Reisebericht

Eckturm des Gutshofes mit Wegweiser zum vormaligen Abteiarealhinter dem GutshofNoch vor Sonnenaufgang sind wir von Troyes aufgebrochen. Unsere Fahrt durch die aufsteigenden Morgennebel führt uns nach Nordwesten, in jenen entlegenen Landstrich im Herzen Frankreichs, in den sich vor fast 900 Jahren Peter Abaelard vor den Nachstellungen seiner Feinde geflüchtet hatte. Wenngleich heute die Spuren der Zivilisation nicht zu übersehen sind, spiegelt die von sanften Bodenwellen gekennzeichnete Landschaft und die Weite der abgeernteten, den kahlen, hellgrauen Boden preisgebenden Felder den Eindruck großer Verlassenheit wieder. Gelegentlich am Weg liegende Weiler und kleine Ortschaften liegen noch im Schlaf. Ca. zehn Kilometer vor Nogent-sur-Seine senkt sich die einsame Landstraße in das Grün einer flachen Flußaue. Maisfelder, Buschwerk und vereinzelte Baumbestände wechseln sich ab. Das Flüsschen Ardusson ist ein südlicher Nebenfluss der hinter dem Horizont fließenden Seine. Hier, in diesem Tal, hatte Abaelard im Jahre 1123 als Eremit ein kleines Bethaus erbaut und ihm den Namen Paraklet, d. h. Tröster, gegeben. Später trug diesen Namen auch das Kloster Heloïsas an eben derselben Stelle. Diesen denkwürdigen Ort kündigt uns ein kleines Straßenschild an: Le Paraclet. Dahinter erblickt man zur Rechten die relativ trutzigen und nur grob verputzten Mauern eines großen landwirtschaftlichen Gutshofes von mittelalterlichem Gepränge. Das großzügige Ensemble von Mauern, Scheunen und Ställen, die markant gerundeten Ecktürme geben ein recht anschauliches Bild davon wieder, wie das in den Wirren der französischen Revolution aufgelöste Paraklet-Kloster einmal ausgesehen haben mag. Äbtissinnenhaus aus dem 17. Jahrhundert Das Haupttor ist verschlossen, und L'obelisque d'Heloïse et d'Abélardso biegen wir nach dem letzten Eckturm nach rechts in einen von Alleebäumen gesäumten Feldweg ab, der hinunter zum Ardusson führt. Hinter dem fast quadratischen Gutsareal erblickt man zur Rechten ein weiteres, ebenfalls verschlossenes Tor aus Schmiedeeisen, das in einen weitläufigen Park zwischen Gutshof und Fluss weist. Daneben entdecken wir eine kleine Tafel, auf der ein Blatt Papier in einer Klarsichthülle angeschlagen ist. Es beschreibt mit kurzen Worten den historischen Ort. Stundenweise könne man gegen eine geringe Gebühr das Areal des Paraklet besuchen: Den Park, den Cellier aux Moines, das Grabgewölbe und den Obelisk von Heloïsa und Abaelard. Weit und breit ist keine Menschenseele zu erblicken; es ist noch viel zu früh für eine offizielle Besichtigung und die Zeit drängt. Kurzerhand umgehe ich das Tor durch den farnbestandenen, aber trockenen Graben und erforsche den Park auf eigene Faust. Zur Linken öffnet sich der Park. Hier liegt im Morgenlicht das stattliche Gutshaus aus dem 18. Jahrhundert, aus den Überresten des Maison Abbatiale, des Hauses der letzten Cellier aux Moines - frühmittelalterliches BauwerkÄbtissin, erbaut. Die Läden sind verschlossen, offenkundig ist es derzeit nicht bewohnt. Nach rechts liegen die Rückgebäude des dort offenen Gutshofes, Basse Cour, unter anderem ein altes Backhaus und der Cellier aux Moines. Verbellt von einem Hofhund, verzichte ich auf ein Betreten und begebe mich in den vor mir liegenden kleinen Hain, der zwischen den Gebäuden liegt und sich bis zum Ardusson erstreckt. Darin findet sich eine verschlossene kleine Steinkapelle, die sicher nicht aus der Zeit Abaelards stammt: ein Nachfolgebau auf der Fläche der vormaligen Abteikirche, wohl in der Nähe des ersten, von Abaelard gegründeten Oratoriums. Ardusson Die vor der Eingangstür am Boden platzierten, verwitterten Kapitellsteine sind mit Sicherheit wesentlich älter als die Kapelle selbst - möglicherweise Bauteile aus Heloïsas Kloster, vielleicht aus dem Kreuzgang? Unmittelbar dahinter, zwischen Farnkraut im Waldesdunkel liegend, erinnert eine Stele an Heloïsa und Abaelard. Kennzeichnet sie die vormalige Grabstätte? Bei einem daneben liegenden und teilweise verschütteten Gewölbe handelt es sich möglicherweise um die einstige GTaubenturm aus dem 12. Jahrhundertrabesgruft der beiden Liebenden, die im Jahre 1792 exhumiert und in die Stadtkirche von Nogent-sur-Seine überführt worden waren. Ich schließe die Augen und versuche eine innere Vorstellung davon zu gewinnen, welche herz- und weltbewegenden Dinge sich hier vor Jahrhunderten abgespielt haben. Die Morgenkühle, das leise Rauschen, das vom Ardusson herüberklingt, der wie zu Abaelards Zeiten das Baum- und Buschwerk durchfließt, die Düsternis des Wäldchens, das erst von den ersten Sonnenstrahlen durchdrungen wird - all das entschädigt für die fehlenden genauen Informationen über den Werdegang des Klosters. Ob die heutigen Inhaber des Gutes und des Herrenhauses nach den Jahrhunderten des Niederganges überhaupt noch etwas von den berühmten Vorbesitzern wissen? Ich beschließe, mich demnächst etwas genauer über den Ort kundig zu machen, halte die eben gewonnenen Eindrücke mit der Kamera fest und verlasse unbehelligt den Park auf demselben Wege, auf dem ich hergekommen bin. Nachdenklich fahren wir weiter, in einen neuen Tag... Werner Robl, Reise in die Bretagne, August 1998


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