Laon - Abaelards Kontroverse mit Anselm

© Dr. Werner Robl, Neustadt an der Waldnaab, Mai 2002

Diorama von LaonWie eine Akropolis blickt die alte Stadt, heute Präfektur des Departement Aisne, von einem mehr als 100 Meter hohen Kalksockel in die fruchtbare Ebene hinab. Diese gut zu verteidigende Lage bewog die Karolinger-Herrscher - von Karl dem Kahlen (843) bis Ludwig V. (987) - Laon, das einst Laudunum hieß, zur Hauptstadt des Westfränkischen Reiches zu machen. Erst mit der Wahl Hugo Capets, des Herzogs von Franzien, wurde die Stadt in die Krondomäne integriert und von Paris in der Rolle als Hauptstadt abgelöst. Schon zwischen 497 und 511 war Laon als Bischofssitz vom Lokalheiligen Remigius gegründet worden. Im Lauf der Zeit wurde es von einigen Vorstädten im Tal und an den Bergflanken umgeben, z.B. Vaux und Saint-Marcel, Semillay und Leuilly. In der eigentlichen civitas - von einer Stadtmauer umgeben - entstand zur Zeit der Karolinger eine erste romanische Kathedrale, welche einen merowingischen Vorgängerbau ersetzte und zusammen mit dem Kanoniker-Viertel im Nordosten des Kalksteinplateaus lag, während sich im Süden das Königspalais und die Abtei Saint-Jean platzierten. Am Ende des 11. Jahrhunderts zählte die Stadt zusammen mit den Vororten bereits etwa 10.000 Bewohner, wovon zwei Drittel in der Oberstadt wohnten. Die unbestreitbare Bedeutung der Stadt zur damaligen Zeit manifestiert sich auch durch das Wirken der irischen Mönche, durch den Ruf der Kathedralschule und die bedeutende Arbeit der Skriptorien von Saint-Vincent und Saint-Jean.

 

Die Aufstände von 1112 bis 1115

 

Der Dom von Laon - 2002

Der Bischof von Laon war seit dem 6. Jahrhundert der mächtigste Feudalherr der Region. In Personalunion Graf des Laonnois, herrschte er über mehr als zwanzig Ortschaften der Umgebung. Stellvertretergewalt hatte der Vizedom, der alle Geschäfte für den Bischof führte. In der Stadt selbst war die weltliche Macht des Bischofs durch Statuten eingeschränkt. Faktisch teilte er sich die Macht mit dem König, der über etliche Liegenschaften und Rechte im Ort verfügte.

Als Peter Abaelard um 1113 für kurze Zeit nach Laon ging, um an der dortigen Domschule Theologie zu studieren, glich die Stadt einem Pulverfass. Die politische Lage war so instabil, dass selbst wehrhafte Leute sich kaum ohne Eskorte in die Stadt trauten. Eigentümlicherweise erwähnte der Philosoph in seiner Historia Calamitatum kein Wort von dieser Gefährdung. Er erweckte damit zunächst den Eindruck der politischen Unbekümmertheit, welche ihn auch bei anderer Gelegenheit gekennzeichnet hatte.

Was war in Laon vorgefallen?

Im Jahre 1106 wurde der aus einer örtlichen Adelsfamilie stammende Walderich, der bereits vorher Kanzler und Kaplan des Königs von England gewesen war, auf Betreiben des französischen Königs Philipp I. gegen den Kandidaten des Domkapitels zum Bischof von Laon gewählt. Nach der Lebensbeschreibung des Abtes Guibert von Nogent, der die Vorkommnisse ausführlich kommentierte, hatte sich König Philipp durch diese Wahl Unterstützung bei der Anerkennung seiner illegitimen Heirat mit Bertrada von Montfort erhofft. Hierzu und zu den folgenden Ereignissen siehe: Guibert von Nogent, De vita sua sive monodiarum libri tres, Liber III, geschrieben zwischen 1114-1117.

Bereits damals hatte sich Meister Anselm, Dekan am Dom und renommierter Leiter der Domschule, dieser Wahl widersetzt -allerdings ohne großen Nachdruck. Trotz simonistischer Einflussnahme - es flossen Zahlungen an diverse Leute - wurde die Bischofswahl von Papst Paschalis II. schließlich für rechtmäßig erklärt.

Kreuzgang am Dom von Laon - Kanonikerviertel - 2002Im Jahre 1112 ließ Bischof Walderich in Folge einer persönlichen Auseinandersetzung - unter Bruch des Gottesfriedens - einen innenpolitischen Feind, den Kastellan des benachbarten Nonnenkonvents Saint-Jean, Gerard von Quierzy, in der Kathedrale ermorden. Geschickt hatte er selbst durch eine Reise nach Rom jeden Verdacht von sich abgelenkt. Hinter den Anschlägen stand neben dem Bischof eine ganze Verschwörergruppe, darunter auch die beiden Archidiakone Walter und Guido. Ivo, der Gouverneur des Königs, ließ mit Hilfe einer bewaffneten Garde, die zur Abtei Saint-Jean gehörte, die unmittelbaren Täter aus der Stadt vertreiben und ihren Besitz konfiszieren und brandschatzen.

Spätestens von diesem Augenblick an zerfiel die Einwohnerschaft von Laon in konkurrierende Lager. Der Riss zog sich quer durch den Klerus, den lokalen Adel und die gesamte Bürgerschaft.

Auf Bitten des Dekan Anselm, der damals die einzige, wirklich unumstrittene moralische Autorität in der Stadt darstellte, predigte der oben erwähnte Abt Guibert öffentlich gegen die Mörder und forderte ihre Exkommunikation - mit der einzigen Folge, in den nächsten Wochen und Monaten selbst um sein Leben fürchten zu müssen. Als Bischof Walderich schließlich aus Rom nach Laon zurückkehrte, verzögerte er nicht nur geschickt das Interdikt gegen die Mörder, seine Sympathisanten, sondern belegte sogar unverfroren die Rächer des Mordes ihrerseits mit dem Bann. König Ludwig VI. wiederum hatte schon zuvor den Bischof der Mittäterschaft verdächtigt und kurzerhand alle Lebensmittelvorräte im Bischofspalast durch seine Schergen konfiszieren lassen. Diese Aktionen der verfeindeten politischen Lager destabilisierten die Stadt derart, dass von nun an kein Händler, kein Handwerker, kein Besucher mehr seines Hab und Guts sicher sein konnte. Es kam zu ständigen Übergriffen, zu Raub und Mord.

Der Dom von LaonDeshalb hatte unmittelbar vor der Rückkehr des Bischofs ein Großteil der Bürgerschaft, unterstützt von Teilen des unabhängigen Klerus, eine erste "Kommune" in Laon gegründet - entsprechend Vorbildern in Noyon oder Saint-Quentin. Darunter war nicht eine bürgerliche Gemeinde moderner Prägung zu verstehen. Es handelte sich in erster Linie um ein Schutzbündnis, um einen Beistandspakt. Die "Kommune" fungierte als juristische Körperschaft reicher Kaufleute und einflussreicher Stadtaristokraten. Die Eidgenossenschaft schrieb u. a. vor, den städtischen Frieden zu wahren, sich im Bedarfsfall gegenseitig zu verteidigen. Man regelte außerdem den Immobilienbesitz, Handel und Verkehr und lockerte den Status der Unfreien. Die getroffenen Vereinbarungen wurden durch einen Freibrief im Jahre 1111 schriftlich besiegelt.

Bischof und König willigten zunächst in den Vertrag ein, weil ihnen trotz des Machtverlustes - Teile der Judikative und Administrative gingen nun auf einen Stadtrat über - aus dieser Gründung gewisse finanzielle Vorteile erwuchsen. Der Bischof gab sich jedoch mit den vereinbarten Einnahmen nicht zufrieden. Inzwischen hatte er auch um Unterstützung beim englischen König nachgesucht und sich mit einer scharf bewaffneten Leibgarde umgeben. Im Folgenden versuchte er, die "Kommune" dadurch zu usurpieren, indem er die Handwerker und Kaufleute von Laon finanziell immer mehr schröpfte. So ließ er die Naturalien und Handelswaren mit äußerst minderwertigem Geld, welches in der bischöflichen Münze geschlagen wurde, unterwertig vergelten. Damit ruinierte er so manchen reichen Mann binnen kurzer Zeit. Als er auch noch Mitglieder des örtlichen Adels ohne rechtmäßiges Urteil inhaftieren und foltern ließ, heizte er die Stimmung zunehmend auf. Auf die Antipathie der Bürger reagierte er also mit Gegenterror. Bischof Walderich führte gerade noch mit dem König Geheimverhandlungen, als aus Rom seine Absetzungsurkunde eintraf. Aus Rache hob der Bischof an den Passionstagen des Jahres 1112 kurzerhand die "Kommune" von Laon auf. Damit brachte er das Pulverfass zum Explodieren.

Blick von Bischofspalast zum DomDie aufgebrachten Bürger verbarrikadierten ihre Geschäfte und Häuser und rotteten sich zusammen. Dekan Anselm warnte noch den Bischof davor, seine Residenz zu verlassen. Ein bis an die Zähne bewaffnetes Freischärlercorps eröffnete am 25. April 1112 unter den Rufen "Kommune, Kommune" den Bürgerkrieg und rückte ins Domviertel ein: Als erstes fiel der Kastellan Guinimon unter den wütenden Hieben der Streitäxte. Anschließend wurde Vizedom Ado, der sich noch kurz zuvor unter bewegenden Worten von seiner Frau verabschiedet hatte, persönlich angegriffen. Er zog sich in seine Amtsräume zurück, postierte sich auf einem Tisch und verteidigte sich so wütend und tapfer, dass er allein das Vorrücken des Mobs um Einiges verhinderte. Dennoch brach er schließlich - von tödlichen Verwundungen getroffen - zusammen. Die Aufrührer durchkämmten nun das Gelände, doch Bischof Walderich war nirgends aufzufinden: Er hatte sich in den Gewölben des Doms in einem vorbereiteten Fass versteckt. Durch Verrat eines seiner Leute kam man ihm schließlich auf die Schliche. Er wurde ans Tageslicht gezerrt und ebenfalls mit der Streitaxt erschlagen. Seinen nackten und vielfach verstümmelten Leichnam ließ man unbeachtet im Domhof liegen. Der anschließenden Brandschatzung fielen der Bischofspalast und viele Kanonikerhäuser - vor allem die Anwesen der Archidiakone -, aber auch Teile des Doms selbst zum Opfer. Viele Kanoniker und andere Leute von Einfluss verloren ihr Leben - aber auch etliche Unschuldige.

Meister Anselm von der Domschule überstand das Pogrom unbeschadet; er hatte sich erfolgreich versteckt. Am nächsten Tag war das Morden, Plündern und Brandschatzen zu Ende: Der Aufstand brach so rasch in sich zusammen, wie er entstanden war. Die Täter fürchteten nun die Rache des Königs und das päpstliche Anathem zugleich. Betreten ging man an die Bestattung der Toten; sie wurden überwiegend in der Abtei Saint-Vincent in die Erde gelegt. Wenig später begann der Wiederaufbau des geschändeten Doms. Erzbischof Radulf von Reims kam nach einigen Monaten zur erneuten Weihe.

 

Peter Abaelard und Anselm von Laon

 

Genau zu dieser Zeit traf Peter Abaelard in Laon ein.

Die größte Autorität auf diesem Gebiete besaß jedoch seit langer Zeit der Lehrer Anselm von Laon. Ich besuchte also die Schule dieses alten Mannes...
Wenn man sich die eben geschilderten Ereignisse vergegenwärtigt, muss man sich in der Tat fragen, warum Peter Abaelard in der Historia Calamitatum lediglich seine fachtheologische Auseinandersetzung mit Dekan Anselm verbalisierte, zu allen anderen Vorgängen der Stadt jedoch schwieg. Sein Aufenthalt in Laon war auf jeden Fall nicht ungefährlich, und dennoch scheute er nicht öffentliche Auseinandersetzungen. Doch dies lag vermutlich ganz in seinem Kalkül:

Der Parvis Notre-Dame von LaonIm Kapitel 14 des 3. Buches seiner Autobiographie gab Abt Guibert von Nogent den wertvollen Hinweis, dass genau zu diesem Zeitpunkt der heimliche Gönner Abaelards, Kanzler Stephan von Garlande, massiv Einfluss auf die Geschicke der Stadt Laon nahm - insbesondere, was die Neubesetzung des Bischofsstuhls anbelangte. Stephan von Garlande war ein politisches Schwergewicht und gerade damals am Gipfel seiner Macht: In Personalunion Kanzler des Königs und Archidiakon von Paris sowie Dekan von Sainte-Geneviève, hatte er vor, seine Machtsphäre auch auf die südlichen Regionen der Krondomäne auszuweiten. Dazu gab ihm die Sedisvakanz von Laon willkommenen Anlass. Stephan machte sich dafür stark, dass Hugo, Magister und Dekan am Dom Sainte-Croix von Orléans, zum neuen Bischof von Laon konsekriert wurde. Abt Guibert erklärte dieses Interesse damit, dass der Kanzler seinerseits auf dass Dekanat von Orléans aus war, was er in Folge auch wirklich erhielt. Es ist durchaus denkbar, ja sogar wahrscheinlich, dass Stephan von Garlande, der Abaelard auch bei anderer Gelegenheit persönlich unterstützte, diesen nach Laon geschickt hatte - mit dem Auftrag, den berühmten Anselm in seiner Autorität coram publico zu untergraben. Für diesen Freundesdienst mag er ihm den Dialektik-Lehrstuhl von Paris, der seit dem Weggang Wilhelms von Champeaux nach Châlons-sur-Marne verwaist war, als Belohnung in Aussicht gestellt haben. Abaelard selbst hatte ja in der Historia Calamitatum erwähnt, dass dieser Lehrstuhl für ihn reserviert gewesen sei:

So kehrte ich denn auch nach wenigen Tagen nach Paris zurück und nahm dort den mir schon längst bestimmten und angebotenen Lehrstuhl ein...
Es fällt auf, wie unbekümmert Abaelard in Laon die Konfrontation mit Anselm und seinen Anhängern suchte. Vor dem geschilderten Hintergrund hatte er dort offensichtlich nicht viel zu verlieren. Dass ein Ränkespiel Kanzler Stephans seine Aktivitäten in Laon beeinflusste, musste er natürlich in der Historia Calamitatum tunlichst vgerschweigen. So rechtfertigte er seine Abneigung gegenüber Anselm mit dessen fehlenden wissenschaftlichen Qualitäten:
Das Feuer, das er entzündete, füllte sein Haus nur mit Rauch, anstatt es zu erleuchten. Er glich einem Baum, der in seinem Blätterschmuck, wenn man ihn von weitem anschaute, stattlich aussah, und dennoch, wenn man sich näherte und ihn genauer betrachtete, sich als unfruchtbar erwies... Nachdem ich dies herausgefunden hatte, blieb ich nicht mehr viele Tage müßig in seinem Schatten liegen...
Rosette in Dom von LaonDie Rede war immerhin vom berühmtesten Theologen der Epoche. Anselm, 1050-1117, hatte sich als Dekan und Kanzler des Domes von Laon, mehr aber noch als Lehrer der Theologie und Leiter der Domschule, die er zusammen mit seinem Bruder Radulf führte, einen herausragenden Ruf erworben. Der Schwerpunkt seiner theologischen Tätigkeit lag in der Glossierung des Alten und Neuen Testamentes und in der Dogmatik, insbesondere in der Kompilation von Sentenzen-Sammlungen. Philosophisch vertrat er wie sein bereits verstorbener Schüler Wilhelm von Champeaux einen gemäßigten Realismus. Schon zuvor - von 1076 bis ca. 1096 - hatte er in Paris als der führende Magister gewirkt. Allein wegen seines Rufes strömten auch noch Studenten nach Laon, als die politische Lage bereits sehr unsicher geworden war.

Inwieweit kam es Kanzler Stephan von Garlande zugute, wenn nun der junge und ehrgeizige Peter Abaelard Anselm von Laon öffentlich blamierte, indem er konkurrierend Vorlesungen hielt?

Nun - damit verhinderte man am Geschicktesten eine Kandidatur Anselms um den vakanten Bischofssitz von Laon. Selbst wenn Anselm sich nicht nach diesem Posten drängte -der Ruf nach einem unbescholtenen, bei der gesamten Bürgerschaft anerkannten und gut beleumundeten Mann war vermutlich unter der Bürgerschaft und dem Klerus von Laon nie so laut wie damals. Eine Wahl Anselms zum neuen Bischof durch das Domkapitel dürfte somit nur eine Frage der Zeit gewesen sein. Wenn nun entgegen dieser Stimmung die Ernennung des vom Kapitel nicht gewählten Bischofs Hugo aus dem Süden der Krondomäne von statten gehen sollte, so war dies klaglos am ehesten möglich, wenn Anselm in seiner Autorität als Lehrer der Theologie öffentlich untergraben wurde. Und genau dies tat Peter Abaelard, wie an seinen ätzenden Bemerkungen zu erkennen ist.

Schon nach kurzer Zeit provozierte er seine Kommilitonen, indem er die von ihm bereits früher akquirierten Methoden der Dialektik auf die Behandlung von Glaubenswahrheiten anwandte. Bei der Auslegung einer besonders schwierigen Stelle des Propheten Ezechiel brillierte er derart, dass er in kurzer Zeit auch ohne Genehmigung des Domkapitels einen nicht unbeträchtlichen Hörerkreis um sich versammeln konnte.

Einige seiner bedeutendsten Schüler waren nun darüber empört, dass ich zum Verächter eines solchen Meisters würde. Daher brachten sie ihn heimlich gegen mich auf und machten mich durch üble Verleumdungen bei ihm verhasst... Einer meiner Mitschüler fragte mich in der Absicht, mir eine Falle zu stellen, was ich vom Lesen der Heiligen Schrift halte. Ich, der ich bis jetzt nur weltliche Wissenschaft getrieben hatte, antwortete, dass es kein heilsameres Studium gebe als das der Bibel.. Man fragte mich, ob ich mir zutraue und dazu fähig sei, eine Auslegung in Angriff zu nehmen... Sie einigten sich nun auf ein höchst dunkles Kapitel des Propheten Ezechiel; ich nahm den Ausleger an und lud sie schon auf den folgenden Tag zu einer Vorlesung ein... Zu meiner ersten Vorlesung fanden sich nun allerdings nur wenige ein; den meisten erschien es lächerlich, dass ich - bisher ganz unbewandert im Studium der Heiligen Schrift - dies so übereilt in Angriff nahm. Denen aber, die meiner Vorlesung beiwohnten, gefiel sie so gut, dass sie sie in höchsten Tönen lobten und drängten, meine Erklärung nach dieser meiner Methode fortzusetzen. Als dies bekannt wurde, beeilten sich auch die um die Wette, die bisher fern geblieben waren, in die zweite und dritte Vorlesung zu kommen, und waren eifrig darauf bedacht, von den Erläuterungen, die ich am ersten Tag begonnen hatte, sich noch zu ihrem Anfang eine Abschrift zu verschaffen. Die Folge davon war, dass der erwähnte alte Mann von heftiger Eifersucht befallen wurde, und da er schon vorher durch mancher Leute Einflüsterungen gegen mich aufgehetzt war, wie ich oben erwähnte, verfolgte er mich nun wegen meiner theologischen Vorlesungen geradeso, wie es einst Wilhelm wegen der philosophischen getan hatte...
Dekan Anselm verbot schließlich Abaelards Unterricht. Unterstützt wurde er von zwei besonders eifrigen Adepten, dem Reimser Alberich und dem Lombarden Lotulf. Beide wurden später Leiter der Domschule von Reims, ersterer sogar Erzbischof von Bourges. Schon in Laon entstand eine persönliche Animosität gegen Peter Abaelard, die sich später - nach Anselms Tod - noch sehr unangenehm für diesen auswirken sollte: Beim Konzil von Soissons 1121 traten beide erfolgreich als Ankläger gegen Abaelard auf.
Es waren damals in der Schule dieses alten Mannes zwei, die alle übrigen auszustechen schienen: Alberich von Reims und Lotulf aus der Lombardei; je mehr sie von sich selbst eingenommen waren, desto tiefer waren sie gegen mich erbittert. Von deren Verleumdung, wie man nachher feststellte, wurde jener alte Mann so sehr verwirrt, dass er mir auf unverschämte Art untersagte, das begonnene Unternehmen der Erläuterung am Ort seiner Lehrtätigkeit fortzusetzen... Als dies meinen Schülern zu Ohren kam, war ihre Entrüstung gewaltig über eine so offenkundige Intrige aus Brotneid, wie sie niemanden je schlimmer getroffen hatte. Je offenkundiger sie war, um so ehrenvoller war sie für mich, und durch die Verfolgung machte sie mich noch berühmter...
Nach dem Gehörten war es kein Wunder, wenn Anselm von Laon, dem die Hintergründe wohl kaum verborgen geblieben sein dürften, gegen Abaelard schäumte und seine Vorlesungen ex cathedra verbot. Doch Abaelard hatte wohl gar nicht vor, den Konflikt mit Anselm weiter zu tragen. Er wird unmittelbar nach der Konsekration des neuen Bischofs Hugo Laon wieder verlassen haben. Sein Auftrag scheint damit zu einem erfolgreichen Ende geführt worden zu sein; er konnte befriedigt - leider auch überheblich geworden - nach Paris zurückkehren und "seinen ihm reservierten Lehrstuhl" übernehmen. Was folgte, war die Affäre mit Heloïsa und der Beginn seiner persönlichen Katastrophen.

Kanzler Stephan wurde aber in der Tat Dekan von Orléans - im darauf folgenden Jahr 1114. Bischof Hugo war kein langes Episkopat in Laon mehr vergönnt - er verstarb bereits nach einigen Monaten Amtszeit. Zwei Jahre nach Abaelards Weggang - im Jahre 1115 - wurde Dekan Anselm dann doch noch befördert: Zwei weitere Jahre fungierte er als Archidiakon von Laon, ehe er am 15. Juli 1117 verstarb.

Exekution der Anhänger des Thomas de Marle, BNF, FR 2813, folio 200, Grandes Chroniques de France, Paris, 14. Jhd.Die Stadt selbst kam noch lange nicht zur Ruhe. Als Bartholomäus von Jur (1113-1151) ohne äußere Einmischung zum nächsten Bischof gewählt worden war, trat zwar eine gewisse Entspannung ein. Diese hielt jedoch nur kurz an. Die den Mördern des Bischofs Walderich nahe stehende Fraktion suchte in der Folge die Unterstützung des Feudalherrn und Königsgegners Thomas von Marle, der wegen seiner Grausamkeit verschrieen und seiner Räubereien gefürchtet war. Die Auseinandersetzungen und kleineren Aufstände zogen sich bis zum Jahr 1115 hin. Immer wieder kam es in der Stadt zu Schwerverbrechen, ja sogar zu kriegerischen Handlungen. Zwei Jahre nach dem Bischofsmord konnte endlich der Täter namens Teudegulf gefasst werden; er wurde unverzüglich gehängt. Thomas von Marle verlor im Weiteren seinen Ritterstatus, wurde auch mit dem Bann belegt und langjährig vom König verfolgt, ehe er endlich im Jahre 1130 an einer tödlichen Verwundung vor den Toren seines Schlosses von Coucy verstarb. Erst seit dieser Zeit fand Laon wieder zum inneren Frieden. Im Jahre 1128 hatte König Ludwig VI. eine Friedenscharta ausgestellt, die sogar die Kommune in Teilrechten wieder einsetzte. Die Exekutive ging nun mehr oder weniger auf das Domkapitel über, welches als das größte im Lande um 1270 immerhin dreiundachtzig Kanoniker zählte. Die Fürstbischöfe trugen später den Titel Pair de France, dann Duc de Laon. Es handelte sich um den einzigen kirchlichen Herzogsitz in Frankreich. Drei Päpste gingen insgesamt aus dem Domkapitel von Laon hervor. Im Spätmittelalter zählte die Stadt neben der Kathedrale vier Abteien, 45 Kirchen und 17 Kapellen.

Die weitere Geschichte von Laon, die zur Biographie Abaelards nichts beiträgt, sei in einigen kurzen Sätzen abgehandelt: Im Hoch- und Spätmittelalter wurde die Stadt von einem königlichen Vogt regiert. Im Jahre 1237 wurde Laon Sitz der Bailliage von Vermandois, im Jahre 1551 Präsidialstadt. Im Hundertjährigen Krieg widerstand die Stadt den Angriffen der Burgunder und Engländer. Während der Religionskriege stellte sich Laon auf die Seite der Calvinisten. Unter König Heinrich IV. - im Jahre 1594 - erlitt es eine dreimonatige Belagerung. Während der französischen Revolution verlor Laon seinen Bischofssitz, wurde aber Präfektur des Departement Aisne. Im 16. Jahrhundert überstand der inzwischen relativ stark befestigte Ort mehrere Schlachten und Belagerungen. Erst am Ende dieses Jahrhunderts verlor Laon seine Bedeutung zugunsten von Soissons. In den napoleonischen Kriegen hielten die Deutschen die Stellung: Im Jahre 1814 ergab sich Laon Bülow, 1815 hielt Blücher die Stadt, während Napoleon vergebens versuchte, sie zurückzuerobern. Als im Jahre 1870 die Stadt erneut an die Preußen fiel, explodierte ein Pulvermagazin: Mehr als 500 Tote waren zu beklagen. Im ersten Weltkrieg hielten erneut die Deutschen Laon - von September 1914 bis Oktober 1918. Die Situation wiederholte sich im zweiten Weltkrieg - bis zur Befreiung durch die Amerikaner, die in der Folge dort einen ganzen Stadtteil errichteten. Die Basis der Air Force bestand bis 1966. Folge der Weltkriege waren bedauerlicherweise große Zerstörungen an der historischen Substanz.

 

Laon heute

 

Blick von der Rue Pierre Abélard auf den Dom von LaonDennoch präsentiert sich heute Laon als eine Stadt, die wegen ihrer exponierten Lage und ihrem erhaltenen mittelalterlichen Stadtbild für den Abaelard-Freund einige Anreize bietet:

Die Kathedrale Notre-Dame stammt allerdings nicht aus der Zeit Abaelards, weist allerdings Bezüge zu einem der Zeitgenossen auf, die Peter Abaelard kritisierten. Walter von Mortagne, jener Meister aus Reims, der Abaelard einst einen unbequemen Fragenkatalog bezüglich seiner theologischen Lehren geschickt hatte, wurde später Leiter der Domschule von Laon und im Jahre 1155 sogar Bischof der Stadt. Es war es, der in seiner Amtszeit - bis 1174 - den Neubau der gotischen Kathedrale inaugurierte und organisierte.  Deshalb hat man ihm ein Gedenkschild am Domvorplatz gewidmet. Der Dom wurde um 1160 begonnen und dank reicher Spenden von Kapitel und den nachfolgenden Bischöfen sowie durch Sammelreisen mit Reliquien zügig erbaut: Die Westfassade wurde bereits 1190, die Querhausfassaden etwa 1235 vollendet. Wegen dieser geschlossenen Bauphase stellt die Kirche das stilreinste Hauptwerk der Frühgotik in Frankreich dar. Am Außenbau mit der Laterne des Vierungsturms zeigt sie noch den Einfluss der normannischen Romanik. Doch die bereits tief gegliederte Fassade mit ihrem Spiel von Licht und Schatten spricht die neue Formensprache der Gotik. Bereits im 13. Jahrhundert als die schönste Kirche des Abendlandes weithin anerkannt - wurde sie zum Vorbild für viele spätere Kathedralen, z.B. in Paris, Chartres und Reims. Besonders charakteristisch sind die vier 56 Meter hohen Türme der Fassade und des Querschiffs; ebenso gelungen ist die Anordnung des Mittelschiffs von 110 Metern Länge und 30 Metern Breite, mit den typischen Emporen und dem Triforium. Bedeutende Kirchenfenster finden sich am Chor und in der nördlichen Rose.

Für den Mediävisten vermittelt diese alte Kathedrale mitsamt ihrem wohl proportionierten Domvorplatz - dem Parvis Notre-Dame de Laon -und dem anschließenden Domviertel einen weitaus authentischeren mittelalterlichen Anblick als zum Beispiel die Innenstadt von Paris, die durch die sog. Haussmannisierung im 19. Jahrhundert so stark gelitten hat. Das zur Rechten des Domes stehende, heute zum Fremdenverkehrsbüro umfunktionierte Hôtel-Dieu dürfte bereits von Abaelard so gesehen worden sein: Es stammt aus dem 11. Jahrhundert. Jünger ist dagegen das Palais de Justice, der einstige Bischofspalast zur Linken des Chorhauptes, welcher mit seinen schönen Arkaden aus dem 13. Jahrhundert eine wunderbare Kulisse abgibt und trotz dieser späten Datierung die katastrophalen Ereignisse um die "Kommune von Laon" noch szenisch in Erinnerung ruft. Dasselbe gilt für eine Reihe von alten Stadthäusern und krummen, grob gepflasterten Gassen. Ein besonders malerischer Weg, der zum Domvorplatz führt und interessante Blicke auf den Dom freigibt, trägt den Namen des jungen Philosophen, der einst dem berühmten Theologen Anselm von Laon so sehr zusetzte: Rue Pierre Abélard.

Prieuré du Val des EcoliersAls Abaelard öffentlich in Laon dozierte, soll er jedoch nicht hier in der Nähe des Domes gelehrt haben. Eine örtliche Tradition will wissen, dass Abaelard seine Vorlesungen im Kreuzgang des Priorates von Val des Écoliers im Süden des Kanoniker-Viertels hielt. Inwieweit es sich bei dieser Information um historische Wahrheit handelt, bleibt dahingestellt. Zwar stellt das Priorat heute eines der ältesten frühmittelalterlichen Stadtanwesen von Laon dar und veranschaulicht insofern die einstige Situation der Lehre durchaus. Aber dieses Priorat wurde vermutlich erst einige Jahrzehnte nach den Ereignissen von 1113 als Dependance der Abtei Val des Écoliers bei Lüttich gegründet. Wahrscheinlich hatte der Begriff écoliers - d.h. Schulleute - zu falschen Assoziationen geführt.

Zu den sonstigen Sehenswürdigkeiten von Laon zählen die Prämonstratenser-Abtei Saint-Martin aus dem 13. Jahrhundert, eine Templerkapelle aus dem 12. Jahrhundert, die alten Wallanlagen, sowie einige Stadtanwesen -unter anderem auch das Refugium der Abtei Val-Saint-Pierre.

 

Plan von Laon


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