Anselm von Laon

An der Domschule von Laon bestand seit dem 11. Jahrhundert eine Theologen-Schule, die jedoch in ihrem Anfang nur lokale Bedeutung hatte. Später wurde sie geleitet von Anselm von Laon, um 1050 bis 1117, dem früheren Lehrer Wilhelms von Champeaux. Er wurde dabei von seinem Bruder Radulph von Laon, gestorben 1131 oder 1133, unterstützt. Kirchenrechtlich war Anselm Kanzler und Dekan des Domkapitels in Laon, Archidiakon und Leiter der Domschule. Er benützte diese Machtstellung für die kirchliche Reform. Arm geboren, starb er arm, nachdem er kurz zuvor das Bischofsamt für sich ausgeschlagen hatte. Er war einer der bedeutendsten Theologen seiner Zeit. Abaelard sagte von ihm, dass er damals - aufgrund seiner frühen Erfolge - als die höchste Autorität in der Theologie galt. Als Schüler des Anselm von Canterbury galt ihm die ratio als Argument neben der auctoritas der Kirchenväter, wobei diese der ratio jedoch nie untergeordnet wurde. Zwei Leistungen zeichneten seine Schule aus. Zum einen bezog Anselm die in den Sentenzen gesammelten Zitate der Kirchenväter auf die Heilige Schrift, die er in Vorlesungen Wort für Wort, Zeile für Zeile glossierte. Im Jahre 1103 verfasste er die Glossa ordinaria zum gesamten Bibeltext; es entstand in der Literaturgattung der glossa interlinearis eine enge Verbindung der Theologie der Kirchenväter mit der zeitgenössischen Schriftauslegung. Zum andern wurde in seiner Schule die Disputation in der Form der quaestio entwickelt, die die gesamte Methodik der entstehenden Scholastik bestimmte: Die voll entwickelte Methode wirft eine Frage - quaestio - auf, ein Problem, würden wir heute sagen, formuliert dann eine Ansicht und führt die Gründe für diese Ansicht auf. Anschließend wird die Gegenansicht formuliert, und es werden für diese die Gründe aufgeführt. Die determinatio entscheidet dann die Streitfrage und löst zuletzt die Schwierigkeiten auf, mit der die Lösung behaftet ist.

Der Fortgang Wilhelms von Champeaux hatte Abaelard seines Gegners beraubt. Ein junger Studierender kam um die Theologie gar nicht herum. So kehrte er aus der Bretagne nicht nach Paris zurück, sondern er ging nach Laon, diese Stadt nordöstlich von Paris, etwa 50 km von Reims entfernt. Anselm war etwas über 60 Jahre alt und Abaelard knapp 35, als er Ende des Jahres 1113 in Laon auftauchte. Abaelard hörte Anselm einige Male; dann war sein Urteil gefällt: ein alter Mann, der nur von seinen früheren Erfolgen lebte.

Wenn man versuchte, mit ihm allein zu diskutieren, bemerkte man seine Nichtigkeit; seine außergewöhnliche Beredsamkeit täuschte darüber hinweg, dass er im Grunde nichts zu sagen hatte. Er glich einem Feuer, das einen Raum nicht erleuchtet, sondern mit Rauch füllt, oder einem Baum, der von weitem durch üppiges Blattwerk majestätisch wirkt und Fruchtbarkeit verheißt, doch von nahem gesehen nicht eine einzige Frucht aufweist... Abaelard, Historia Calamitatum

Was Abaelard suchte und was er nicht fand, das war die Interpretation der Heiligen Schrift aus ihrem Wortsinn, die Interpretation durch Klärung der Wortbedeutungen des Textes. Dass er dies suchte und nicht fand, zeigt sein Urteil über Anselm:

Der Wortgebrauch - usus - war bewunderungswürdig, der Sinn - sensus - armselig, ihre Argumentationskraft - ratio - leer... Abaelard, Historia Calamitatum

Abaelard stellte den Besuch der Vorlesungen ein. Dies jedoch erzeugte Unwillen bei den Kommilitonen. Eines Tages übten die Studenten und Assistenten ohne Anleitung durch den Lehrer die Zusammenstellung von Argumentreihen für und gegen eine Lehrmeinung. Collatio sententiarum nannte man das damals. Einer der Kommilitonen stellte Abaelard eine Fangfrage: Was hältst Du vom Studium der Heiligen Schrift? Alle wussten, dass Abaelard bisher nur die Logik betrieben hatte und die Vorlesung über die Schriftauslegung nicht mehr besuchte. Man wählte eine dunkle Stelle des dunkelsten Propheten, Ezechiel. Abaelard konterte selbstbewusst, er werde die Auslegung ohne alle Hilfsmittel - nur in eigener geistiger Durchdringung - vornehmen. Dazu bedürfe er keiner längeren Vorbereitungen und akribischen Studien, sondern allein eines geistig wachsamen Abschreitens der Textstelle - Wort für Wort, in unablässigem Aufspüren von Sinn und Bedeutung der einzelnen Formulierungen. Vorrangig sei der Umgang mit dem Text selber, nicht dessen Überlagerung durch den Kommentar darüber, der - wie maßgeblich er auch immer sein mag, sich doch ausserhalb des Textablaufs bewege. Und so begann er seine Vorlesung mit einer neuen Methodik der Schriftauslegung. Nur einige Neugierige waren gekommen.

Aber diese erste Stunde fesselte alle Hörer; voller Begeisterung drangen sie darauf, ich möchte in der begonnenen Art die Auslegung fortsetzen. Das sprach sich herum, und wer die erste Vorlesung versäumt hatte, beeilte sich, zur zweiten und dritten zu kommen, und alle bemühten sich, die Nachschrift meiner Vorlesung zu erhalten... Abaelard, Historia Calamitatum

Abaelards Vorlesung war ein voller Erfolg, wurde von dem alten Lehrer jedoch übel vermerkt. Nun begannen zwei Anselm treu ergebene Schüler, Alberich von Reims und Lotulf der Lombarde, Abaelard "anmaßend und gehässig" zuzusetzen - und von da an verfolgten sie ihn zeitlebens mit ihren Anfeindungen. Es kam, wie es kommen musste. Der Kanzler des Kapitels und Leiter der Domschule, Anselm von Laon, verbot dem Studenten die Vorlesung in den Räumen der Domschule. Theologie war nicht Philosophie. Theologie wurde im Auftrag des Bischofs, der Kirche gelehrt, und der Magister hatte für den ordnungsgemäßen Verlauf des Lehrbetriebes zu sorgen. So nahmen Abaelards Theologievorlesungen in Laon rasch ein Ende. Noch im Jahre 1113 verließ Abaelard Laon.


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