Thierry von Chartres

Die Domschule von Chartres hatte zur Zeit Abaelards eine schon fast 100-jährige Tradition. Sie war bekannt durch die erstmalige Formulierung der christlichen Kosmologie auf mathematischer Grundlage. Es wirkte dort ein Brüderpaar namens Bernhard und Thierry. Nach Otto von Freising stammten sie gleich Abaelard aus der Bretagne:
Est enim predicta terra (scilicet Britannia) clericorum acuta ingenia et artibus applicata habentium, sed ad alia negotia pene stolidorum ferax, quales fuerunt duo fratres Bernhardus et Theodericus, viri doctissimi... Otto von Freising, Gesta Friderici.

Dieses Land (die Bretagne) bringt Kleriker hervor, die einen scharfen Verstand und Sinn für die Künste haben, aber ziemlich dumm in anderen Geschäften sind, wie zum Beispiel die zwei Brüder Bernhard und Thierry, hochgelehrte Männer... Otto von Freising, Gesta Friderici

Bernhard von Chartres, gestorben zwischen 1124 und 1130, wurde 1119 Kanzler, sein jüngerer Bruder Thierry, deutsch Theoderich von Chartres, war seit 1121 Magister der Domschule. Um 1140 soll er in Paris gelehrt haben, wo auch Johann von Salisbury sein Schüler wurde. Im Jahre 1141 wurde er Kanzler und somit Leiter der Schule von Chartres sowie Archidiakon von Dreux. Sein Kommentar zur Rhetorica ad Herennium und zum Hexaemeron, De sex dierum operibus, sein Lehrbuch der sieben freien Künste, Heptateuchon und sein Kommentar zu Boethius, De trinitate, sind nur bruchstückhaft erhalten geblieben. Thierry bemühte sich, den biblischen Schöpfungsbericht, den er naturphilosophisch deutete, und die platonische Ideenlehre zu verbinden. Auch aristotelisches Gedankengut beeinflusste ihn. Die göttlichen Personen benannte er der Reihe nach als Wirk- und Zweckursache gegenüber dem Stoff als Materialursache. Trotz mancher Wendungen - forma divina omnium rerum forma est - war er kein Pantheist. Sein Sterbedatum liegt nach 1149.

Thierry von Chartres war berühmt wegen seiner Bildung in den freien Künsten, vor allem in der Mathematik. Es darf darüber spekuliert werden, ob er Abaelard durch dessen Studium von Chartres her kannte. Eine einem Manuskript eines Werkes Abaelards angeheftete Anekdote deutet darauf hin. Allerdings haben wir keinen Hinweis darauf, dass Abaelard in der Mathematik besonders bewandert gewesen wäre. Trotzdem scheint Thierry von Chartres mit jenem Meister Thierry - Terricus - identisch zu sein, der beim Konzil von Soissons neben Gottfried von Lèves als einziger zur Verteidigung Abaelards das Wort erhob und den päpstlichen Legaten verspottete. Er muss somit als Verteidiger Abaelards verstanden werden:

Vocatus itaque statim ad concilium adfui, et sine ullo discussionis examine meipsum compulerunt propria manu librum memoratum meum in ignem proicere; et sic combustus est. Ut tamen non nichil dicere viderentur, quidam de adversariis meis id submurmuravit quod in libro scriptum deprenderat solum patrem Deum omnipotentem esse. Quod cum legatus subintellexisset, valde admirans ei respondit hoc nec de puerulo aliquo credi debere quod adeo erraret, cum communis, inquid, fides et teneat et profiteatur tres omnipotentes esse. Quo audito Terricus quidam, scolaris magister, irridendo subintulit illud Athanasii "Et tamen non tres omnipotentes, sed unus omnipotens". Quem cum episcopus suus increpare cepisset et reprimere quasi reum, qui in maiestatem loqueretur, audacter ille restitit, et quasi Danielis verba commemorans, ait: "Sic fatui, filii Israel non iudicantes, neque quod verum est cognoscentes, condempnastis filium Israel. Revertimini ad iudicium, et de ipso iudice iudicate, qui talem iudicem quasi ad instructionem fidei et correctionem erroris instituistis; qui cum iudicare deberet, ore se proprio condemnavit, divina hodie misericordia innocentem patenter, sicut olim Susannam a falsis accusatoribus, liberante"... Abaelard, Historia Calamitatum

Ich wurde vor das Konzil gerufen, und ohne Untersuchung, ohne Prüfung zwang man mich, mein erwähntes Buch mit eigener Hand ins Feuer zu werfen. Und so ward es verbrannt. Doch damit es nicht so aussah, als ob man nichts zu sagen habe, murmelte einer meiner Widersacher leise, er habe in dem Buch den Satz gefunden, Gott-Vater allein sei allmächtig. Als er das vernahm, antwortete der Legat sehr erstaunt: dass jemand sich so irre, dürfe man ja nicht einmal einem Kinde zutrauen, da doch der gemeinsame Glaube festhalte und bekenne, dass alle drei Personen der Gottheit allmächtig seien. Daraufhin zitierte ein gewisser Thierry, Vorsteher einer Schule, höhnisch den Satz des Athanasius: "Und dennoch nicht drei allmächtig, sondern einer allmächtig." Und als ihn sein Bischof zurechtweisen und wie einen Angeklagten zum Schweigen bringen wollte, als hätte er eine Majestätsbeleidigung ausgesprochen, hielt er tapfer stand und sprach wie ein zweiter Daniel, indem er seine Worte zitierte: "Seid ihr von Israel solche Narren, dass ihr einen Sohn Israels verdammt, ehe ihr die Sache erforschet und gewiss werdet? Kehret wieder um vors Gerichte (Sus. u. Dan. 13,48f) und richtet den Richter selbst. Denn der Richter, den ihr eingesetzt habt zur Unterweisung im Glauben und zur Beseitigung des Irrtums, der hat sich selbst gerichtet durch seinen eigenen Mund, da er andere richten sollte, während heute die göttliche Barmherzigkeit einen offenbar Unschuldigen - wie einst Susanna - von seinen falschen Anklägern befreit"... Abaelard, Historia Calamitatum


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