwegsame Ufer eines stürmischen Meeres..., so schrieb er. Fünf einsame Jahre, etwa von 1128 bis 1133, soll er hier verbracht haben. Es fällt schwer, sich an diesem schönen Sommertag die düsteren Szenen, die sich vielleicht zur Zeit der Herbst- und Frühjahrsstürme abgespielt haben, vorzustellen...  

  Werner Robl, Reise in die Bretagne, Sommer 1998

[1] Veröffentlicht von Lot, F., Mélanges d'histoire bretonne, Paris 1907, Seiten 431ff.
[2] Zitiert aus Delisle Léopold et al. (ed.), Recueil des historiens des Gaules et de la France, Tomi XII, XIV, Paris, ab 1877.


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